Utopien in der Umbruchzeit

Mit der Wiedervereinigung 1991 setzte die deutsche Bevölkerung nicht nur einen Endpunkt hinter 40 Jahre realexistierenden Sozialismus, sondern auch hinter alle Utopien und Reformideen, die sich in der Vorwendezeit und seit '89 entwickelt hatten. Eine aufregende Zeit für Querdenker und Utopisten.
Wir haben Steffen Zillich, damals aktiv in der mjv (Marxistische Jugendvereinigung), interviewt, wie das so war, als politisch aktiver Jugendlicher zum Ende der DDR.

Heute wird ja viel über die unpolitischen Jugendlichen gemeckert. Wie war das in der DDR?
Waren die da „politischer“?

Das kann man nicht so einfach sagen. Im Prinzip war die ganze Gesellschaft durchpolitisiert.
Staat, Partei, Wirtschaft, Verwaltung legitimierten, was sie taten, mit einer politischen Absicht. Das öffentliche und berufliche Leben erforderte fast immer ein politisches Bekenntnis zur sozialistischen Gesellschaft. Aber diese Bekenntnisse waren oft nur noch symbolisch; zu einem inhaltsleeren Ritual geworden.
Dies führte teils zu Kritik und teils zu Resignation. Andererseits haben sich viele dem einfach  soweit es ging entzogen. Die DDR war eine Nischengesellschaft. Gerade Jugendliche haben
sich abgewandt, wollten mit all dem gar nichts mehr zu tun haben. Diese alltägliche Abwendung vom Politischen war, wenn man so will, ein politischer Akt.
Während der Wendezeit selbst gab es eine ungeheure politische Aktivität. Gerade junge
Menschen wollten etwas verändern und hatten weniger Angst vor Unsicherheiten und Veränderungen.
Insbesondere in den Jahren 1989/90 machten sehr viele die Erfahrung, dass man tatsächlich
etwas bewegen kann. Das beförderte natürlich politisches Engagement.

Was hast du gemacht? Wo warst du aktiv?

Ich war 1989 Schüler in einer Erweiterten Oberschule (entspricht in etwa den heutigen Gymnasien). Ich war dort gerade als FDJ-Sekretär gewählt worden, dies aber mit einem Programm, das sich vom üblichen Profil einer solchen Funktion unterschied und das sich eher an die Aufgaben einer politisch verstandenen bundesdeutschen Schülervertretung anlehnte.
Im Herbst ‘89 war täglich etwas los, ich war – wie viele – jeden Tag damit beschäftigt, die
rasend schnell ablaufenden Veränderungen mitzubekommen, zu diskutieren und mich einzumischen.
Ich war z.B. in verschiedenen Gruppen dabei, die sich einen Kopf darüber gemacht haben, wie junge Menschen in einem repräsentativen parlamentarischen System ihre Vertretung organisieren sollten, saß an Runden Tischen, diskutierte mit Vielen in verschiedenen Zusammenhängen wie ein Zusammenschluss linker junger Menschen aussehen könnte und wie man dazu kommen kann. Das führte dann um die Jahreswende 1989/90 zur Gründung der „mjv – Junge Linke“.


Was bedeutete es in der DDR, links zu sein bzw. gab es diese Kategorie überhaupt?

Einerseits war „links sein“ Staatsräson und das meinte: Loyalität, Disziplin, Antifaschismus,
Gerechtigkeit, Solidarität, soziale Sicherheit, Marxismus/Leninismus und Antikapitalismus.
Es ging nicht um Demokratie, Emanzipation, Individualität oder auch Ökologie und Bürgerrechte.
Deshalb äußerten andererseits die Oppositionsgruppen in der DDR fast ausschließlich eine
linke Kritik an den DDR-Verhältnissen und verstanden sich auch eher als linke Opposition.
Für mich persönlich hat sich der Gehalt von „links sein“ 1989 rasend schnell verändert.

Es hat sich viel Widerstand an den eingeschränkten Grund- und Freiheitsrechten entzündet. Wie habt ihr diese Einschränkungen erlebt?

Im strengen Sinne gab es so etwas wie Grundrechte nicht. Jedenfalls gab es sie nicht als einklagbare Rechte, weil es – bis ins Jahr 1989 – gar keine Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung staatlichen Handelns gab.
Offenen Widerstand gab es nur sehr wenig, das war verboten. Opposition war illegal und deshalb eben auch mit erheblichen Gefahren verbunden.
Mir persönlich sind keine Repressionen widerfahren, ich war auch nicht oppositionell eingestellt.

Habe ich Meinungsfreiheit vermisst? Eher nicht. Einerseits kannte ich es nicht anders, andererseits hatte ich auch etwas Glück, keinen Ärger zu bekommen: Ich weiß, dass Andere,
die sich in ähnlicher Weise öffentlich geäußert haben, wie ich es ab und an gemacht habe,
durchaus erhebliche Schwierigkeiten bekommen haben.

Gab es auch theoretisch-abstrakte Kritik am Sozialismus als Ideologie und wie und wo wurde diese diskutiert?


Einerseits gab es in den Institutionen, in der SED und auch in der Wissenschaft durchaus
theoretische, mitunter auch kritische Debatten. Allerdings konnte es auch schnell passieren,
dass dies auf harschen Widerstand der Staatsmacht stieß. Im Großen und Ganzen fand Kritik nicht öffentlich statt. In der kleinen Opposition in Umweltgruppen und unter dem Schutz der Kirche gab es im Geheimen auch theoretische Kritik. Die Relevanz der Opposition
wuchs aber eher mit der Kritik an den realen alltäglichen Verhältnissen.

Fand manch einer eigentlich auch Kapitalismus „geil“ oder war man da grundlegend skeptisch?

Unterschiedlich. Das Entscheidende war wohl eher die Delegitimierung des real existierenden
Sozialismus als die Begeisterung für den Kapitalismus. Das der nicht nur schön ist, wussten
oder ahnten wohl irgendwie alle. Aber die Versprechen von Reisefreiheit, Wohlstand und
Konsum waren sehr attraktiv. Auch die Freiheit, seine Meinung zu äußern, an die Musik
zu kommen, die man gerne hören wollte, an die Bücher, die man gerne lesen wollte oder die
Filme, die man gerne sehen wollte, war sehr verlockend.

Ein Standardfrage, aber dennoch interessant - wie habt ihr ´89 den Fall der Mauer erlebt?

Ich war auf einem der vielen damals stattfindenden Treffen und habe von der legendären
Pressekonferenz erst abends erfahren, als ich wieder zu Hause war. Nach Westberlin bin ich
dann eine halbe Woche später. Nicht nur für mich war die Öffnung der Mauer damals nicht
das entscheidende Ereignis. Einerseits habe ich die Bedeutung für die weitere Entwicklung
sicher unterschätzt, andererseits waren die Demonstrationen im Oktober in Berlin und
in Leipzig, der Rücktritt Honeckers und vor allem die große Demonstration von einer Million
Menschen am 4. November in Berlin für mich viel wichtiger als Meilenstein der Veränderungen.

Wie stark oder greifbar waren die politischen Utopien zwischen '89 und '91 - in Abkehr vom real existierenden Sozialismus UND jenseits der kapitalistischen Systems der Bundesrepublik?

Im Herbst '89 haben zunächst fast alle, die sich öffentlich politisch geäußert haben, von so
etwas wie einer demokratisch-sozialistischen Perspektive für die DDR gesprochen – von den
Oppositionsgruppen bis zur CDU. Wobei in der Öffentlichkeit eher kurzfristige Veränderungen als grundsätzliche Perspektiven dominierten. Es ging vielen Menschen um eine demokratische und gerechte, solidarische, durchaus nicht-kapitalistische Entwicklung. Insofern war das ein durchaus reales Ziel.

Ihr wolltet die DDR also nicht abschaffen?


Es ging uns darum, die DDR zu reformieren. Dies wurde aber – insbesondere, je mehr sich
abzeichnete, dass die DDR ökonomisch allein nicht lebensfähig war – immer weiter ins Reich
der Utopie verwiesen.
Uns war zudem nicht so ganz klar, ob ein demokratischer, emanzipatorischer Sozialismus in
einer neuen DDR eine Chance haben konnte. Aber wir waren uns ziemlich sicher, dass so
etwas kurzfristig in einem vereinigten Deutschland nicht klappen würde. Es blieb uns nur noch, möglichst viel politische Kraft zu sammeln und zu entwickeln, damit das Ziel und das politische Programm eines demokratischen, emanzipatorischen Sozialismus nicht verschwindet.
Darüber hinaus hatte der Kampf um möglichst viel Eigenständigkeit der Entwicklung in der
DDR jenseits der Sozialismus-/Kapitalismusfrage durchaus noch bis zum Ende der DDR
eine große Bedeutung. Denn der wurde auch zu einem Kampf um Selbstbestimmung und um
den Erhalt der vielen demokratischen Errungenschaften und Freiräume, die wir uns in der
Wendezeit erkämpft hatten.

Dann kam die Wiedervereinigung. Ich wäre ganz schön frustriert gewesen …


Viele haben sicher ihr Engagement zurückgefahren, auch weil sie mit Ausbildung und Job
und dem Zurechtkommen in der Bundesrepublik beschäftigt waren. Aber die Wiedervereinigung kam ja nicht überraschend. Die Option einer eigenständigen Entwicklung hatte sich ja nicht plötzlich am 3. Oktober 1990 erledigt, sondern eigentlich schon spätestens seit März 1990. Wer linke Politik machen wollte, musste dies in der Bundesrepublik tun oder sich mit einer Sekte in ein Paralleluniversum zu verziehen.
In der „mjv - Junge Linke“ war uns das klar. Deshalb haben wir uns in den „alten Bundesländern“ umgetan und Partner gesucht. Mit dem sich seit 1990 immer intensiver entwickelnden Kontakt zu den Jungdemokraten gab es dann eine organisatorische Perspektive. Es galt, sich gegenseitig kennenzulernen, Freunde zu finden,
sich zu behaupten und letztendlich eine „linke Vereinigung“ zu gestalten. Mit „JungdemokratInnen - Junge Linke“ als neuem, parteiunabhängigem,
emazipatorischem und bundesweitem Jugendverband haben wir das auch ziemlich gut hinbekommen und dann gemeinsam gegen den Irakkrieg, die Abschaffung des Asylrechts,
gegen Lauschangriff und Sicherheitspanik gekämpft.

Steffen Zillich ist heute Mitglied der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus.