Gesellschaftliche Planung und das System der vernetzten Computer

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Das Problem hinter aller Diskussion über Planung ist das Problem der Totalität. Wir wissen, dass jeder Eingriff in die Abläufe der Natur weltgesellschaftliche und jeder Eingriff in die Abläufe der Gesellschaft biosphärische Folgen hat. Jeder Schritt gesellschaftlicher Planung erzeugt zudem gesamtgesellschaftliche Erschütterungen, denn Planung bringt Herrschende und Beherrschte zugleich zusammen und gegeneinander auf - so lange jedenfalls, bis Planung zu ihrer wirklichen Form, der Herrschaftsfreiheit, gefunden hat. Planung kann also nicht ohne Rekurs auf Herrschaftsstrukturen und -handlungen diskutiert werden.

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Durch Globalisierung und Informatisierung, schreibt Fredric Jameson, werden wir alle - die Linke, die Rechte, die Wirtschaft, die Kultur - mit der Tatsache konfrontiert, dass kein nationales, regionales oder lokales Gebiet oder Gebilde den Zustand der Autonomie oder gar der Subsistenz erreichen oder sich sonst wie vom Weltmarkt abkoppeln kann. Auch die Rettung der Utopie der Herrschaftsfreiheit hat nur eine Chance, wenn die Marxisten „den Gedanken einer globalen Totalität festhalten oder - wie Hegel gesagt hätte - ›dem Negativen folgen‹ und so letztlich jenen Ort lebendig erhalten, von dem das - unerwartete - Entstehen des Neuen erwartet werden kann" (1996, 181). Wobei gesellschaftliche Planung nicht auf das Unverhoffte, sondern auf das Erhoffte setzt.

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Anders gesagt: Es ist inzwischen klar, dass wir heute beim Versuch einer Krisenlösung im kapitalistischen Systemchaos die Interkonnektivität aller ökonomischen, politischen, sozialen, kulturellen, ökologischen usw. Probleme - und zwar gleichzeitig, in Realzeit - berücksichtigen müssen. Die Totalität der Probleme ist das eigentliche Problem und die Totalität der Problemlösungen das eigentliche Aufgabenfeld. Es genügt also keineswegs, sich in der linken Planungsdebatte auf Inseln partizipatorischer Wellness zurückzuziehen. Zumal mithilfe der universalen Maschine des Systems der vernetzten Computer es tendenziell tatsächlich möglich wird, Totalität zu imaginieren - und zu bearbeiten. „Heute gestattet es uns zum ersten Mal die instantane Geschwindigkeit der elektrischen Information, Schema und Konturen des Wandels und der Entwicklung leicht zu erkennen. Die ganze gegenwärtige und vergangene Welt enthüllt sich uns wie eine wachsende Pflanze in einem ungeheuer beschleunigten Film. Die elektrische Geschwindigkeit ist gleichbedeutend mit dem Licht und dem Verstehen der Kausalzusammenhänge." (McLuhan 1968, 382)

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Computerbasierte Totalsimulation wird heute ansatzweise realisiert durch die Planungsstäbe des Industrie- und Finanzkapitals, des Staates, des Militärs usw. und durch die Einrichtungen der Wissenschaft. Also: Planung und Wissenschaft sind ohne hochgradige interne und externe Vernetzungen gar nicht mehr denkbar. Die Interkonnektivität in und zwischen diesen Bereichen allerdings ist - wegen Profitkonkurrenz - völlig unzureichend ausgebildet. Im Gegenteil, die Netze sind ein Feld, auf dem ein Kampf um Kontrolle tobt, in den die Funktionseliten eingebunden sind. Darüber hinaus sind Massenkultur und Massenkommunikation komplett abhängig geworden von einem Symbolsystem nomadisierender Sinngebungen, das virtuell alles mit allem auf vollkommen beliebige Weise verknüpft. Jameson nennt dies die kulturelle Logik des Spätkapitalismus, „The Geopolitical Aesthetic" (1992). Und man muss wohl noch deutlicher werden: „Der visionäre Cyberkapitalist ist ein hybrides Monster aus Sozialdarwinismus und techno-populistischem Individualismus. Der Kapitalismus ist zum ersten Mal in der Geschichte auf sich selbst angewiesen und sieht sich allein mit seinem mörderischen Double konfrontiert: dem Faschismus. Kapitalismus ist nicht mehr ein Modell der Produktion und Konsumtion, sondern etwas ganz anderes: Nintendo-Kapitalismus, angesichts dessen unsere Körper sich weigern müssen, als von der virtuellen Klasse weggeworfenes Fleisch übrig zu bleiben." (Kroker/Weinstein 1997, 29)

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Wenn wir als Linke unter dem Eindruck der Computerisierung die Diskussion um gesellschaftliche Planung wieder aufnehmen, können wir also nicht so tun, als seien Cyberspace, Virtualität, Simulationskultur und Internet nicht Teil des ›Schweinesystems‹. Dennoch manifestiert sich in seinen Tiefen, hinter unserem Rücken und an den überraschendsten Orten schon verwissenschaftlichte Planung im Sinne des historischen Materialismus. So gilt es also auch, den Dschungel des ›Nintendo-Kapitalismus‹ in seiner Drei- oder auch Vierdimensionalität nach den dort lebenden Orchideen, Heilpflanzen und Wundertieren zu durchforschen. Dazu bedarf es z.B. einer kritischen Hinterfragung der Frankfurter Begriffe der instrumentellen und kommunikativen Vernunft, denn ersterer ist zu eng, letzterer zu weit.[1] Selbstverständlich ist so etwas nicht möglich, ohne in Kenntnis der heutigen Rechnerkapazitäten Lehren aus den bisherigen Versuchen einer sozialistischen Planwirtschaft zu ziehen (Cockshott/Cottrell 2006; Dieterich 2006). Aber das Feld der Reflexion muss sich auf die ganze Kultur einer bestimmten Epoche beziehen: „Marx ist weder aktuell noch veraltet: Er ist klassisch, und die ganze marxistische und kommunistische Tradition, in ihrer Dauer mehr oder weniger dem goldenen Zeitalter Athens vergleichbar, ist genau dieses goldene Zeitalter der europäischen Linken, zu dem man wieder und wieder zurückkehren muss - mit den erstaunlichsten und phantastischsten, produktiven und widersprüchlichen Ergebnissen." (Jameson 2009, 470)

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Indem die Linke sich so als Akteur im Herrschaftsgeschehen wiederfindet oder neu orientiert, muss sie also nicht nur fragen „wer wen?", sondern auch „wer mit uns?". Im cybertechnischen Milieu ist dieses Wer ein Teil der Funktionseliten. Zu den Grundmustern moderner Herrschaftsanalyse gehört seit rund hundert Jahren eine Kombination von Klassentheorie und Elitentheorie. Auch der heutige Cyberkapitalismus ist ohne das höchst widersprüchliche, netzgestützte Zusammenspiel einer globalen ruling class mit global agierenden, dienstbaren Funktionseliten nicht zu verstehen. Neben den Konzern-, Finanz-, Militär- und politischen Eliten (Krysmanski 2009) interessieren hier besonders die IT-Eliten, bei denen Hardt und Negri drei Handlungstypen unterscheiden: Der erste entfaltet sich in der durch Informatisierung und Kommunikationstechnologien transformierten industriellen Produktion; der zweite Typ „immaterieller Arbeit" (vgl. dazu Haug 2004) kann durch analytische und symbolische Anforderungen umrissen werden; der dritte Typ bezieht sich auf die Produktion und Handhabung von Affekten (Hardt/Negri 2002, 305). Es sind Machtkomplexe entstanden mit einer hochgradig computerisierten Binnenorganisation.[2] Erschlossen (oder wenigstens beschrieben) hat diese Welt das us-amerikanische Power Structure Research: von der ›Power Elite‹ C. Wright Mills' zum Begriff des Militär-Industrie-Komplexes bis zum Konzept eines Geldmachtkomplexes (Krysmanski 2009, 268-82). Unterm Führungspersonal dieser Organisationen gibt es interessante Bündnispartner, die anfällig für das Erhoffte sind. Schließlich kennen sie die Risse im Beton viel genauer als ›wir‹. Man lese nur, was manche ›whistleblower‹ über die Wall Street schreiben oder was in den Protokollen mancher Konferenzen der American Association for the Advancement of Science (AAAS) steht. Vielen dieser durcheinandergerüttelten Funktionseliten aus dem zweiten und dritten Glied ist zuzutrauen, dass sie über ihre eigene Rolle in den Herrschaftsstrukturen intensiver nachzudenken beginnen und Spaß bekommen am Ziel eines elektronisch abgestützten globalen Netzwerks friedlicher Assoziationen, in denen die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.

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Diese ambivalente Rolle der Funktionseliten muss in die Debatte um das Konzept der gesellschaftlichen Planung eingebracht werden. Dass dies kaum geschieht, liegt auch daran, dass der ganze Prozess der Informatisierung des Planungsgeschehens nicht zureichend diskutiert wird. Die Digerati spielen fast keine Rolle in dieser Diskussion. Spräche man nämlich über die Entwicklung und vor allem über die Entwickler und Anwender planungsrelevanter Hardware und Software, müsste man nicht wie K.H. Tjaden schreiben: „Gesellschaftliche Planung ist heutzutage hierzulande out." (2006, 49) Das stimmt nämlich nicht. Sie ist in wie niemals zuvor, aber sie hat viele seltsame neue Namen. In der Nachkriegszeit und vor allem in den 1970ern gehörte Planung zu den politischen Zentralthemen. Das hing mit der Systemauseinandersetzung und einem scheinbar ›planvoll‹ operierenden realsozialistischen Gegner zusammen. Die sozialliberale Koalition setzte zahllose Planungsgremien ein, darunter die Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel. Zurückgegriffen werden konnte auf die us-amerikanische, noch auf New Deal-Zeiten zurückgehende Planungspraxis. Diese hatte unterm Einfluss militärischer Planungserfahrungen aus Weltkrieg und ›Systemauseinandersetzung‹ zur ausgeklügelten Wissenschaft des ›operations research‹ geführt, welche die großen industriellen und staatlichen Organisationen, v.a. die transnationalen Großkonzerne, zunehmend prägte. Und in diesen Milieus entstand dann eben auch das Internet - und trieb instrumentelle und kommunikative Vernunft einander in die Arme. Wenn also Tjaden meint, gesellschaftliche Planung sei „für den heutigen ›neoliberalen‹ Zeitgeist nahezu zu einem unsittlichen Anliegen geworden" (ebd.), mag das für den Wortgebrauch stimmen, nicht aber für die Praxis. Ein Verlust aber ist in der Tat zu bedauern: die Verdrängung einer entwickelten Produktivkrafttheorie.[3] Für diese im Realsozialismus durchaus perfektionierte Theorie war Planung ja nicht nur ganz allgemein die „bewusste Festlegung einer Abfolge von Schritten und Mitteleinsätzen", um bestimmte Zielzustände zu erreichen, „die sich von Zuständen in gegebenen oder demnächst zu erwartenden Situationen unterschieden" (ebd.). Produktivkrafttheoretisch angeleitete sozialistische Planung basierte zumindest dem Versprechen nach auch auf einem historischen Verständnis der Interkonnektivität aller Probleme und Problemlösungen. Dass dieses Versprechen nicht eingelöst wurde, lag vor allem an einem Punkt: es wurde nicht gesehen, dass die cybertechnische Revolution auch im Kapitalismus bereits eine Umwälzung des Verhältnisses von Produktionsmitteln und Arbeitskräften implizierte; dass tendenziell - in einer objektiven Entwicklung über das Kapitalverhältnis hinaus - die Produktionsmittel zu Anhängseln der Arbeitskräfte zu werden begannen. (Spannend wird vor diesem Hintergrund im Übrigen, wie Peking die ›Rückkehr zur Planwirtschaft‹ planen will; vgl. Wagner 2010.)

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Inspiriert von der New Economy entwickelt sich zäh ein neues Paradigma (makro)ökonomischer Organisation. Stefan Meretz (1999) nennt es den Weg „vom eindimensionalen Menschen zur unbeschränkt entfalteten Individualität". Erstaunlicherweise kann die Produktivkrafttheorie die dahinterstehende Dialektik von Energiemaschinen, Prozessmaschinen, Algorithmusmaschinen einerseits und menschlicher Kreativität andererseits tendenziell besonders gut aufschlüsseln. Produktivkraftentwicklung erscheint dann als ein Algorithmus aller Algorithmen. Die im Kapitalismus, wie Marx ihn kannte, sich vollziehende Umstellung der gesellschaftlichen Beziehungen in durch Entfremdung bestimmte Beziehungen zwischen Produktionsmitteln und Arbeitskräften ermöglichte eine durchaus fortschrittliche „subjektlose Dynamik durch die Selbstverwertung von Wert in der Konkurrenz" (ebd.). Die virtuelle Simulationskultur hebt nun nicht nur die Trennung von Produktionsmitteln und Produzenten auf, sie reißt nicht nur die Grenzen zwischen Basis und Überbau, zwischen Realität und Spiegelwelt ein. Die kybernetisch-algorithmische Revolution wertet vielmehr auch die subjektive Seite auf, oder genauer: sie subjektiviert die Produktion, Distribution und Konsumtion. Die Produzenten haben auf einmal auch außerhalb des Arbeitsplatzes Zugriff auf die Produktionsmittel. Banker funktionieren tagsüber als wealth manager und kopieren des Nachts die Daten der Steuerhinterzieher. Das ›neue Paradigma‹ hat - wie könnte es unter kapitalistischen Bedingungen anders sein - ambivalenten Charakter:

Es geht um ein den Bedürfnissen angepasstes Konsumangebot (nicht umgekehrt), um die Anpassung des Jobangebots an die ›Menschen‹ (nicht umgekehrt), um die Ermutigung von Autonomie und Partizipation am Arbeitsplatz, die gegenseitige Befruchtung von Spezialisten um ›das Ganze‹ zu sehen, um Identitätsbildung über den Job hinaus. Zugleich sollen der Umgang mit Unbestimmtheit und Kooperationsbereitschaft ausgebildet werden. Arbeit und Freizeit („work and play") sollen ineinander übergehen können. Die Natur soll als ›Partner‹ betrachtet werden. Wandel und Werden, qualitative Aspekte sollen stärker berücksichtigt und spirituelle Werte über den rein materiellen Gewinn gestellt werden. Man soll nicht nur in Gegensätzen denken und das Intuitive ebenso schätzen wie das Rationale. Verlangt werden ökologische Sensibilität bei der Abschätzung der langfristigen Folgen des Handelns und Dezentralisierung von möglichst vielen Operationen. Statt des ungehemmten, rücksichtslosen Einsatzes jeder nur möglichen Technik geht es um angepasste und ›sanfte‹ technische Lösungen. Und schließlich muss der Blick auf das Ganze und auf die tieferen Ursachen von Disharmonie gerichtet werden. (Ferguson 1993)

Natürlich versucht die herrschende Simulationskultur auch diesen Orientierungswandel der Produktionsverhältnisse in kapitalkonforme Bahnen zu lenken. Dieses ›neue Paradigma‹ schwebt also über einem Dschungel, in dem sowohl neoliberale IT-Gurus wie linke Scouts auf der Suche nach gesamtgesellschaftlichen Planungsstrategien unterwegs sind. James Camerons Avatar-Welt symbolisiert das alles auf unvergleichliche Weise. Diesen IT-Dschungel gilt es noch mit einigen Schlaglichtern zu beleuchten.

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Das ›Netz‹ ist ein System lose verknüpfter Computer-Netzwerke, das eine CMC-Technologie (computer-mediated communications) benutzt. Es verbindet Menschen rund um den Globus miteinander, zwecks öffentlicher Diskussion und Informationsaustauschs. Andere Dimensionen dieses Systems dienen der abgeschotteten Kommunikation (Intranets, Finanztransaktionen, Militär) und der Kommunikation zwischen Maschinen. Bei den Internet-Anwendungen hat in den letzten Jahren eine förmliche Explosion stattgefunden. Die Hauptanwendungen sind - meist kommerziell nutzbringend - hochgradig ausdifferenziert worden - man denke an die iPhone- und iPad-Kultur. Im Kern aber hat sich bei den Anwendungen nicht viel geändert: E-Mail, Newsgroups, World Wide Web und Hyper-Text Mark-up-Language (HTML), File Transfer Protocol (FTP), Internet Relay Chat (IRC), MP3 etc., Webcasting/Internet-TV, Telefonie. Für die so entstandene neue Realitätsschicht hat sich der Begriff des Cyberspace eingebürgert. Es ist ein Konzept-Raum, in dem Menschen mithilfe von CMC-Technologien Sprachen, Beziehungen, Daten, auch Formen des Reichtums und der Macht realisieren, die vorher nicht ›da‹ waren. Cyberspace ermöglicht, sagen die Digerati, eine „Economy of Ideas". Information ist eine Aktivität, die man erfahren, sich aber nicht aneignen kann, die man propagieren, aber nicht wirklich (wie andere Güter) vertreiben kann. Information kann zwar zeitweilig zur Ware werden, letztlich aber ist sie ein ›unveräußerlicher Wert an sich‹. Das Wirtschaftsmagazin brand eins titelt 2009 dazu: „Wissen ist der erste Rohstoff, der sich bei Gebrauch vermehrt". An der sich hier zuspitzenden Frage des geistigen Eigentums hängt vieles. Von hier aus lässt sich die Vielfalt möglicher Eigentumsformen neu entdecken und nicht nur über Enteignung und Aneignung, sondern auch über Teilen und Schenken sowie über neue Formen des genossenschaftlichen (des kollektiven) Eigentums nachdenken. „Das Recht auf Wiederaneignung meint zuallererst das Recht auf Wiederaneignung der Produktionsmittel. Die Menge benutzt nicht nur Maschinen zur Produktion, sondern wird auch selbst zunehmend zu einer Art Maschine, da die Produktionsmittel immer stärker in die Köpfe und Körper der Menge integriert sind. In diesem Zusammenhang bedeutet Wiederaneignung, freien Zugang zu und Kontrolle über Wissen, Information, Kommunikation und Affekte zu haben." (Hardt/Negri 2002, 413; vgl dies. 2010) Der Kampf um die Kontrolle des Internet wurde aus genau solchen Gründen ein Weltkrieg mit vielen Schlachtfeldern, Knotenpunkten, Stützpunkten, kapitalistischen und anti-kapitalistischen, kulturvollen und kriminellen Armeen, Partisanen, Terroristen, special forces usw., über die in den Stäben des Cyberspace-Establishments (und Gegen-Establishments) ständig und in immer neuen Kombinationen diskutiert wird (vgl. Krysmanski 2001).

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Eine noch kaum kritisch erschlossene Dimension in diesem Zusammenhang bezieht sich auf das Finanzsystem, dessen Expansion und mögliche Implosion unmittelbar mit der Entwicklung des Internet zusammenhängt. Das kapitalistische Verwertungsverhältnis basiert darauf, dass künstliche Fristen gesetzt, Lebenszeit terminlich fixiert, Eigentumsprämien in ›zeitlich versetzter‹ Weise versprochen, zurückgehalten und eingetrieben werden. Diese vertraglich und spekulativ verfremdete Zeit - in der sich die kapitalistische Grundoperation des Beleihens und Kreditierens vollzieht und ihrerseits erst die „Wertschöpfungsdynamik" zwischen Kapital und Arbeit in Gang setzt (Heinsohn/Steiger 1996) - hat sich durch die Netze so beschleunigt, dass langfristige Planung ein Widerspruch in sich geworden ist und Sekundenbruchteile über Gewinn und Verlust entscheiden. Dabei ist der Hype um einen netzbewirkten enormen Beschleunigungsschub aber irreführend. Denn die Computer, lässt man sie laufen, unterstützen prinzipiell einen anderen Zeitmodus als die vom Kapitalismus genutzte zerstückelte, ›versetzte‹ Zeit. Das Zeitziel der vernetzten Computer ist Realzeit, Zeittransparenz: physikalisch beschleunigte, nicht aber vertraglich und spekulativ ›optimierte‹ Zeit. Im Spannungsfeld zwischen diesem informationstechnologisch aufscheinenden, ›alles mit allem‹ verknüpfenden Zeithorizont auf der einen Seite und dem ›beschleunigten‹, aber zugleich restringierenden Zeitrhythmus der Moderne und Postmoderne auf der anderen Seite spielen heute fast alle sozialen Bewegungsabläufe ›verrückt‹. Vor allem eben auch die Finanzsysteme. Und in der historischen Tendenz werden die pseudobeschleunigten Transaktionen des ›surrealen‹ Finanzkapitals allmählich der eigentlichen informationstechnologischen Logik, die Realzeit und Zeittransparenz verlangt, unterworfen. Für die futures, die Zukunftserwartungen der Börsen, ist das Gift. Dies ist der innere Kern der Finanzkrise. Anders gesagt: Wenn durch die Netztechnologie (wie etwa Google es ansatzweise vormacht) wirklich alle ökonomischen Daten, so wie sie anfallen, für alle Akteure unmittelbar zugänglich werden und aus Fristen und Terminvorteilen (und dem damit verbundenen Herrschaftswissen) keine Profitvorteile mehr gezogen werden können, beginnt in der Tat eine andere Epoche des Wirtschaftens. Dies wäre auch die Bedingung der Möglichkeit gesellschaftlicher Planung.

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Hier wäre nun auch der planetarische und enzyklopädische Blick, seit Diderots Enzyklopädie und Alexander von Humboldts „Kosmos" Teil unserer Kultur, neu zu diskutieren. Er ist die Voraussetzung gesamtgesellschaftlicher Planung und beginnt annäherungsweise mit Wikipedia und vor allem Google das Stadium der 3D-Optik zu erreichen. Auch dieser Blick ist selbstverständlich höchst widersprüchlich. Das zeigt z.B. die Obama-Regierung, indem sie unter der Überschrift „Exports Will Help Open Closed Societies" abgeschirmte Gesellschaften wie den Iran, Kuba [!] und den Sudan durch die Lockerung der Exportbeschränkungen für Onlinedienste wie instant messaging, chat und photo sharing beglücken will. Auch Facebook und Twitter sollen Protestbewegungen beflügeln (vgl. Landler 2010). Derweil droht Google, sicher nur zum Schein, China zu verlassen. Solche Manöver einer geopolitical aesthetic könnten der Anlass sein, einmal im Detail beispielsweise das ›progressive‹ Potenzial der vielen unterschiedlichen Googledienste herauszuarbeiten. „Wir unterschätzen", schreibt die Zeitschrift Wired, „wie sehr die Kraft unserer kybernetischen Werkzeuge in der Lage ist, unsere Köpfe umzubauen. Haben wir wirklich einmal geglaubt, dass wir täglich im Kollektiv virtuelle Welten konstruieren und bewohnen könnten, ohne dass dies unsere Weltsicht verändert? Die Kraft des Online-Sozialismus wächst. Diese Dynamik verlässt die Welt der Elektronen - vielleicht in Richtung Wahlen." (Kelly 2009) Aus der us-amerikanischen Diskussion stammen hierzu auch diese etwas verhaltener klingenden Merksätze (vgl. Chester 2007):

a) Das digitale Mediensystem kann die Rechte der Konsumenten zerstören und zu einem System der Ausspähung der Privatsphäre werden. Wir müssen also die Inhalte und Werkzeuge der neuen digitalen Medien genau beobachten. Gegen die Manipulation des Konsumentenverhaltens und die Unterminierung der Demokratie müssen alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, unabhängige Medien aufzubauen, die spannende Inhalte produzieren und weitgestreut verbreiten.

b) Mit seinen zig Millionen Bloggern, einem nie dagewesenen social networking von der Basis her, mit Millionen Videos usw., die täglich hoch- und runtergeladen werden, entfaltet das Internet eine Dominanz, der TV, Zeitungen, Radio kaum noch standhalten können. Zugleich schlucken die großen Medienkonzerne - wobei man Murdochs News Corporation und den Koloss Google nicht über einen Kamm scheren darf - für ein paar Milliarden Dollar ›mega social networking sites‹ wie MySpace und Youtube.

c) Außerdem beeinflusst hinterm Rücken der User die Werbe- und Marketing-Industrie massiv die Mediengesetzgebung, um den Schutz der online-Privatsphäre zu minimieren. Raffinierte interaktive Video- und Animationsangebote fördern die emotionale Konsumentenbindung. Progressive Medienmacher und Medienpolitiker werden überrollt.

d) So bleibt als kleinster gemeinsamer Nenner einer progressiven Medienpolitik derzeit der Kampf um die Erhaltung der ›Neutralität‹ des Internet - gegen das Monopol der Telefon- und Kabelanbieter, gegen einen gestaffelten Internetzugang (z.B. kostenpflichtiges Web 3.0) und gegen ein System von Internet-Usern erster und zweiter Klasse. Das alles muss einmünden in einen Kampf für demokratische Medien: blogs, new media und citizen journalism.

e) Die Kritik am Medieneigentum und an Medienmonopolen muss ergänzt werden durch eine medienpolitische Reformalternative, welche den Bürgern im digitalen Mediensystem die aktive Partizipation am demokratischen Prozess ermöglicht. Zu diesem Zweck muss die Linke in eigene Medien investieren und diese Medien viel breiter und qualitativ besser gestalten als bisher.

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Das Auf und Ab der New Economy und die damit zusammenhängende Krise des Finanzsystems eröffnen also hinsichtlich des Herrschaftsgeschehens und seiner Klassen- und Elitenbewegungen interessante Ausblicke. Die IT-Eliten kommen auch politisch tatsächlich in Bewegung. Sie treffen und organisieren sich an verschiedenen neuen, bisher gemiedenen Orten, allen voran New York, schließen mit ihren startups und frischem venture capital an die Silicon Valley-Kultur der 1990er Jahre an, haben aber noch mehr im Sinn (vgl. Wortham 2010). Hinzugekommen ist ein spürbarer cyberdemokratischer Gestaltungswille.[4] Und andererseits schwenken traditionelle linke Kräfte, wenn auch zum Teil unter großen Mühen, auf diese Linie ein. So kam es zum Beispiel durch weltweite Netzaktivitäten zu einem „Proposal for a Participatory Socialist International" aus dem Umfeld der Zeitschrift ZMagazine. Im Aufruf zu dieser Partizipatorischen Sozialistischen Internationale werden folgende Schwerpunkte für den Kampf um eine sozialistische Zukunft gesetzt:

a) die ökonomische Produktion, Konsumtion und Verteilung unter Bezug auf die Klassenbeziehungen;

b) die Pflege verwandtschaftlicher Beziehungen, Hauswirtschaft, Pflege des Nachwuches einschließlich Gender-Fragen sowie Fragen der Sexualität und des Alters;

c) kommunale Beziehungen einschließlich Fragen der Rasse, der Nationalität und Religion;

d) Politik einschließlich Fragen der Gesetzgebung und parlamentarischen Entscheidungen;

e) internationale Beziehungen einschließlich gegenseitiger Hilfe, des Austauschs und der Immigration;

f) Ökologie unter Einschluss von Fragen der Erhaltung der Biosphäre und der Artenvielfalt.

Die neue Internationale solle diese Probleme so angehen, dass keiner dieser Schwerpunkte die anderen in den Schatten stellt, da sie alle zusammen erst den Weg in eine neue Welt ermöglichen.[5] Solche demokratischen, dezentralen Kooperationsformen bieten nur die Netze. In diesem Sinne, und vor dem Hintergrund möglichst großer aktiver Internetkompetenz, lässt sich weiterdiskutieren.

Literatur

Chester, Jeffrey, Digital Destiny: New Media and the Future of Democracy, New York 2007

Cockshott, Paul, u. Allin Cottrell, Alternativen aus dem Rechner. Für sozialistische Planung und direkte Demokratie, Köln 2006

Dieterich, Heinz, Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie nach dem globalen Kapitalismus, Berlin 2006

Ferguson, Marilyn, „The Transformation of Values and Vocation", in: M.L.Ray u. A.Rinzler (Hg.), The New Paradigm in Business: Emerging Strategies for Leadership and Organizational Change, New York 1993, 28-34

Hardt, Michael, u. Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung (2000), Frankfurt/M 2002

dies., Common Wealth. Das Ende des Eigentums, Frankfurt/M-New York 2010

Haug, Wolfgang Fritz, „immaterielle Arbeit", in: HKWM 6/I, 2004, 819-32

Heinsohn, Gunnar, u. Otto Steiger, Eigentum, Zins und Geld. Ungelöste Rätsel der Wirtschaftswissenschaft, Reinbek 1996

Jameson, Fredric, The Geopolitical Aesthetic. Cinema and Space in the World System, London 1992

ders., „Fünf Thesen zum real existierenden Marxismus", in: Das Argument 214, 38. Jg., 1996, H. 2, 174-81

ders., „Marx und Montage. Zu Alexander Kluge", in: Das Argument 281, 51. Jg., 2009, H. 3, 464-70

Kelly, Kevin, „The New Socialism: Global Collectivist Society Is Coming Online", in: Wired Magazine, 5.22.2009 (www)

Kroker, Arthur, u. Michael A. Weinstein, Datenmüll. Die Theorie der virtuellen Klasse, Wien 1997

Krysmanski, Hans-Jürgen, Gesellschaftsstruktur der Bundesrepublik, Köln 1982

ders., „Kreative Gemeinschaften im Cyberspace oder: Zivilgesellschaft im Internet", 2001 (www)

ders., Hirten & Wölfe. Wie Geld- und Machteliten sich die Welt aneignen, 2. Aufl., Münster 2009

Landler, Mark, „U.S. Hopes Exports Will Help Open Closed Societies", in: New York Times, 7.3.2010

McLuhan, Marshall, Die magischen Kanäle. Understanding Media (1964), Düsseldorf/Wien 1968

Meretz, Stefan, „Produktivkraftentwicklung und Subjektivität. Vom eindimensionalen Menschen zur unbeschränkt entfalteten Individualität", 1999 (www)

Ray, Michael, u. Alan Rinzler (Hg.), The New Paradigm: Emerging Strategic for Leadership and Organizational Change, New York 1993

Sennett, Richard, „Das Diktat der Politmanager", in: Freitag 32, 12.8.2005, 3

Tjaden, Karl Hermann, „Was soll gesellschaftliche Planung?", in: Forum Wissenschaft, 23. Jg., 2006, H. 4, 49-52

Wagner, Wieland, „China-Kehrtwende. Peking forciert Comeback der Staatswirtschaft", in: Spiegel Online, 18.3.2010 (www)

Wortham, Jenna, „New York Isn't Silicon Valley. That's Why They Like It", in: New York Times, 5.3.2010



[1] Nach Habermas zielt instrumentelle Vernunft einseitig auf die Vergegenständlichung und Beherrschung der Wirklichkeit; akzeptable Grundlage für die Gesellschaftswissenschaften sei auf Konsens und gegenseitiger Anerkennung beruhender Diskurs: kommunikative Vernunft.

[2] „Ich erinnere mich an den Besuch bei einem Freund, der eine große Investmentfirma in New York leitet. Er zeigte mir auf einem großen Computerschirm unzählige Zahlenkolonnen und erklärte: ›Wir verwalten Milliarden von Dollar und wissen ganz genau, wo jeder einzelne Cent im Augenblick steckt. Wir verlassen uns nicht mehr auf irgendwelche Berichte, wir können es jetzt mit eigenen Augen sehen, und zwar in Echtzeit.››" (Sennett 2005, 3)

[3] Bestes Beispiel für eine Weiterentwicklung der PK-Theorie unter den Bedingungen der digitalen Revolution: Hardt/Negri 2002; vgl. auch H.J. Krysmanski 1982, mit dem Versuch, mithilfe der Anwendung des produktivkrafttheoretischen Kategorienschemas den makroökonomischen Planungsstand in der BRD um 1980 transparent zu machen.

[4] Wobei man nicht nur an die schon etwas ältere Praxis des crowd sourcing denken muss.

[5] Siehe: http://www.zcommunications.org/newinternational.htm

 

Erschienen in: Das Argument 286 (3/2010), Gesellschaftliche Planung und solidarische Ökonomie, S. 195-204