Aldo Natoli

Partisan, PCI-Politiker, Manifesto-Gründer und Gramsci-Herausgeber

Ein Häretiker des PCI, so überschrieb La Repubblica ihren Nachruf auf Aldo Natoli, der am 8. November 2010 im Alter von 97 Jahren starb. Die vielseitige und heroische Vita, die viele führende PCI-Politikerinnen und -Politiker seiner Generation aufweisen können, nimmt sich bei ihm besonders eindrucksvoll aus. Bereits in den 1930er Jahren organisierte der junge Medizinstudent eine illegale kommunistische Studentengruppe und trat 1938 offiziell in den PCI ein; zu seinen frühen politischen Genossen in Rom gehörten Giorgio Amendola, Pietro Ingrao, Mario Alicata und Lucio Lombardo Radice. Nach einem Studienaufenthalt in Paris, wo er enge Kontakte mit dem Exil-PCI hatte, wurde er 1939 verhaftet, verurteilt und verbrachte drei Jahre im Gefängnis. Nach seiner Freilassung gehörte er zur Redaktion der Untergrund-L’Unita und zum Widerstand gegen Faschisten und Nazis. Nach deren Niederlage nahm er führende Ämter in der kommunistischen Partei ein und wurde 1948 Mitglied des Zentralkomitees. Lange Jahre war er Parlamentarier des PCI und berühmt durch seine leidenschaftlichen und brillanten Reden; sein besonderes Gebiet war der unsoziale Wohnungsbau der Nachkriegszeit, der maßgeblich zur Verschandelung Roms und vieler anderer italienischer Städte beigetragen hat. Bald gehörte er zum linken Flügel des PCI, der die autoritären Strukturen der Warschauer-Pakt-Staaten und des Kommunismus sowjetischer Prägung kritisierte, wobei seine Weggenossen Ingrao, Rossana Rossanda, Bruno Trentin und Luciana Castellina waren. Nach zahllosen innerparteilichen Scharmützeln mit Palmiro Togliatti und Amendola eskalierte der Konflikt, als die ZK-Mitglieder Natoli, Rossanda und Castellina die sowjetische Niederschlagung des Prager Frühlings in scharfen Worten verurteilten und zusammen mit den PCI-Funktionären Lucio Magri und Luigi Pintor die berühmte Zeitschrift Il Manifesto gründeten, die eine Brücke zwischen PCI und der außerparlamentarischen 68er-Bewegung darstellen wollte und Kritik an der PCI-Politik nicht mehr nur hinter verschlossenen Türen äußerte.

Die Manifesto-Gruppe wurde 1969 aus dem PCI ausgeschlossen und wandte sich der neuen Linken zu, ohne die alten Überzeugungen aufzugeben. Denn, wie Natoli sagte, braucht man keinen Mitgliedsausweis, um Kommunist zu sein, und bezeichnete sich fortan als Kommunisten ohne Partei. Während Luciana Castellina und Rossana Rossanda der linken Politik und Il Manifesto in den Folgejahren treublieben, erfand sich Natoli während der 1970er Jahre neu. Er war immer auch ein Schöngeist, Gelehrter und Intellektueller gewesen, den es in die Politik verschlagen hatte. In seinem dritten Lebensabschnitt wandte er sich ganz der Gelehrsamkeit und dem Instituto Gramsci zu. Hier arbeitete er an Gramscis Briefwechsel aus dem Gefängnis und fand 1988 im Archiv weit über 600 bislang unentdeckte Briefe, die Antonio Gramsci und seine Schwägerin Tatjana Schucht und diese wiederum mit Piero Sraffa während Gramscis Gefängniszeit von 1926 bis 1934 gewechselt hatten. Zusammen mit Chiara Daniele edierte Natoli in den Folgejahren diesen Briefwechsel. Auf deutsch erscheint in den Verlagen Argument/Cooperative eine auf vier Bände geplante Ausgabe aller »Gefängnisbriefe«, deren erster Band (1995) Gramscis Korrespondenz mit seiner Frau Giulia und der zweite (2008) den Briefwechsel mit seiner Schwägerin Tanja umfasst.

In Gramscis Briefen an Schucht und Sraffa entdeckte Natoli auch Spuren der ziemlich konfliktbeladenen Beziehung Gramscis zur Komintern und zum illegalen PCI, die in Italien zu zahlreichen Konflikten um das hergebrachte Gramsci-Bild führten. Wie auch immer man diese beurteilt, offensichtlich ist, dass Gramsci der Moskauer Linie noch kritischer gegenüberstand als vordem angenommen, besonders was die Sozialfaschismusthese betrifft. Es ging Natoli aber auch darum, die Rolle Tatjana Schuchts für Gramscis Denken und Leben herauszuarbeiten, was er in Antigone e il prigioniero: Tania Schucht lotta per la vita di Gramsci (Rom 1990)1 tut. Auch in seinem Vorwort zur Brief­edition (1997, dt. 2008) betont er die intellektuelle Bedeutung von Tatjana Schucht und kritisiert, dass sie Jahrzehnte lang aus der Forschung herausgeschnitten wurde, um Gramsci zum olympischen Helden und seine Gefängnishefte zum einsam genialen Monolog zu stilisieren, statt sie dem Dialog mit Tatjana Schucht bzw. dem Dreieck Gramsci-Schucht-Sraffa zuzuordnen, womit Natoli die Gramsci-Forschung wesentlich bereichert hat.

Neben seiner politischen Intelligenz und Intellektualität würdigen viele Nachrufe aber auch Natolis Esprit, seinen Stil, seine Höflichkeit und seine Eleganz – kurz, er repräsentierte eine Spezies von Linksintellektuellem, die heute in Italien am Verschwinden und im restlichen Europa schon lange verschwunden ist.

Der folgende Nachruf von Luciana Castellina bringt diese Züge Natolis besonders gut zum Vorschein, würdigt aber auch dessen politische Bedeutung und gedenkt des Mentors und Weggefährten auf ganz persönliche Art.

 

1 In der deutschen Übersetzung von Natolis Buch »Tanja Schucht und Antonio Gramsci. Eine moderne Antigone« (Frankfurt/Main 1993) wurden auch Auszüge aus den »Gefängnisbriefen« für die Gramsci-Rezeption hierzulande erstmalig zugänglich gemacht.

 

Christina Ujma, Berlin

 

14. Juli 1948, das Attentat auf Togliatti

Togliatti bezeichnete die Kommunistische Partei Italiens gern als »Giraffe«. Damit wollte er sagen, sie sei wie dieses ungewöhnliche Tier ganz anders als die anderen kommunistischen Parteien. Um in diesem Bild zu bleiben, war Aldo Natoli von Anfang an eine Giraffe in der Giraffe, und das verblüffte mich, als ich ihn zum ersten Mal traf, am meisten. Es war der 18. November 1947 bei den Kommunalwahlen in Rom: Die Kommunistische und Sozialistische Partei waren in der Volksfront vereint, ihr Emblem ein Portrait Garibaldis. Am Vorabend der Wahlen war bei einem Zusammenstoß zwischen jugendlichen Plakatklebern auf der Piazza Vittorio ein junger Christdemokrat namens Gervasio Federici getötet worden. Als Täter wurde viele Stunden später eine Gruppe von jungen Kommunisten in ihren Wohnungen verhaftet. In diesen harten Jahren kam es fast täglich zu Auseinandersetzungen, und Provokationen waren an der Tagesordnung. Der Tod von Gervasio Federici sollte die Wahlentscheidung beeinflussen, indem er die Angst vor den »Roten« schürte. Ich erinnere mich gut an diesen Tag, denn damals überwand ich alle noch vorhandenen Zweifel und betrat, um die Mitgliedschaft zu beantragen, zum ersten Mal das römische Büro der KPI. Dort lernte ich Aldo Natoli kennen, der kurz darauf zum Ortsvereinsvorsitzenden gewählt wurde. Ich wusste zwar, dass die Kommunisten keine kleinen Kinder fressen, aber für eine junge Frau, wie ich sie damals war, bedeutete es 1947, als der Kalte Krieg gerade ausgebrochen und ein kruder Antikommunismus weit verbreitet war, eine echte Entdeckung, dass ein führender Vertreter der »Roten« in der Hauptstadt ein hochgebildeter Intellektueller war, der immer ein paar literarische Werke unter dem Arm trug oder eine Platte mit Musik aus dem 18. Jahrhundert. (»Danach ist nie mehr so gute Musik geschrieben worden«, sagte er mir später, und sein Urteil hat meinen Musikgeschmack seitdem geprägt.)

In den folgenden Jahren, in den unzähligen Versammlungen im Saal an der Piazza S. Andrea della Valle oder im Parteibüro von Ponte Regola in der Via Banchi di S. Spirito bei den allwöchentlichen Versammlungen am Dienstag habe ich feststellen können, wie sehr dieser himmelweit vom Klischee des roten Parteiführers entfernte Intellektuelle bei den Mitgliedern in Rom anerkannt und beliebt war. Sie schätzten nicht nur seine brillanten Analysen. (Ich erinnere mich an seinen Bericht über den Wohnungsbau in Rom auf dem dritten Parteitag des Ortsvereins im Dezember 1947 – wenige Monate nach einem erfolglosen Generalstreik für sozialen Wohnungsbau und die Sanierung der Vorstädte. Natoli bezeichnete als wahres Übel den Grundbesitz der faschistischen Aristokratie und die aufblühenden Geschäfte der Banken im Immobiliensektor, durch die jede Form von sozialer Wohnungsbaupolitik verhindert werde.) Die Parteimitglieder vertrauten Natoli aber auch in schwierigen Situationen und in harten Auseinandersetzungen. Ich habe sein Bild noch vor mir, wie er am 14. Juli 1948 nach dem Attentat auf Togliatti, ich glaube zusammen mit Sandro Pertini, in der von einem spontanen Generalstreik gelähmten Innenstadt Roms auf der Piazza Colonna die wütende Menge, die aus den Vorstädten ins Zentrum drängte, zu beruhigen und die explosive Situation zu entschärfen suchte.

Nur dank seiner unangefochtenen Autorität konnte ihm dies gelingen. Er hatte am Widerstand teilgenommen und war dafür im Gefängnis gesessen. Außerdem aber genoss er die volle Unterstützung von Edoardo D’Onofrio, der unterschiedlicher als Natoli nicht hätte sein können, aber doch so weitblickend war, dass er ihn an seine Seite holte. D’Onofrio hatte uns alle in der KPI, die noch ganz Klassenpartei war, gelehrt, uns mit dem Subproletariat der »roten Vorstädte« zu befassen, ohne Diebe und Dirnen zu verachten. Vielmehr ging es ihm darum, statt billigen Populismus Kultur und Klassenbewusstsein nach Primavalle oder Tufello zu bringen. Und »Nationalbewusstsein«, wie man damals sagte. (Als 1960 in der Partei über Pasolini diskutiert wurde, stellten sich diese Parteiführer nicht umsonst auf die Seite des Autors von »Vita violenta«.) So entstand die »neue Partei« und war anomal wie ein Giraffe. Danach ist viel passiert, und 1969 gehörte auch Aldo zur Gruppe von »Il Manifesto«. Ich wollte in dieser traurigen Stunde jedoch an die Anfänge seiner Arbeit in der Kommunistischen Partei erinnern, an die Zeit, als das etwas heruntergekommene Gebäude zwischen Corso Rinascimento und Corso Vittorio unser aller Lebensmittelpunkt war, wo unsere Büros lagen und wir Tag für Tag in der Mensa zusammen gegessen haben, und wo viele von uns Jüngeren so gut wie alles gelernt haben.

Luciana Castellina, Rom

 

Luciana Castellina ist Redakteurin der italienischen Tageszeitung »Il Manifesto« und ehemalige Europaparlamentsabgeordnete. Der Nachrufr erschien in Il Manifesto vom 10.11.2010. Aus dem Italie­nischen von Friederike Hausmann, München