„Eine andere Gesellschaft muss liebevoller sein" (Teil 2)

GWR-Redakteur Bernd Drücke und Konstantin Wecker im Gespräch (Teil 2)

Am 21. Februar 2010 trafen sich der Liedermacher, Komponist und Autor Konstantin Wecker und Graswurzelrevolution-Redakteur Bernd Drücke in Kassel zu einem zweistündigen Gespräch. Anknüpfend an den im April in der Graswurzelrevolution Nr. 348 veröffentlichten ersten Teil des Interviews drucken wir nun weitere Auszüge ab. (GWR-Red.)  

Graswurzelrevolution (GWR): Ich glaube an die Vorzüge alternativer Medien. Du bist gerade auf den G8-Gipfel im Juli 2001 in Genua eingegangen. Am 21. Juli 2001 tötete dort ein Carabinieri den 23jährigen Studenten Carlo Giuliani durch zwei ge­zielte Schüsse in Kopf und Brust, 600 Menschen wurden damals bei den Protesten gegen den G8-Gipfel zum Teil schwer verletzt, hunderte willkürlich verhaftet. Geg­nerInnen des globalisier­ten Kapitalismus wurden von Polizisten und paramilitärischen Carabinieri misshandelt, gefoltert und gedemütigt. Mit bis dahin für viele Menschen in einem demokratischen Land wie Italien unvorstellbarer Brutalität ging die Staatsgewalt gegen die überwiegend gewaltfreien 300.000 DemonstrantInnen vor. Das war damals ja Thema, aber eben fast nur in kleinen Al­ternativmedien, zum Beispiel auf indymedia und in der Graswurzelrevolution (Nr. 261 ff.). Ein Freund von mir ist in Genua unglaublich misshandelt worden, auch mit Psychoterror. Die haben die Leute richtig fertig gemacht. Da muss man natürlich Gegendruck herstellen, Gegenöffentlich­keit. Die Alternativmedien erreichen aber leider nicht die große Masse der Bevölkerung. Das ist ein Problem.

Konstantin Wecker: Aber es gibt alternative Medien und die setzen sich auch langsam durch. „Medien von unten" hat das Ignacio Ramonet mal genannt. Ich betreibe ja das Gleiche auf meiner Website: www.hinter-den-schlagzeilen.de

Da versuche ich seit dem Irakkrieg Meinungen zu verlinken, die nicht dem üblichen main­stream angepasst sind.  Mittlerweile schreiben dort auch immer mehr Autorinnen und Autoren selber, die in den üblichen Medien nicht auftauchen. Ein Beispiel: Die Nachdenksei­ten haben es geschafft pro Tag bis zu 50.000 Zugriffe zu haben. Das ist ungeheuer. Aber ich denke, da könnte noch eine größere Vernetzung stattfinden, ein größeres Portal geschaffen werden. 

GWR: Kennst Du Linksnet www.linksnet.de, das linke Politik- und Wissen­schaftsportal von mehr als 40 Alter­nativzei­tun­gen? Das ist auch ein interessantes Internetpro­jekt.

Konstantin Wecker: Linksnet? 

GWR: Ja, da findet sich viel Lesenswertes. Das lohnt sich zu verlinken.  Ich habe gesehen, dass Du auch viele Artikel aus der Graswur­zelrevolution auf www.hinter-den-schlagzeilen.de verlinkt hast. Das freut mich. Auch dieses Schneeballprinzip, das so zum Ausdruck kommt und da­zu beiträgt, dass wichtige Inhalte auch kleinerer Bewe­gungsmedien eine größere Öffentlichkeit bekommen.  Ich denke, dass die Auflage einer Zeitung nicht unbedingt etwas über ihre Qualität und Bedeutung aussagt. Das zeigt ja auch die Geschichte der Al­ternativmedien in der DDR. Ab 1986 waren die Umweltblätter das wichtigste Oppositionsor­gan in der DDR. Die sind mit einer kleinen 600er Auflage angefangen. Aber sie sind von Hand zu Hand weitergereicht und diskutiert worden. Sie haben sehr viel zum Umbruch in der DDR beigesteuert [vgl. GWR 340, 343, 344]. 1987 gab es in der Ost-Berliner Umweltbibliothek eine Razzia, da wurden die angetroffenen Umweltblätter-Redakteure von der Stasi verhaftet. Die Matrizendruckmaschine, Zeitungen und Materialien sind beschlagnahmt worden. Vorher war es die einzige Zeitung in der DDR, die z.B. nach Tschernobyl Strahlenwerte do­kumentiert hat. Sie hat bei­spielsweise auch über Faschoangriffe auf Langhaarige, Punks und Vietnamesen berichtet. Alles wurde unter dem Schutz der Kirche und mit dem Untertitel „Nur zur innerkirchli­chen Information" herausgegeben. Die Umweltblätter waren in gewisser Weise eine Art „DDR-Graswurzelrevoluti­on", ein basisdemokratisches, anarchistisch verfasstes Sprachrohr der Oppositionsszene. Nach der Razzia gab es DDR-weit Protestaktionen gegen die Verhaftungen. Im Westen wurde intensiv darüber berichtet. Deshalb stand plötzlich der Milliardenkredit, den Franz Josef Strauß dem Honecker versprochen hatte, zur Disposition. Es wurde diskutiert, ob man diesem Unrechtsstaat überhaupt noch soviel Geld ge­ben könne. Ho­necker hat dann persönlich die Notbremse gezogen und veranlasst, dass die Umweltblätter-Redakteure freigelassen und alle beschlagnahmten Materialien zurückgegeben werden. Das hat dann wiederum dazu geführt, dass es einen großen Auftrieb für die DDR-Opposi­tionsbewegung gegeben hat, dass überall vergleichbare Be­wegungsblätter und neue Gruppen entstanden sind. Im Grunde war das der Anfang vom Ende der DDR, könnte man sagen. Es hat die Leute mutiger gemacht - „seht her, wir können etwas erreichen in diesem poststalinistischen, militaristischen Staat". Die Umweltblätter hatten eine winzige Auflage, aber eine große Wirkung. 1989 wurden sie in telegraph umbenannt. Sie blieben das wichtigste Organ der Oppositionsbewegung in der DDR, bevor der Westen mit seinen Massenmedien und Parteien kam und das im Grunde alles überrollt hat.  Die Druckqualität der Umweltblätter war unter aller Kanone. Das war unterirdisch zum Teil, also, man konnte die Schrift kaum noch lesen, alles auf Matrize abgezogen. Aber es war eine Zeitung, die Informationen von unten verbreitet hat. 

Konstantin Wecker: Man hat das schon gemerkt als Künstler. Es gab von meiner DDR-Platte damals eine Auflage, und die war, glaub ich, 15.000. Und ich bin überzeugt, dass weit über 100.000 meine Platte oder Bandaufnahmen hatten. Ich habe dann mit denen gesprochen, das war ganz lustig, dann habe ich die gefragt „wieso macht ihr nicht noch eine Auflage?"  „Och, wir sind ein sozialistischer Betrieb und uns geht es nicht ums Geld."  Ich habe es ihnen damals schon nicht geglaubt, dass das der Grund ist.

GWR: Konntest Du denn alle Stücke spielen, die Du spielen wolltest? Auch „Anna, die Anarchie"?

Konstantin Wecker: Ja. Ich ha­be gesagt: „Sonst mache ich es nicht. Ich verdiene keinen Pfennig Geld, wenn ich jetzt auch noch Einschränkungen habe, warum soll ich dann da rüber gehen, dann macht's Euern Kram alleine." Das gab es bei mir nicht. Ich habe singen und sagen können, was ich wollte.  Ich war sehr naiv. Am Anfang wusste ich nicht, warum diese zwei schönen, freundlichen jungen Männer immer dabei waren. Ich habe gedacht, na ja, das ist aber nett, das sind Tourneebegleiter. Dass die höchste Sta­siaufgaben hatten, das war mir nicht klar. Als ich in der DDR bei der Plat­tenfirma Amiga war, da haben wir miteinander geredet. Sie kannten einiges. Meinen „Willi" haben sie toll gefunden. Dann habe ich gesagt, „das, was wir am Ende wollen, das ist doch sowieso die Anarchie. Na, das ist jetzt ein Übergangsstadium, aber dann, wenn wir im Sozialismus sind, dann wollen wir ein herrschaftsfreies System". Das habe ich wörtlich zu denen gesagt. Die haben mich angeschaut, als wenn ich vom Mars käme. Da wusste ich schon direkt, also meine Freunde sind das jetzt nicht. Aber ich konnte tun, was ich wollte. Ich wollte auch Kontakt mit den Menschen in der DDR haben. Und diese zwei Mitarbeiter, die Stasi-Leute, die waren ganz reizend, waren sehr höflich, die waren aber immer dabei. Ich glaube, am liebsten hätten sie noch bei mir im Doppelbett in der Ritze geschlafen. Dann habe ich gesagt, wenn ich nicht einmal mehr ohne euch Kontakt zu den Leuten aufnehmen kann, dann geben wir das Ganze auf. Dann waren sie weg. Ich nehme an, sie waren trotzdem da, irgendwo waren sie sicher. Das habe ich deutlich gespürt. Bei meiner ersten Tournee, da war ein Publikum, da habe ich gedacht, die haben alle Paranoia. Jetzt weiß ich natürlich, dass sie Recht hatten, wenn sie mir immer wieder bei bestimmten Themen sagten: „Wir müssen leise reden." Und dann, ein Jahr vor der Wende, war ich dann noch einmal drüben auf Tour. Da waren die Menschen meines Publikums schon viel mutiger und haben laut und deutlich geschimpft und diskutiert. Da war zu merken, dass der Umbruch eigentlich schon da war. Obwohl man es natürlich noch nicht wissen konnte. Der nächste, für mich sehr traurige Umbruch war dann, wie diese wunderbaren Menschen, die das alles eingeleitet haben, von denen überrollt wurden, die dann „Helmut, Helmut!" ge­brüllt haben.

GWR: Das war eine nationalistische Konterrevolution, die dann eingesetzt hat, als anstelle von „Wir sind das Volk!" plötzlich „Wir sind ein Volk!" gerufen wurde.

Konstantin Wecker: Die Konterrevolution. Ich frage mich ja, ob da nicht ganz bewusst schon vieles eingeleitet wurde, von Agent pro­vocateurs. Wer weiß, wer den ersten „Helmut!" wirklich gerufen hat, ob das wirklich DDR-Bürger waren?

GWR: Ich arbeite gerade an einem Buch über den Anarchismus in der DDR. Dafür habe ich auch Interviews mit Libertären aus der DDR gemacht, zum Beispiel mit Wolfgang Rüdden­klau, einem ehemaligen Redakteur von telegraph und Umweltblättern. 1989/90 war seiner Meinung nach die freieste Zeit des Landes. Tatsächlich ist in dieser Übergangsphase unheimlich viel passiert. Zum Beispiel gab es 1990 allein in Ost-Berlin 130 besetzte Häuser und die erste freie Alternativschule in Leipzig wurde noch im Sommer 1990 ohne offizielles Konzept legalisiert, bevor der DDR-Staat am 3. Oktober 1990 durch die Bun­desrepu­blik geschluckt wurde. Die Freie Schule Leipzig gibt's im­mer noch. Das ist ein großartiges, basisdemokratisches Schulprojekt ohne Noten, da habe ich mal hospitiert.  Ich glaube, es ist wichtig daran zu erinnern, dass im Grunde die sogenannten „Verlierer der Geschichte" den revolutionären Umbruch 1989 eingeleitet haben. Die Konterrevolution hat die Geschichte umgeschrieben.

Konstantin Wecker: Bei meiner ersten Tournee nach der Wende, ein Jahr nachher, habe ich gedacht, ich trau meinen Augen nicht. Ich habe in Leipzig gespielt, im Gewandhaus, und im Foyer waren im Sommer Pelzverkäufer!!  Autohändler, Versicherungshändler und Zuhälter, und natürlich die Banken, das waren die ersten, die sofort nach der Wende ihren Profit gewittert haben. All diese „Kriegsgewinnler" waren sofort da und haben gemerkt, dass man da re­lativ naive Menschen, und das Wort meine ich ganz im po­si­tiven Sinne, ausnehmen kann.  Der Osten wurde zu großen Teilen ausgeplündert und dann wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen.

GWR: 2006 ist ein Konzert von Dir in Halberstadt verhindert worden. Kannst Du dazu etwas erzählen?

Konstantin Wecker: Das war das erste Mal in meiner ganzen Laufbahn, dass ein Konzert nicht stattfinden konnte, weil das braune Pack sich als „kulturelle Hoheit" mehr oder weniger aufgespielt hat, wobei das Wort „Kultur" in Verbindung mit den Neonazis sowieso schon eine Gänsehaut verursacht. Und die haben es eigentlich geschafft, also die Begründung war: Wenn man mich, als sogenannten Linksextremen, in der Halle auftreten lässt, dann müsste man auch einen Sänger der NPD auftreten lassen.  Und jetzt, vor ein paar Tagen, habe ich in der Nähe von Dresden gespielt, da hat die NPD wieder Flugblätter vorm Konzert verteilt. Der NPD-Land­tagsabgeordnete Gansel hat sich persönlich hingestellt und Flugblätter verteilt gegen das „undeutsche Wesen des so ge­nannten Antifaschisten, Ex-Drogenabhängigen und Soft-Porno-Darstellers Wecker".  Ich habe dann nach der Pause das Flugblatt dem Publikum vorgelesen und gesagt: „Dieses Flugblatt haben Sie in die Hand gekriegt. Was da drin steht, stimmt alles. Das Einzige, was nicht stimmt ist, wenn sie schreiben: ‚so jemand darf nicht im Kulturhaus spielen'. Gerade so jemand sollte ins Kulturhaus und die sollen raus."  Die Nazis sind jetzt, nach der erfolgreichen Verhinderung des Nazigroßaufmarsches am 13. Februar in Dresden, natürlich sauer. Da versuchen sie schon, mobil zu machen. Und sie wissen, dass sie bestimmte Gegenden im Griff haben, leider. Das muss man ganz offen sagen. Ich bewundere mein Publikum manchmal sehr, wenn ich da in manchen Ecken Deutschlands spiele, dass sie überhaupt kommen. Also zum Beispiel vor einigen Jahren, da haben Neonazis jeden, der zu mir ins Konzert kam, fotografiert. Und ich meine, die Leute leben dort. Die müssen mit denen auskommen. Ich fahre wieder weiter, aber da gab es bestimmte Gegenden, da wollte ich nicht in die Fußgängerzone gehen oder auf den Marktplatz, weil ich mir gedacht habe, wenn mich einer von denen erkennt, dann schaut's schlecht aus. Wenn es schon so weit kommt, dass man richtig Angst haben muss und manche Leute wirklich Angst vor der körperlichen Gewalt ha­ben, dann heißt es, dass wir noch viele solche Aktionen wie in Dresden machen müssen. 

GWR: Ja, das denke ich auch. Dresden ist in gewisser Weise vorbildlich auch in dem Sinne, dass es das erste Mal war, dass dort diese Spaltung, zum Beispiel zwischen „Antideutschen" und „Anti-Imperialisten", ein Stück weit überwunden werden konnte. Alle Antifas haben an einem Strang gezogen und eine direkte ge­waltfreie Aktion, eben die Mas­senblo­ckade, gemacht. Das ist der richtige Weg, um Nazis zu stoppen.  In Münster hat sich 2005 eine ähnliche Geschichte abgespielt. Da wollten Axel Reitz und andere „autonome Nationalisten", also Nazis, die sich wie Autonome kleiden, einen bundesweiten Aufmarsch in Münster machen. Die haben dann bundesweit mobilisiert. Wir haben natürlich auch mobilisiert. Die sind mit 170 Leuten aus dem Bahnhof rausge­kommen. Das Viertel wurde schon vor­her von der Polizei abgesperrt. Wir sind da zum großen Teil gar nicht mehr reingekom­men, aber im betroffenen Han­sa­vier­tel haben sich direkt 2.500 Leute aus den Häusern auf die Straße gesetzt und gegenseitig untergehakt. Aus den Häusern flogen Eier auf die Nazis. Die sind dann im Eierregen total untergegangen. Der Demo-Anmelder der Neonazis hat sich mit der Polizei angelegt und dann wurde der Naziaufmarsch nach 200 Metern aufgelöst, weil die Polizei sich au­ßerstande sah, die 2.500 blockierenden Antifas zu räumen. Die Faschos mussten also völlig bedröppelt wieder abziehen. 

Konstantin Wecker: Hier herrscht ein größerer allgemeiner Konsens, gegen Nazis zu sein. Keiner würde sich gern nachsagen lassen, dass er Sympathie für die NPD oder die Na­zis hat. Da sind sie sich alle einig. Vor allem wir im linken Lager konnten uns da ja auch einigen mit den verschiedenen Gruppen. Aber wie sieht es aus, wenn es jetzt wieder gegen Krieg geht? Dann wird der Staat hellhöriger, wenn man gegen die NATO ist. Und wie schaffen wir es da, uns auf einen Nenner zu einigen? Denn es gibt ja viele, die Pazifismus nicht unbedingt für erstrebenswert halten, sondern der Meinung sind, dass „für die gerechte linke Sache" auch ein „gerechter linker Krieg" geführt werden muss. Und da lass ich mit mir nicht verhandeln. Ich bin Pazifist und glaube, dass es nur eine gewaltfreie Welt ohne Kriege und männlichen Überlegenheitswahn geben kann - oder eben bald gar keine Welt mehr.

Interview: Bernd Drücke

Der dritte Teil dieses Interviews erscheint im Juni 2010 in der Graswurzelrevolution Nr. 350.

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 349, 39. Jahrgang, Mai 2010, www.graswurzel.net