Miss Marple ist schon lange tot

Ausstieg aus den Frauenformen. In: Das Argument 287, »Stärken von Frauen« (3/2010)

Schon Ende des 19. Jahrhunderts dürften sich hinter männlichen Pseudonymen etliche Krimiautorinnen getummelt haben. Stilbildend waren Doyle, Hammett, Chandler, aber eben auch Agatha Christie, Dorothy L. Sayers oder Patricia Highsmith. Dennoch erscheint das Genre heute männlich dominiert. Dieter Paul Rudolph muss in seinem Artikel »Frauen und Krimis – eine überflüssige Kolumne« (Krimicouch. de) die Männer extra beiseite schaufeln, um zu erkennen: »Machen wir uns den kleinen Spaß und stellen uns vor, wie sich zum Beispiel die deutsche Kriminalliteratur etwa ab den 1970er Jahren entwickelt hätte, wären ausschließlich Frauen an ihr beteiligt gewesen. Dann hätte die heute kaum noch bekannte Helga Riedel den Hype des Soziokrimis ausgelöst – und das interessierte Publikum wäre besser dabei gefahren als mit den tatsächlichen und männlichen Langweilern. Pieke Biermann hätte in den Achtzigern und Neunzigern den deutschsprachigen Kriminalroman auf Zeithöhe gebracht und sprachlich rigoros entrümpelt, Astrid Parotta das Gedankenlabyrinth lakonisch genau durchmessen. Um nur mal die Eckpunkte zu definieren. Auf dieser Fläche nun könnte sich tummeln, was mit gekonnter Arbeit alle Geschlechter gut bedient hat und weiter bedient, von Monika Geier [Ariadne ...] bis Christine Lehmann [Ariadne ...]« – Dennoch: Im Syndikat (Verein deutschsprachiger Krimiautoren) sind schätzungsweise ebenso viele Frauen wie Männer organisiert, aber in all den Jahren seit 1987 haben nur sieben Frauen den Glauser bekommen (Edith Kneifl, Ingrid Noll, Uta-Maria Heim, Gabriele Wolf, Astrid Paprotta, Lilian Faschinger, Gisa Klönne). Beim Deutschen Krimipreis (ab 1985) sieht es ähnlich aus. Der erste Preis für Frauen ist dort noch seltener vergeben worden.

Marple und Maigret

Agatha Christie (1890-1976) hat 1930 die erste prominente Ermittlerin geschaffen. Miss Marple ist von den Verfilmungen allerdings verwischt worden. Dort tritt sie als Haudegen auf. Ursprünglich ist sie eine feinsinnige neugierige alte Dame, die beim Stricken die Ohren spitzt und aus Klatsch und Tratsch die Lösung des Verbrechens filtert (Mord im Pfarrhaus, 1930). Sie ermittelt unter einer Tarnkappe: Man unterschätzt sie, weil sie eine alte Frau ist. Beim Kaffeekränzchen, in weiblicher Alltagswelt, erfährt sie, was ein Mann nie erfährt. Miss Marple fällt der Presse immer ein, wenn sie über Krimis berichtet, in denen Frauen ermitteln. Allerdings ist die alte Frau als Ermittlerin heute eher ein Typ des Fernsehens denn der Bücher. Dagegen dürften Kommissar Maigret (1931-1972, von George Simenon 1903-1998) und Privatdetektiv Philip Marlowe (1939-1958, von Raymond Chandler 1888-1959) zu den meist Kopierten gehören. Sie stellen zwei Grundtypen dar: Maigret den schwermütigen Individualisten im Polizeiapparat, Marlowe den zynischen einsamen Kämpfer gegen das organisierte Verbrechen. Ihre melancholische Skepsis der dargestellten Gesellschaft gegenüber ist ein weiterer vielbenutzter Topos im Krimi. Maigret wird von männlichen Autoren geliebt (z.B. Ulrich Ritzel), ist aber nur sehr selten ins Weibliche übersetzt worden. Am nächsten kommt ihm da wohl Katherine V. Forrest (*1939) mit der Gestalt der lesbischen Polizistin Kate Delafield (Ariadne). Marlowe hingegen wird gern genommen, oft persifliert und taugt als Muster auch für Underdog-Detektivinnen.

Die Sehnsucht des Intellektuellen nach Einsamkeit

Krimi-Ermittler und -Ermittlerinnen leben heute, anders als noch Maigret, meist ein nicht-bürgerliches Leben. Ein Zeichen, dass die Themen, die behandelt werden, außerhalb unserer bürgerlichen Erlebniswelt liegen. Wobei sich fiktive Ermittler durchaus nach Spießertum sehnen (Frau, Haus, Garage), Krimi-Kommissarinnen und -detektivinnen aber eher nicht. Offenbar bietet das Spießerleben für eine Frau weniger Vorteile.

Ermittlerinnen und Ermittler leben im Krimi zwar in einem sozialen Netzwerk, aber nicht in beständigen intimen Beziehungen. Aus dramaturgischer Sicht ein Vorteil: Unverheiratete sind offen für gefährliche Liebschaften. Das versorgt den Krimi mit Erotik. Und noch wichtiger: Ungebundene sind niemandem Rechenschaft schuldig. Sie können in den Kampf ziehen, ohne Ehefrau oder Ehemann sagen zu müssen, wann sie heimkommen. Sie müssen auch niemandem erklären, warum sie dabei ihr Leben riskieren wollen. Folglich muss es auch der Autor, die Autorin nicht tun! Ein Problem, das der reale Kriminalbeamte übrigens nicht hat. Er kann verheiratet sein, denn er riskiert sein Leben nicht. Für Zugriffe, bei denen eine Schießerei erwartet wird, ist das SEK zuständig. Es ist nicht üblich, dass Kriminalkommissare mit gezogenen Waffen eine Wohnung stürmen. Aber Krimis spielen eben in einer fiktiven Welt, die aus Topoi besteht, die aus der Realität hinaus führen, statt in sie hinein. Krimis dienen der Flucht aus der Wirklichkeit.

Ermittlerinnen haben, um Familie als Behinderung ins Spiel zu bringen, nicht selten eine schwierige Beziehung zur Mutter oder einem Ex-Partner. Neuerdings kommen außerdem immer öfter Kinder ins Spiel. Sie werden eingebaut, um zu zeigen, dass Familie schwächt, denn Kinder geraten entweder in Gefahr oder werden, wenn die Handlung auf den Höhepunkt zusteuert, bei Nachbarin oder Oma abgegeben (z.B. Monika Geier *1970). Meist leiden Ermittlerinnen an Widrigkeiten des Alltags, was auch oft daran liegt, dass sie ein schrottreifes Auto fahren. Alltag erscheint als verhasste Lähmung, aber auch als Chance zur komödiantischen Erholung und als Kontrapunkt des Banalen zur exzeptionellen Grausamkeit des Verbrechens, von dem der Krimi handelt.

Gern haben Privatdetektive beiderlei Geschlechts Geldsorgen und befinden sich kurz vor dem persönlichen Untergang. Sie trinken und/oder rauchen zu viel oder haben sich beides gerade abgewöhnt, was sie deprimiert. Sie ziehen sich dann gern in Musik oder Lyrik zurück. Das Leiden am bürgerlichen Leben und seinen Anforderungen (Treue, Liebe, Rücksicht), dem der Protagonist entrinnen will, wird parallel gestellt mit dem Entsetzen über die Perversität des Verbrechens, das den Ermittler aus der Bahn wirft. Beides sind Manöver, die der Autor, die Autorin unternehmen, um selbst aus den quälenden emotionalen Kompliziertheiten des Alltags (Beruf, Familie, Kampf und Anerkennung) in eine Welt zu fliehen, die auf die Grundkon- flikte reduziert ist: Liebe (Paarung), Verrat und Tod (Rache). Schreibende sind meist Intellektuelle, die sich mit der Geste des Literaten der bürgerlichen Gesellschaft gegenüberstellen, indem sie Bücher veröffentlichen und nach Ruhm streben. Die Lesenden sind es übrigens nicht. Aber sie folgen ihnen gern in die Melancholie des Leidens an der Komplexität des Zusammenlebens mit seinen Ungeklärtheiten, dem der Krimi mit Aktion begegnet. Er erfüllt einen Traum: Angstfrei handeln können und Gerechtigkeit schaffen. Denn fiktive Ermittler haben, was wir echten Menschen nicht haben: Sie sind cool, also emotional unterkühlt, sie halten mehr Schmerzen aus, sie gehen existenzbedrohenden Situationen nicht aus dem Weg, sie haben mehr Kraft, scheuen keine und gewinnen die entscheidende körperliche Auseinandersetzung. Und egal, wie sie aussehen, sie haben meist Erfolg beim anderen Geschlecht.

In Kriminalromanen der letzten vier Jahrzehnte sind weibliche Ermittlerinnen oft rothaarig, alleinstehend, durchschnittlich attraktiv, locker liiert oder von Fall zu Fall verliebt und leben mit einer Katze zusammen. Rote Haare sind in Realität selten und in der Fiktion Signal für eine weibliche Ausnahmeerscheinung mit magischem Touch. Die Katze, das gezähmte Raubtier, symbolisiert die Unabhängigkeit der Protagonistin. Andererseits bescheren gerade Katzen ihren Besitzerinnen Schmuseeinheiten und Schnurrorgien in Kategorien, die an sexuelle Sublimation denken lassen. Und auch rothaarige Ermittlerinnen wollen zuweilen kuscheln.

Daneben gibt es in der Krimiliteratur gesichtslose Ermittlerinnen. Sie sehen sich selbst nicht (schauen nicht in den Spiegel) und suchen nicht unsere Sympathie. Sie leiten uns mit ihrem Blick durch den erzählten Kosmos und erzeugen Eindrücke und Stimmungen. Sie lassen sich nur selten zu einer Stellungnahme provozieren, sie beobachten, durchs Milieu vagabundierend, vögeln sich beispielsweise unverletzlich durch die Lesbenszene (meisterhaft in Katrin Kremmlers: Blaubarts Handy). Und niemand ist so abgebrüht wie sie, sie bleiben unberührt von großen Gefühlen wie Liebe, Eifersucht oder Verlassenheitsängsten, auch wenn sie zuweilen Todesangst haben. Sie sind wie Lupen, die über ein Bild streichen und Einzelheiten vergrößern. Als Ermittlerin ordnen sie schließlich die Phänomene zu einem kriminalistischen Plot.

Hardboiled detectives sind wiederum weit verbreitet. Dabei gibt es gerade in Deutschland eine heftige Kollision mit der Realität. In den USA ermittelt die Anklage immer nur gegen den Verdächtigen, dessen Anwälte wiederum eine Detektei beauftragen müssen, wenn sie entlastendes Beweismaterial beibringen wollen. In Deutschland aber muss der Staatsanwalt auch zugunsten des Verdächtigen ermitteln und benutzt den Polizeiapparat dazu. Privatdetektive haben hier weder die Lizenz, bei Kapitalverbrechen zu ermitteln, noch dürfen sie überhaupt eine Waffe führen.

Der Typ des frauenlosen, einsamen und gewaltbereiten Mannes, der nur sich selbst und seiner Moral verpflichtet ist, wird in den achtziger Jahren in den USA von Sara Paretzky ins Weibliche übersetzt. Dazu ihre Homepage: »Ich habe Detektivgeschichten geliebt, aber es gefiel mir nicht, wie Frauen in diesem Genre traditionellerweise dargestellt wurden. Sie schienen immer entweder böse oder ohnmächtig zu sein. Ich dachte, die Zeit sei reif für eine toughe, schlaue und liebenswerte Privatdetektivin, und so wurde V.I. geboren.« (www.saraparetsky.com) Seit 1982 (Indemnity Only, dt. Schadenersatz) ermittelt die harte, aber attraktive Privatdetektivin V.I. Warshawski in Chicago. Dass sie ihren weiblichen Vornamen verbirgt, um nicht unterschätzt zu werden, haben die meisten Nachfolgerinnen kopiert. Warshawski lebt allein, hat aber feste Beziehungen, unter anderem zu einem Mann. Und sie hat keine Katze, sondern Hunde. Sie ermittelt mit Körpereinsatz, kann souverän mit Schusswaffen umgehen, beherrscht perfekt Karate, wird aber auch ständig k.o. geschlagen.

Die schlagkräftige Privatdetektivin kurz vor dem Untergang im Chaos ist sehr beliebt, vor allem in der breiten Basis der Krimiwelt. Typisches Beiwerk: Die Auftragslage ist immer schlecht, die Detektei heruntergekommen, die Detektivin muss sich mit Jobs über Wasser halten (Barfrau, Putzfrau, Ehebruchsrecherche), stolpert dann aber glücklicherweise über ein oder zwei Leichen. Aus Gründen übergroßen Alkoholkonsums oder eines Schlags auf den Kopf hat sie dann des Öfteren ein Blackout.

Generell wird die Figur des Privatdetektivs oder der Privatdetektivin benutzt, wenn ein Krimi in einem Land spielen soll, das den Schreibenden fremd ist und in dessen Polizeistrukturen sie sich nicht auskennen.

Der Frauenkrimi ist tot

Obgleich Frauen schon lange eifrige Krimischreiberinnen sind, wundert sich die Presse regelmäßig mit anachronistischem Timbre über die Tatsache, dass Frauen übers Töten nachdenken. Daraus spricht, dass man Frauen in der Welt des Verbrechens nicht als Aktiva haben will. Sondern als Opfer. Aber: Niemand wartet heute mehr auf Krimis von Frauen. Sie haben im Genre alles erobert ... fast alles. Doch schon sind uns Frauen die Männer wieder um eine Nasenlänge voraus. Neuerdings haben Krimis mit pensionierten Polizisten Erfolg. Er ist so frappierend, dass der Knaur-Verlag bei Tatjana Kruse (*1960, Die Wuchtbrumme, 2000) einen Krimi in Auftrag gibt, der folgende Kriterien erfüllen soll: Der Ermittler muss ein Mann sein, er soll pensionierter Kriminalbeamter sein, er muss ein abartiges Hobby haben. Tatjana Kruse hat das Soll auf ihre subversive Weise erfüllt: Ex-Kommissar Seifferheld bestickt Zierkissen (Kreuzstich, Bienenstich, Herzstich, 2010). Er lebt mit drei mit ihm verwandten Weibern zusammen, die jeden Morgen um die Hoheit über sein Frühstück zanken (Tee, Kaffee oder Saft). Das Gelächter darüber verdeckt die eigentliche Stoßrichtung dieses Krimityps: Er führt Klage über die Dominanz von Frauen im Alltag. Der Protagonist ist bestrebt, sich den Regeln, die Frauen aufstellen, zu entziehen. Er tut es gequält und geringschätzig, sich zuweilen abarbeitend am Fluch des Testosterons, das ihn immer wieder von einer Frau abhängig macht, die ihn letztlich verrät. Kruse ironisiert das frauenfeindliche Muster, beispielsweise indem sie bei Lesungen erzählt, welchen strategischen Überlegungen diese Krimi- figur ihre Existenz verdankt.

Das Vorbild, das dem Lektorat des Verlags vorgeschwebt haben muss, ist Linus Reichlins (*1957) Krimi Die Sehnsucht der Atome (2008), für den er 2009 den Deutschen Krimipreis bekam. Der Roman ist gemeint als Abgrenzung vom Weiblichen und Definition des Männlichen in einer – so Reichlins These – weiblich dominierten Welt. Rock n’ Roll gegen Beatles, männliche Opferbereitschaft gegen weibliche Launen, einsamer Cowboy gegen blinden weiblichen Aktionismus. Ein belgischer Kommissar geht in Pension, um bei sich daheim im Keller das Doppelspaltexperiment durchzuführen, reist dann aber mit einer blinden Frau nach Mexiko, die dort Rache üben möchte, aber von einer Schlange gebissen wird und nur mit Hilfe des Protagonisten gerettet werden kann, der dafür seine Barschaft opfert und damit auch das Doppelspaltexperiment.

Zunächst ist es nur ein Gemeinplatz der Literatur: Der Protagonist, getrieben von misogyner Faszination, beschützt die Frau, die ihn zurückweist. Wehleidig und räsonierend beobachtet er ihre Gewohnheiten. Das Weibliche beeinträchtigt hier Selbstbestimmung und Behaglichkeit des Mannes. Zusätzlich beklagt Reichlin unterschwellig die von ihm empfundene Dominanz von Frauen über das Leben der Männer, die in vaterlosen Familien, Kindergärten und Grundschulen mehrheitlich von Frauen erzogen werden (Äußerung 2009 bei der Criminale in Singen). Wie sehr die angebliche Regentschaft der Frauen im privaten Umfeld als machtvoll, bedrohlich oder störend empfunden wird, zeigen Behauptungen, wie »Hinter jedem mächtigen Mann steckt eine (starke) Frau (die eigentlich regiert)«, der viele Frauen eifrig nickend zustimmen würden und die so sehr für wahr gehalten wird, dass sich Deutschland beim Europäischen Liedwettbewerb 2007 in Helsinki widerstandslos von Roger Cicero, »Frau’n regier‘n die Welt«, vertreten lässt oder der SWR den misogynen Song ausdrücklich zum Frauentag spielt (8.3.2010).

Die Bastion der alten Männer

Offenbar mag ein mit seinen Autoren gealtertes Publikum (Nachwuchs scheint nicht in Sicht) den misanthropischen Blick des Mannes auf die Welt, die verwirrend und unbeeinflussbar, grundsätzlich verschwörerisch und böse erscheint: männlich böse, wo es um Geld und Macht geht, und weiblich böse im Privaten. Perfekt ist hier der Plot, wenn es dem Autor gelingt, eine Frau als Mörderin aus Liebeshass durch die Politverschwörung der Männer geistern zu lassen. Der pensionierte Kommissar schafft es noch einmal, stellvertretend für uns, die Abgefeimtheit der Frauen zu entlarven und zugleich wenigstens eine Weltverschwörung aufzudecken. Typisches Beispiel: Ulrich Ritzels (*1940) Beifang (2009), für den er 2010 den Deutschen Krimipreis und den Stuttgarter Krimipreis für den besten Wirtschaftskrimi bekam. Mit der Sprache und enormen Recherchekraft des Journalisten geschrieben, führt er in die 1940er Jahre zurück. Die Kulturnews.de befinden: »Nazis gehen immer. Sex auch. Dann hat man eine Altherrenfantasie, also Vorsicht. Zur Handlung: Der pensionierte Kommissar Berndorf kehrt als Privatdetektiv in seine Heimatstadt Ulm zurück und ermittelt im Mordfall einer Kunsthistorikerin und Teilzeithure. Nebenbei vögelt er die zuständige Anwältin und deckt ein unter den Teppich gekehrtes Geheimnis aus dem Dritten Reich auf. Ganz gutes Buch, das. (fis)«

Umgekehrt funktioniert es nicht: »Ex-Kommissarin deckt Naziverschwörung auf, hat eine Altfrauenfantasie und vögelt Kunsthistoriker und Teilzeitcallboy.« Das würde niemand glauben. So ist es unseren alternden deutschen Autoren gelungen, sich aus der Konkurrenz weiblicher Ermittlerinnen zu befreien und ein neues Subgenre zu schaffen, in das Frauen nicht so leicht nachrücken können. Im Alter ist der Mann immer noch attraktiver als die Frau. Mir ist jedenfalls bisher die pensionierte Kommissarin in desolatem sozialen Zustand, die depressive Alkoholikerin mit verkrachter Ehe (z.B. Wallender von Henning Mankell) und die skurrile dumpf intuitive Detektivin (z.B. Brenner von Wolfgang Haas) nicht untergekommen.

Die einzige prominente Gestalt, die diesem Typ nahe kommt, ist Bella Block. Sie gibt es in zwei Ausführungen. So wie sie 1988 von Doris Gercke (*1937) vorgestellt und in über 14 Krimis bis 2007 entwickelt wurde: eine Ex-Polizistin, die es im Kader der frauenverachtenden Polizei nicht ausgehalten hat, als Privatermittlerin agiert und Sex von Liebe abgekoppelt hat, eine Feministin, die auf der Seite von Opfern steht, denen sie aber kaum helfen kann, die immer öfter scheitert und immer mehr trinkt. Und so, wie sie in den ZDF-Filmen (seit 1994 in 28 Folgen) von Hannelore Hoger gespielt wird: rothaarig, verbal schlagfertig, körperlich wuchtig und präsent, ruppig herzlich, trinkfest, aber immer auch attraktiv und trotz Ermüdungserscheinungen grundoptimistisch, zudem in einem dauerhaften Liebesverhältnis zu einem kultivierten Mann lebend.

Während Bella Block uns in der soft-feministischen Variante der TV-Krimis stark vorkommt, zwingt uns Gercke, mit der hardcore-Feministin Bella Block die Ohnmacht den Verhältnissen gegenüber zu erleben, in denen Frauen nicht nur Opfer werden, ohne dass Block es verhindern kann, sondern auch an ihrer Opferrolle festhalten, ohne Hilfe zu wollen. Soll ich nun die Bella Block aus dem Fernsehen als »starke Frau« bezeichnen? Im Grunde bedient sie in der verwässerten, aber attraktiven Form der Rothaarigen ein gesellschaftlich akzeptiertes Klischee weiblicher Stärke: Scheinbare Gleichgültigkeit gegenüber körperlichen Mängeln des Alters, Aktivität und Optimismus, Mut zum Handeln, Mitgefühl für Schwächere, sympathische Unkonventionalität, raue Schale, weicher Kern. Ohne dabei jedoch gegen die Konzepte zu Felde zu ziehen, die Männer stark und Frauen schwach machen. Das kann zwar Bella Block aus den Büchern, aber sie zerbricht daran. Also starke Bücher mit schwacher Heldin? Sie kann nicht kaputt machen, was sie kaputt macht.

Frauen immer in Angst

Krimi-Ermittlerinnen haben in unserer Gesellschaft eine entscheidende Schwäche: Sie sind Frauen. Sie sind den Männern an Körperkraft unterlegen und müssen Angst haben. Wozu auch sonst bräuchte man eine Frau als Ermittlerin? Nur sie kann einfach und schnell Opfer werden. Auch der männliche Ermittler gerät zwar zuweilen ins Visier eines Verbrechers, der sich rächen will oder den Zweikampf sucht (kommt in Wirklichkeit so gut wie nie vor), aber wir sehen ihn nie mit angstgeweiteten Augen, und nie schnippelt ein Sexualserientäter zur Einstimmung schon mal an ihm herum. Bedroht sind beim Ermittler aber sehr wohl dessen Frau und Kind (kommt in Wirklichkeit auch nicht vor). Dass er sie verliert, weil ein durchgeknallter Verbrecher sie tötet, ist ein beliebtes Motiv im Krimi. Es zeigt auch, dass in unserer Gesellschaft die Opferrolle den Frauen und Kindern zugedacht ist.

So gut wie immer, wenn Frauen in der Fiktion ermitteln, werden Täter ihnen irgendwann gefährlich. Nicht nur, dass ihre Kinder bedroht sind, sie selbst werden Ziel eines Stalkers, Vergewaltigers oder Serienkillers. Dann sieht man sie in der vertrauten Rolle: angsterfüllt und ohnmächtig dem körperlich stärkeren Mann (manchmal auch einer bewaffneten Frau) ausgeliefert. Eine Grundangst im Frauenleben, mit dessen Gruselfaktor Krimis mit Ermittlerinnen sogar für sich werben. »Und während Manni Judith immer weniger versteht, wittert ein anderer ihre Schwäche: Jemand, der Frauen verachtet und auch vor Mord nicht zurückschreckt. Jemand, der Judith sehr gefährlich wird«, schreibt Gisa Klönne (*1964) auf ihrer Homepage zu Nacht ohne Schatten (2008, Glauser 2009, www.gisa-kloenne.de). Frauen, die sich in Männerdomänen bewegen wie Männer – so die implizite Aussage –, sind stets in Gefahr dafür bestraft zu werden, dass sie sich so weit vorgewagt haben.

Zusätzlich geschwächt werden Ermittlerinnen durch Erinnerungen an Opfererlebnisse, alte Ängste und Verluste. Wieder Klönne: »Als Judith [...] die Ermittlungen aufnimmt, steigt Unbewältigtes wieder an die Oberfläche: Ihre Vergangenheit im Frauenhaus, wo sie während des Studiums als Nachtwächterin jobbte.« Betroffenheit und Opfererfahrungen aus der Vergangenheit sind praktisch unverzichtbares Beiwerk im Krimi mit Protagonistinnen. Sie machen die Ermittlerin schwach ihrer eigentlichen Aufgabe gegenüber und schmälern ihre Professionalität. Krimis führen uns bis heute vor, dass der fiktive Krieg, den ein einsamer Ermittler gegen das Verbrechen, gegen Mafia und Weltverschwörer aufnimmt, eigentlich kein Feld für Frauen ist.

Die Rächerin

Auch der männliche Autor kann die gesellschaftliche Benachteiligung von Frauen wahrnehmen, Misshandlungen und Gewalt gegen Frauen darstellen und sie eindeutig verurteilen. Indem er das tut, lässt er aber keinen Zweifel daran, dass er es ist, der den Missstand repariert und das Fehlverhalten einzelner bestraft. Er gibt die Handlungsmacht (und kritische Ohnmacht) nicht aus der Hand. Er geht nicht so weit, die grundsätzliche Schieflage der Macht anzuprangern: das Patriarchat mit seiner ökonomischen Gewalt. Der männliche Autor möchte die Männerherrschaft ja nicht abschaffen. Es gefällt ihm aber herbeizueilen, wenn eine Frau in Angst schreit, um sie zu retten und den Täter unschädlich zu machen.

Frauen in Angst ist das eine Grundmotiv des Krimis, Frauen als Rächerinnen das konsequent komplementäre. In etwa der Hälfte aller Krimis töten Frauen, was mit der Kriminalitätsstatistik nichts zu tun hat. Tödliche Rache ist nicht der übliche Weg, den Frauen beschreiten, die misshandelt, entführt und vergewaltigt wurden. Die Rächerin ist eine Fiktion, die mehr mit männlichem Aktions-Denken als mit weiblicher Ohnmachtserfahrung zu tun hat. Aber sie ist eine sehr mächtige Fiktion mit hohem Glaubwürdigkeitspotenzial. Den meisten Menschen leuchtet unmittelbar ein, dass eine Gequälte den Peiniger, wenn sie kann, tötet.

In der unrealistischen Häufung von Mörderinnen in Krimis zeigt sich auf der anderen Seite das Unbehagen, das unsere Gesellschaft angesichts der Idee empfindet, Frauen könnten stark, gewalttätig und kämpferisch sein und sich für Schmach und Gewalt blutig rächen. Und zwar am Mann. Das Motiv der Männermörderin wird deshalb meistens in Komödien abgehandelt. Lustige Witwen mischen Gift und vergraben Leichen im Dutzend (z.B. Ingrid Noll, *1935). Das Auditorium einer Lesung lacht dann halb befreit, halb beklommen. Nicht nur die Form der Komödie, auch der Umstand, dass die mordende Frau nicht aus profunden gesellschaftspolitischen Motiven, sondern aus Gründen einer missglückten Beziehung Männer mordet, macht die an sich beunruhigende Idee eines Kriegs der Frauen gegen Männer erträglicher.

Das dritte Geschlecht – Lisbeth Salander und Lisa Nerz

Der schwedische Autor Stieg Larsson (1954-2004) kommt der Idee der systematischen Rache bereits sehr nahe mit seinen drei posthum veröffentlichten Thrillern um Mikael Blomkvist und Lisbeth Salander (Männer, die Frauen hassen, 2005, dt: Verblendung; Das Mädchen, das mit dem Feuer spielte, 2006, dt. Verdammnis und Das Luftschloss, das gesprengt wurde, 2007, dt. Vergebung). Wobei es seit Januar 2010 Gerüchte gibt, wonach Larsson kaum einen geraden Satz schreiben konnte und eher fürs Plotten verantwortlich war, während das Schreiben und Formulieren, also Erzählen seine Lebensgefährtin Eva Gabrielsson besorgte. (»Der Dichter und sein Denker«, in: SZ online, 22.1.2010)

Wenngleich in das erfolgversprechende Motiv-System eingebettet (Frau in Angst, dann Rächerin, ein bisschen Nazis, Kinderschänder, Verschwörung und Sex), basieren die Romane auf der Erkenntnis, dass es Männer gibt, die Frauen hassen, ohne dass sie dafür von der Allgemeinheit geächtet werden. Eine Verallgemeinerung, zu der in Deutschland nur Randgruppendiskurse fähig sind, die nicht öffentlich wahrgenommen, belächelt oder niedergeschrieen werden.

Larssons Krimis handeln davon, dass Männer Frauen quälen und umbringen, und dass sich die junge Frau Lisbeth Salander systematisch an diesen Männern rächt. Aus einer Familie mit gewalttätigem Vater stammend und als geistig und sozial zurückgeblieben unter Vormundschaft gestellt, wird Salander von einem sadistischen Vormund bestialisch vergewaltigt. Sie rächt sich ebenso bestialisch, tötet ihn aber nicht, sondern unterwirft ihn ihren Zwecken. Als Kind hat sie ihren Vater mit einer Brandbombe verletzt, weil er ihre Mutter misshandelte. Der Vater versucht nun, sie mithilfe eines Killers zu töten. Er schießt ihr in den Kopf und begräbt sie, doch sie schafft es, sich aus dem Grab herauszuwühlen und ihren Fall vom Krankenhausbett mithilfe eines Internetzugangs und der Unterstützung eines Journalisten zu lösen.

Anfangs begegnet Salander uns als knabenhafte gepiercte und tätowierte Jugendliche und als autistische Hackerin, die für ein Detektivbüro in Datenbanken einbricht. Dann lernen wir sie als Kämpferin kennen, die niemals aufgibt. Sie wohnt mit einer Lesbe zusammen, ist aber nicht emotional gebunden. Im ersten Band verliebt sie sich allmählich in den zurückhaltenden Journalisten, der seinerseits mit seiner Chefin ein sexuelles Verhältnis hat, das ihr Mann problemlos toleriert. Salander dagegen glaubt sich nicht geliebt und wendet sich von ihm ab. In den beiden Folgebänden ermitteln beide zwar zusammen am selben Fall, verbunden auf Internetplattformen, treffen sich aber nicht. Als Beherrscherin der Internetwelt verschafft Salander sich ein Vermögen und Unabhängigkeit, lässt sich die Brust vergrößern und tritt nun in wechselnden weiblichen Verkleidungen in die Welt hinaus.

Salander ist eine Superfrau, körperlich unbesiegbar, welche die Männer auf ihren Gebieten (Computer, Technik, Geld, Mathematik, Schach, Kampfkraft, Entschlossenheit) zudem um Längen schlägt. Mit der knabenhaften Gestalt, den künstlichen Brüsten und übermenschlichen Fähigkeiten ist sie eigentlich auch gar keine Frau. Frau musste sie nur sein, um Opfer zu werden. Ansonsten ist sie etwas Drittes, das seine Wurzeln in den Schimären hat, die in Comics vorkommen. Beispielsweise Catwomen (1940 als Comicfigur in Batman, 2004 als Film).

Aber nicht nur in dieser Figur hebt die Trilogie die Geschlechterrollen auf, sie tut es auch auf der Hintergrunderzählebene, welche die krasse Gewalt im Geschlechterkrieg unauffällig kontrapunktiert und von Leser/innen kaum bewusst wahrgenommen wird. Sie breitet einen Geschlechterfrieden vor uns aus, der uns unbekannt ist. Worin sich auch spiegeln mag, dass die schwedische Gesellschaft mit der Gleichstellung von Mann und Frau weiter ist als unsere. Der Journalist hadert nie, nicht einmal unterschwellig mit der Tatsache, dass Frauen machen, was sie wollen, dass er sie weder besitzen noch dominieren kann. Er legt die Spielregeln des Zusammenlebens nicht fest. Natürlich erliegt Larsson, wie beinahe jeder Autor, der Versuchung, seinen sanften Helden mit einer universellen Anziehungskraft für Frauen auszustatten – jede will mit ihm ins Bett, auch Salander kommt zu ihm –, aber sein Protagonist verfällt nicht in den üblichen melancholisch-verächtlichen Grimm, wenn Frauen anders wollen als er oder sich gar ganz gegen ihn entscheiden.

Seine sexuelle Attraktivität verhindert zugleich, dass seine Passivität und Friedfertigkeit weiblich erscheinen. Man könnte ja versucht sein, ihm die weibliche Genderrolle zuzuschreiben, zumal er sich auch in der Rolle des ohnmächtigen Opfers eines Serienkillers wiederfindet und von Salander gerettet werden muss. Aber seine abwartende Anspruchslosigkeit in seinen Beziehungen zum anderen Geschlecht wäre keine Eigenschaft, die wir als typisch weiblich bezeichnen würden. Wir Frauen sind ja keineswegs gelassen und anspruchslos unseren Männern gegenüber. Und wir lassen sie auch nicht ohne weiteres fort.

Die Emotionalität von Beziehungen orientiert sich hier an einem anderen Verhältnis, nämlich dem von Tierfreunden zu Tieren. So wie Salander eigentlich Catwoman ist, ähnelt des Journalisten Haltung der Geduld eines Katzenhalters seinen Stubentigern gegenüber. Sie kommen und gehen, wann sie wollen, und es hätte keinen Sinn, mit ihnen beleidigt zu sein oder ihnen Vorwürfe zu machen, wenn sie die Nacht über fortbleiben. Und wer eine Katze einsperrt und malträtiert, ist ein Tierquäler und wird hasserfüllt und rachsüchtig vernichtet. Ich bin mir nicht sicher, ob diese besitzabstinente Gelassenheit im Geschlechterverhältnis als reif einzuschätzen ist. Auf jeden Fall aber gewinnt Salander Handlungsmacht und Stärke daraus, dass der Journalist sie vertrauensvoll und in Ruhe ihren Weg gehen lässt. Das schafft auch bei Lesenden ein großes Zutrauen in die weibliche Protagonistin. Was uns als Frauen außerdem befriedigen mag, ist ihr Sieg über die Peiniger, den wir miterleben. Die Erlösung. Von Mobbingopfern weiß man ja, dass erfolgreiche Rache das zerstörte Selbstbewusstsein wieder aufrichtet. Rache ist süß.

Salander dient als Kunstfigur mit übermenschlichen Leidens- und Kampfkräften übrigens auch der Entlastung des Mannes von seinen Gewissensqualen beim Anblick von Gewalt gegen Frauen. Wenn Frauen stark wären, könnten Männer an ihnen nicht mehr schuldig werden. Es gibt ja auch die männliche Sehnsucht, der Versuchung nicht mehr erliegen zu können. (Der Islam ist davon geprägt. Er versteckt Frauen unter Tüchern, um den Mann schuldfrei zu halten.) Während repressive misogyne Gesellschaften den Schutz des Mannes vor Schuld mit der Verbannung von Frauen aus dem Männerleben lösen, löst Larsson das Problem mit einer Ermächtigung seiner Heldin zu töten.

Macht die Salander-Trilogie damit nun zukunftsweisende Aussagen über reale Schwächen, Stärken oder Chancen von Frauen in unserer Welt? Die aus der Krimiszenerie gefilterte Aussage ist die: Frauen, die keine Kampftechnik beherrschen und sich in der Welt der Männer nicht auskennen (Internet, Technik, Geld verdienen) haben nicht die geringste Chance, ihre Freiheit zu behalten und zu überleben. Ist das also die Stärke, die wir brauchen? Die uns weiterhilft? Wir müssten jedenfalls nicht nur sportlich ziemlich an uns arbeiten.

Lisa Nerz, die schlagfertige Schwäbin, ist ebenfalls von dritter Art. Die »gendermäßig oszillierende Lisa Nerz« (Thomas Wörtche, Kaliber 38, 2007) ermittelt seit 1997 (8 Bände bei Ariadne bis 2010) in Stuttgart und Umgebung und stammt von mir selbst. Trotzdem kann ich sie nicht unerwähnt lassen, denn auch sie bricht mit Gewohnheiten.

Nerz stammt aus einem fiktiven Dorf an der Schwäbischen Alb, war verheiratet, bis ihr Mann neben ihr im Auto bei einem Unfall starb. Sie lebt vom stattlichen Erbe. Nach dem Unfall ist sie nach Stuttgart gezogen und versucht, mit Narben im Gesicht und deshalb als junge Frau in die Krise geraten, in der Lesbenszene ihre Attraktivität neu zu definieren. Sie arbeitet als Reporterin, hat Affären mit Frauen und Männern und ab dem zweiten Band eine Dauer-Liebeskomplikation mit Staatsanwalt Weber, einem Mann mit transsexueller Vergangenheit. Auf der Basis bekannter Topoi – Nerz lebt allein, hat eine problematische Mutter, ein uraltes Auto und einen Dackel (statt Katze) – überschreitet sie alle greifbaren Grenzen. Aus der Diskrepanz zwischen mir als promovierter Literaturwissenschaftlerin und ihr als Unterschichtpflanze ohne Abitur vom Land ergeben sich Bildungshubereien und damit weitere Unschärfen ihrer Identität. Denn es geht um Identität. Und zwar um die, die jemand hat, der weder Frau noch Mann sein will.

Die Kommunikation von Nerz ist androgyn, insofern sie männliche Verhaltensweisen einsetzt: körperliche und rhetorische Aggressivität. Nerz will nicht gefallen, sondern anecken, sie verletzt Anstand, Regeln und Erwartungen und weiß, dass sie das tut. Einerseits moralisch genordet auf die Verteidigung der Schwachen und dabei auch zu rühren, lässt sie sich andererseits nicht mitreißen von konventionellen Denk- und Gefühlsströmungen. Nerz trägt als äußeres Zeichen der Verletzung ihrer weiblichen Identität ihre Narbe im Gesicht, die zwar langsam verblasst, aber Programm ist. Während die Krimifigur des Staatsanwalts Weber für sich die Lösung gefunden hat, in der Gesellschaft als Mann aufzutreten, sucht Nerz konsequent einen dritten Weg. Der weibliche Identitätsbruch führt bei ihr dazu, dass sie die Festlegung auf ein Geschlecht und die damit verbundene Genderrolle ablehnt. Sie ermittelt als Mann (in Männerkleidern) genauso wie als Frau.

Die Figur erlaubt mir als Autorin das Gedankenexperiment, was damit zu erreichen wäre, wenn eine Person sich keinem Geschlecht zugehörig fühlt, beide in sich versöhnt und beide – abwechselnd! – nach außen spielt. Denn, auch wenn ich es will und deshalb auch meine Figur, das dritte Geschlecht kann Nerz nach außen nicht geben, auch wenn sie wie in Nachtkrater (2008) als Figur mit ungewissem Geschlecht auftritt (weshalb ihre Umgebung sie zunächst für einen Mann hält). Für Nerz selbst ist ihr Geschlecht tatsächlich ungewiss. Sobald sie in die Welt hinaustritt, muss sie sich verkleiden, entweder als Frau oder als Mann. In Nachtkrater findet sie für sich den Begriff Cyborg, den die US-Weltraumbehörde Nasa in den 1960er Jahren entwickelte und mit dem Donna Haraway 1985 im »Cyborg Manifesto« (in: Monströse Versprechen, Hamburg 1995) einen Ausweg aus den Genderrollen mithilfe eines gedachten Mischwesens aus Mensch und Maschine suchte.

Je nach Situation adaptiert Nerz nützliche oder provokante Verhaltenssplitter von Männern oder Frauen. In ihrer Ganzheit probiert sie androgynes Leben, in Einzelsituationen zieht sie je taugliche Gender-Register. Die Weigerung, sich auf ein Geschlechtsverhalten festzulegen, und mehr noch, überhaupt die kulturelle Gegensätzlichkeit der Geschlechter zu akzeptieren, macht Nerz frei im Denken. Als Mann und Frau zugleich spürt, lebt, kritisiert und zerstört sie ein Machtverhältnis. In Mit Teufelsg’walt (2009) geht mit Hilfe von Nerz’ unabhängigem Blick alles kaputt, was wir üblicherweise über Mütter, Kinder, Jugendamt und Jugendliche denken.

Ich empfinde das schreibend als Befreiung von repressiver Festlegung von Frauen auf Weiblichkeit. Dazu gehört übrigens auch die Zuweisung gesellschaftlich anerkannter weiblicher Stärken wie kommunikative, soziale und emotionale Intelligenz, die eine Frau ausschließt von männlichen Stärken wie räumliches Vorstellungsvermögen, Risikobereitschaft und emotionaler Gleichgültigkeit. Die Differenzierung der Geschlechter mithilfe von Gegensatzpaaren (Animus und Anima) schwächt vor allem Frauen. Und Lisa Nerz probiert, ob Frauen stark werden, wenn sie sich nicht identifizieren lassen. Ihre Stärke besteht darin, dass sie mit Erwartungen und Klischees spielt. Sie lässt – und hier zitiere ich sinngemäß Frigga Haug – uns in die Falle unserer Vorurteile laufen. Sie macht Lesende zu Richtern über unpassendes Verhalten und zwingt sie zu erkennen, dass passendes Verhalten zum allgemeinen Volksvorurteil gehört, dem sie selbst anhängen. Insofern besteht die Stärke von Nerz darin, »ein Erziehungsprojekt zu inszenieren, in dem [...] diese Erziehung als Tat der Leserinnen ermöglicht ist – also wahrhaft revolutionär.« (Private E-Mail)

Neuer Karate-Feminismus

Als Feminismus-Veteranin will ich wissen, was von meinen Themen bei den 20 Jahre Jüngeren angekommen und selbstverständlich geworden ist. Und da gibt es Lucie Flebbe (*1977, geb. Klassen), deren Krimi Der 13. Brief (2008) 2009 mit dem Glauser fürs beste Debüt ausgezeichnet wurde. Immerhin liest die stets gewaltbereite junge Protagonistin sogar noch Emma.

Die 20-jährige Lila (Topos: Vorname dem Mädchen, Nachname dem Ermittler) drückt sich vor ihrem Studium und dem prügelnden Vater (Topos: Opfer) und strandet in Bochum auf der Couch von Privatdetektiv Danner, der einst Polizist war, den Bettel aber hinwarf, als seine Geliebte mit einer Intrige auf seine Kosten Karriere machte. Ein anständiger Polizist braucht ihn und Lila für verdeckte Ermittlungen in einer Schulklasse, in der sich Todesfälle ereignen. Lila tritt als jugendliche Schlägerin auf. Beim Anblick von drei Halbwüchsigen rekapituliert sie den Mr. Spock-Griff, der über Nervendruckpunkte Menschen bewusstlos macht (leider nicht in Wirklichkeit, was falsche Sicherheit schafft). Dann wiederum provoziert sie mit Mädchenschnute in Minutenschnelle einen Lehrer, sich als Grabscher zu entlarven. Oder sie kanzelt mondän beim Tanz einen Polizeipräsidenten ab, der auf ihr rotes Kleid abfährt wie ein Zuchtbulle auf eine weiß-schwarz bemalte Tonne. Wir lachen. Es wirkt erfrischend. Aber das Lachen bleibt uns im Hals stecken, wenn wir genauer hinschauen.

Denn was wie souverän manipulatives Spiel mit männlichen Reflexen aussehen soll – die Frau fordert mit Reizposen von Schmollmundmädchen bis blondem Vamp die Männer zur sexuellen Gewalt heraus – ist nichts anderes als das permanente Angebot, Opfer zu werden. Damit bedient die Autorin völlig unhinterfragt ein sehr mächtiges Klischee männlicher Interpretation von Täter-Opfer-Verhältnissen: Die Frau trägt stets eine Mitschuld, sie hat die Gewalt provoziert. Und Lila wird ständig Opfer. Sie wird von einem Lehrer angegrabscht, von einem anderen fast vergewaltigt (wobei sie ihn tötet) und vom 20 Jahre älteren Detektiv Danner auf dem Kühler flachgelegt und hinterher geschlagen. Lila kultiviert den Schmerz der Verletzung, nimmt dem Mann die Tat aber nicht grundsätzlich übel. Ihre angriffslustige Selbstverteidigung ist Teil einer sexualisierten Kommunikation, bei der Gewalt eine zentrale erotisierende Rolle spielt. Lila gibt die kratzbürstige Katze, die brutal gezähmt werden will. Sie provoziert Danner zu erotisch konnotierten Handgreiflichkeiten, um ebenso zu antworten. »Na, warte! Blitzschnell griff ich ihm in den Schritt.« (148) Zugleich kultiviert die Autorin die reizvolle Angst vor dem starken Unterwerfer Mann. »Das Kribbeln, das mich bei jeder seiner Berührungen wie in Stromschlag elektrisierte, ließ mich zittern.« (267) Lila ist das Mädchen, das nie geliebt hat (wenngleich es viele Jungs hatte) und der sexuellen Anziehung, die in Liebe umschlägt, erst ohne zu begreifen und dann praktisch ohnmächtig ausgeliefert ist, ähnlich wie die Protagonistinnen Aberhunderter von Liebesromanen à la Courts-Mahler oder Marlitt. Hier wie dort wird über zuverlässig wirksame (und wie Stilblüten wirkende) Reizwort-Sequenzen ein Klima von erotischem Kitsch geschaffen.

Man könnte jetzt sagen, schön: Wir sehen eine junge Frau, die statt Opfer zu werden die Männer herausfordert, sich als Täter zu entlarven – und tatsächlich sind Väter und Lehrer alle Täter –, aber weder Lila noch die Autorin reflektieren dies, noch scheint ihnen bewusst, dass Lila hier die altbekannte Rolle der Eva (der Verführerin des Mannes zum Sex als Sünde gegen sich selbst) spielt. Und während Lila als einzige Kommunikationsform mit Männern die sexuelle Herausforderung kennt, so besitzt sie als Kommunikationsform Frauen gegenüber nur Verachtung und den Triumph eigener sexueller Überlegenheit. Lila darf zwar als Karate-Feministin zuschlagen und den Vergewaltiger töten, doch erscheinen andererseits gesellschaftlich starke Frauen als heimtückisch und böse. (Sie machen Danner und andere brave Männer zu Opfern.) Alle Frauen mit Befehlsgewalt werden hier als kalte und zugleich notgeile Karriereschlampen diffamiert. So entsteht zwar das Bild eines »starken Mädchens«, aber es ist zutiefst frauenfeindlich. Lilas Stärke besteht lediglich in zweckentleerter und der Situation nicht angemessener Gewalt.

Das Frauenkomplott

Bisher haben wir Ermittlerinnen als Einzelkämpferinnen erlebt. Das entspricht dem Topos. Pieke Biermann hat jedoch singulär in der Krimiwelt in den 1980er Jahren mit ihrer Kommissarin Lietze und der Nutten-Initiative »Migräne« auf Frauensolidarität im kriminellen Milieu gesetzt (Potsdamer Ableben, 1987; Violetta und weitere, 1990, Deutscher Krimipreis 1991). Violetta gehört übrigens zu den Krimis, die alle Kriterien der Preiswürdigkeit erfüllen: Rotlichtmilieu, Huren, Sex, Mord an Frauen (nebenbei auch Mord an Männern). Biermanns Verwurzelung in der Huren- Bewegung der 1980er Jahre hat das Interesse sicherlich zusätzlich beflügelt. Denn ansonsten macht Biermann es ihren Leserinnen nicht leicht. Ich kenne keine Krimiautorin (auch keinen Autor), der meisterhafter mit Erzähltechniken und Dialekten umgeht als sie. Allerdings schafft beides – krimiuntypische Erzähltechniken und dokumentarische Exaktheit der Sprache – eine erhebliche Distanz zu Figuren und Handlung. Es sind Krimis, die durchtränkt sind von feministischer Suche nach Frauenrevolte und alternativer Stärke zur bürgerlichen Frau ohne Beruf (oder in untergeordneten Stellungen), die in eine utopische Solidarität der Verachteten, hier der Huren, mündet. Das Ehefrauendasein ist unbezahlte Prostitution, die Arbeit der Nutten erscheint als selbstbestimmtes Geschäft zum Nutzen der Gesellschaft (damit Ehefrauen sich nicht mehr in die Migräne flüchten müssen, wenn sie keine unentgeltliche sexuelle Arbeit leisten wollen). Das Schlagwort des Selbstbewusstseins der Entrechteten lautet: »Die einen schaffen an, die anderen schaffen umsonst.« So formiert sich aus dem Milieu der Ausgegrenzten und Aussätzigen das politische Ziel für alle Frauen: Keine Dienstleistung am Mann mehr, es sei denn, er zahlt gut dafür! Also: Raus aus der Falle der Liebe, die für Frauen sexuelle Unterwerfung und soziale Abhängigkeit bedeutet! Weshalb Sex von Gefühlen abgekoppelt werden muss.

Allerdings wären Hurenstolz und Hurensolidarität genau die Aspekte, die Lisa Nerz als falsche Romantik entlarven würde. »Verkaufe deine Sexualität, werde Hure, und du bist frei«, ist keine realisierbare Vision von Stärke und Freiheit. Huren kassieren zwar für Sex, aber sie bestimmen weder (oder sehr begrenzt), mit wem sie Sex haben, welchen sie haben und wann sie ihn haben, noch legen sie den Preis dafür fest, denn den diktiert der Markt. Und wie Biermann selbst in Wir sind Frauen wie andere auch (1991) zu Tage fördert, sind auch Nobel-Prostituierte nicht frei, jedenfalls nicht von Konsum- und Leistungszwängen.

Dennoch ist der Versuch herauszufinden, was ein Kollektiv aus sich ihrer revolutionären Kraft bewussten Frauen bewirken könnte, eine bislang im Krimi ungenutzte Idee mit großem aufklärerischem Potenzial. Fernsehkrimis setzen zwar inzwischen schon auf Teams (Sokos, ZDF), und das tut auch Fred Vargas (*1957) in ihren Krimis rund um Kommissar Adamsberg (Erstmals: L‘homme aux cercles bleus, 1991, dt: Es geht noch ein Zug von der Gare du Nord, Berlin 2003) und sein Team skurrilster Männer und Frauen, aber es sind stets gemischte Teams, meist unter männlicher Leitung, in denen es um alles andere geht als eine Klärung gesellschaftlicher und damit patriarchaler Machtgefüge als Quelle von unerträglicher Gewalt. In Vargas’ Team werden die Gestalten zu starken Charakteren vorrangig in extremer Form der Männlichkeit oder Weiblichkeit. Adamsberg ist der hypersensible Einzelgänger, zwar liebend aber untreu, der zum Machterhalt auch gewalttätig wird. Und die dicke und hässliche Kollegin Betancourt überlebt eine Entführung, weil sie sich in eine geradezu meditative Leidensfähigkeit flüchtet und dabei ihre Lebensfunktionen herunterfährt wie ein Murmeltier im Winterschlaf. Übrigens wird sie von der kommissariatseigenen Katze aufgespürt.

Und wo sind nun die starken Frauen?

In Krimis sind Ermittlerinnen stark, wenn sie physisch stärker und kämpferischer sind als Männer. Und sie sind stark, wenn sie nicht versuchen wie Männer zu sein und gut kommunizieren können. Sie sind schwach, wenn sie auf die »Waffen der Frau« setzen. Dann sind sie meist Täterinnen oder werden als Verräterinnen ausgeschaltet. Kokettieren sie als Weibchen, werden sie Opfer. Außerdem sind in Krimis Frauen immer Opfer. Aber sie gewinnen aus dem Schmerz Stärke. Wenn wir zwischen diesen Sätzen sieben Widersprüche entdecken, dann liegt es daran, dass Anforderungen an Frauen schon immer double- oder multi-bind waren. Sei schwach, sei stark, sei still, rede klug, sei schön und sorge dafür, aber sei dir dessen nicht bewusst, und so weiter. Krimis setzen nur in Szene, was zu den Grundüberzeugungen unserer Gesellschaft gehört. Deren wichtigste Aussage lautet: »Eine Frau soll nicht sein wie ein Mann. Sie soll nicht dort sein, wo ein Mann ist. Oder sie wird dafür bestraft.« Wir haben im Krimi zwar handelnde Frauenfiguren. Aber wenn wir sie als stark empfinden sollen, dürfen sie alles sein, nur nicht den Männern gleich. Das ist auch die Rächerin nicht, denn sie ist schön und stark, aber nicht so stark wie Männer, sondern viel stärker. Agieren Ermittlerinnen dagegen innerhalb der Gesetze auf männlichem Terrain – als Lokalreporterin oder Detektivin –, dann tun sie es unter einer Tarnkappe von Schwächen und kommen uns deshalb stark vor. Am wenigsten stark erscheinen jene Kommissarinnen oder Detektivinnen, die sich mit roten Haaren und Katze ausstatten und im fiktiven Kommissariat agieren wie ihre fiktiven männlichen Kollegen. Denn an ihrer Stelle könnte genauso gut ein Mann ermitteln. Sie geben dem Krimi keinen neuen Blickwinkel und bedienen sogar den alten: Denn sie werden Opfer, weil sie Frauen sind. Und um den Widerspruch auch hier zu benennen: Genau das ist echte Gleichstellung innerhalb eines bestehenden Systems, das Frauen eigentlich benachteiligt. Der Vorteil dieser Gleichstellung an der Front ist für den Krimischreiber der, dass sich ihm die Frau sofort wieder als Opfer anbietet und er sie in die Gewalt des Verbrechers fallen lassen kann, den sie eigentlich jagt. Und schon ist sie wieder schwach. Stark kommen uns Frauen in Ermittlerpositionen nur vor, wenn sie – und hier beißt sich die Katze in den Schwanz – sich auf weibliche Verhaltensmuster besinnen und unter Tarnkappen begeben. Als ob sich weibliche Kraft nur in einem schlauen Umgang mit den Repressalien der Genderrolle erfolgreich sein könnte. Ich sehe aber für uns Autorinnen durchaus fundamental neue Möglichkeiten im Gegensatz zu dem, was mit männlich dominierten Romanen erzählbar ist: Für männliches Verhalten gibt es nicht genügend vorurteilshafte Beschränkungen, deren Erkenntnis zu einer Befreiung führen würde. (Dass Männer auch gern mal weinen dürfen möchten, reicht nicht als Emanzipationsdrama.) Sie haben ja die Macht, auch wenn sie sie als nicht eigen empfinden mögen, weil sie sich ihren Spielregeln unterwerfen müssen. Bis zum Beweis des Gegenteils glaube ich, dass das Entlarven und Brechen der Machtverhältnisse bis in feinste Strukturen alltäglicher Kommunikation nur von Frauen geleistet werden kann, sofern sie die nötige Sensibilität dafür besitzen.