Fritz Tarnow, der "Arzt am Krankenbett des Kapitalismus"

Nachgelesen: "Wer hat uns verraten..." oder Legende kommt von legere = lesen

"Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten", kommt - unbeschwert vom Wissen um die blutige Geschichte des Verhältnisses von Sozialdemokratie und Kommunismus - schnell mal über die Lippen junger Linker, da reicht mitunter schon der Frust nach einer Niederlage im Ortsbeirat wenn die SPD beim Hundeklo-Antrag mit irgendeiner anderen Partei abstimmt. Dann wird gleich der Link zu Marc-Uwe Klings Youtube-Video "Wer hat uns verraten?" getwittert.

Es gibt sie, die linken Legenden. Und obwohl "Legende" eigentlich von "legenda" stammt, also mit dem lateinischen "legere", d.h. "lesen" zu tun hat, haben die Legenden der Youtube-Analphabeten nichts mehr mit Lesen, mit vielleicht falscher Lektüre zu tun. Das zeigt das ebenso populäre Verdikt über die SPD als "Arzt am Krankenbett des Kapitalismus". Google lieferte eben viertausendzweihundertfünfzig Fundstellen zu dieser Floskel.

Daß man's hier in der Regel mit wiederkäuenden linken Legasthenikern zu tun hat, ahnen Genossen älteren Semesters, die in der unter der Leitung Walter Ulbrichts von einem Autorenkollektiv des Instituts für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED herausgegebenen "Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in acht Bänden" nach jenem Zitat suchen.

Im Anhang des 4. Bands, der die Zeit von 1924 bis Januar 1933 behandelt (Dietz Verlag Berlin/Ost 1966, S. 298), findet man nämlich das Arzt-Zitat anders, nämlich korrekt zitiert; allerdings derart verkürzt, das man von einer Verfälschung sprechen kann - immerhin wird die Verkürzung durch drei Auslassungs-Pünktchen kenntlich gemacht:

Die SED-Historiker unterstellen dort Fritz Tarnow (Foto Friedrich-Ebert-Stiftung) "die These, die Arbeiterbewegung habe 'am Krankenlager des Kapitalismus ... Arzt zu sein, der ernsthaft heilen will'".

Das ist die (Tarnows Kapitalismuskritik unterschlagende) Fortschreibung des Berichts auf der zweiten Seite des KPD-Zentralorgans Die Rote Fahne von Dienstag, dem 2. Juni 1931, in dem es hieß: "Die Schlußfolgerung seines Eintretens für den 'Sozialismus' war, daß die Sozialdemokratie der kranken kapitalistischen Wirtschaft so gegenübertreten müsse, wie ein Arzt einem Kranken. Herr Tarnow will 'zuerst' den Kapitalismus heilen und dann irgendwann einmal später mit Gottes Hilfe und Brünings Segen den Umwandlungsprozeß zum Sozialismus durchführen."

Liest man Fritz Tarnows Referat "Kapitalistische Wirtschaftsanarchie und Arbeiterklasse" auf dem Sozialdemokratischen Parteitag in Leipzig 1931 nach (Protokoll, Berlin 1931), so ist die Passage doch etwas anders, und zwar keineswegs kapitalismusunkritisch, akzentuiert:

"Nun stehen wir ja allerdings am Krankenlager des Kapitalismus nicht nur als Diagnostiker, sondern auch - ja, was soll ich da sagen? - als Arzt, der heilen will?, oder als fröhlicher Erbe, der das Ende nicht erwarten kann und am liebsten mit Gift noch etwas nachhelfen möchte? In diesem Bilde drückt sich unsere ganze Situation aus. Wir sind nämlich, wie mir scheint, dazu verdammt, sowohl Arzt zu sein, der ernsthaft heilen will, und dennoch das Gefühl aufrechtzuerhalten, daß wir Erben sind, die liber heute als morgen die ganze Hinterlassenschaft des kapitalistischen Systems in Empfang nehmen wollen. Diese Doppelrolle, Arzt und Erbe, ist eine verflucht schwierige Aufgabe."

Die fragliche Passage wurde in o.g. Ausgabe von Die Rote Fahne folgendermaßen wiedergegeben:

"Die Zeit zur Verwirklichung des Sozialismus ist noch nicht in die Nähe gerückt. Die Wirtschaft wird in eine neue Austiegsperiode hineinkommen. Wie haben wir uns da als Diagnostiker am Krankenlager des Kapitalismus zu verhalten? Wir haben da eine schwierige Aufgabe. Als Arzt müssen wir versuchen, den kapitalistischen Körper zu gesunden und als Erben steht vor uns die Frage, ob wir mit etwas Gift nachhelfen sollen, damit der Patient stirbt. Es wäre eine einfache Sache, einem röchelnden Patienten noch Gift zuzuführen. Das dürfen wir aber nicht im Interesse der hungernden Massen. Die organisierte Arbeiterschaft will den Sturz des kapitalistischen Systems, aber nicht den Zusammenbruch der Wirtschaft. Diejenigen, die mit einem Druck die sozialistische Wirtschaft einführen wollen, müssen zweifellos so verfahren, wie es in Rußland gemacht wurde. Die Fiktion, daß das russische Vorgehen für das russische Volk eine Befreiung bedeutet hätte, wird niemand von uns als richtig anerkennen. Das russische Volk ist seit vierzehn Jahren durch ein Höllental des Elends hindurchgeführt worden, das schlimmer ist als das Elend irgend einer kapitalistischen Wirtschaft."

Immerhin berichtet Die Rote Fahne in selben Ausgabe auch vom klarstellenden Schlußwort Tarnows zu Einwänden einiger Linker, namentlich des Delegierten Ziegler: "Die Rede Zieglers sei ein Mißverständnis gewesen. Er lehne es nicht ab, das kapitalistische System zu stürzen, aber er wolle nicht den Zusammenbruch der Wirtschaft, an deren Existenz Millionen Menschenleben hängen." Danach wurde, so Die Rote Fahne weiter, "die Resolution der 'Linken' mit überwältigender Mehrheit gegen 25 Stimmen abgelehnt" und daraufhin stimmte auch die SPD-Linke (bis auf zwei Gegensitimmen) für Tarnow.

Tarnow war an der Parteischule einer der Lieblingsschüler von Rosa Luxemburg, und er erhielt als Absolvent des Lehrgangs 1908/09 von ihr folgende Beurteilung: „Fritz Tarnow ist der begabteste Schüler der ganzen Klasse, er hat in der Schule vieles abgestreift, was er vom Revisionismus hatte, und ich möchte ihn nicht den Gewerkschaften gönnen, wo er uns evtl. gefährlich werden könnte, während er bei uns, ich meine in der Parteitätigkeit, sehr nützlich sein kann“ (Brief an Clara Zetkin vom 21. März 1909, in: Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, Bd. 3, Berlin/DDR 1982, S. 12). Eine nicht wie üblich floskelhafte Auseinandersetzung mit Tarnows Referat lieferte für die KPD (O) August Thalheimer in der Zeitschrift Arbeiterpolitik vom 14. Juni 1931, (nachgedruckt 1981 in der Zeitschrift der Gruppe Arbeiterpolitik (S. 6-9), die in der Tradition dieser KPD-Abspaltung vom Ende der Weimarer Republik steht.

Das Dilemma, das dieser alte Fritz beschrieb, scheint mir in heutigen linken Debatten über Regierungsbeteiligung und/oder Opposition so durchaus zitierwürdig. In Hinblick auf die aktuelle Finanzkrise lesenswert ist Tarnows Kritik der Wirtschaftsanarchie des Kapitalismus und seine Forderung eines "konstruktiven Sozialismus". Die Widerstandskämpfer vom 20.Juli 1944 hatten ihn als Reichswirtschaftsminister vorgesehen. Immerhin wurde er einer der Väter des Grundgesetzes: Für die SPD gehörte er dem Parlamentarischen Rat in Bonn an.