Protektorat Griechenland

Das ressentimentgeladene Rauschen im Blätterwald ist Begleitmusik zur Durchsetzung des EU-Stabilitätspaktes

Griechenland steht am Rande des wirtschaftlichen Ruins. Obwohl dies lange bekannt ist, überschlagen sich plötzlich die Printmedien und das Land kommt seit Wochen nicht aus den Schlagzeilen: „Abgebrannt am Mittelmeer" (Zeit, 14.01.), „Sprengstoff in der Währungs­union" (FAZ, 29.01.), „Supermacht Griechenland" (junge Welt, 01.02.), „Vor dem Ruin" (Frankfurter Rundschau, 11.02.), „Europäische Schocktherapie" (Jungle World, 18.02.).

Berichtet wird von schwindelerregenden Defiziten, gefälschten Statistiken, drohendem Staatsbankrott und Generalstreiks. „Die Griechen", so das in den bürgerlichen Medien vermittelte Bild, sind korrupt und faul, haben jahrzehntelang über ihre Verhältnisse gelebt, um danach ausgeruht mit 50 in Frührente zu gehen. In Erwartung rettender deutscher Steuergelder besitzen sie jetzt zusätzlich die Frechheit, gegen dringend gebotene Lohnkürzungen zu streiken. Neid-Nationalismus!

Am 24. Februar 2010 dann der Höhepunkt. Unter der Überschrift „Betrüger in der Euro-Familie" streckt auf dem Titelblatt des Focus die Aphrodite von Milos den EU-Bürgerinnen und -Bürgern den Stinkefinger entgegen. Woraufhin die rechte Athener Tageszeitung Eléf­theros Týpos ähnlich niveauvoll die Berliner Siegessäule mit Hakenkreuz ab­bildet und über „Finanz-Nazi­tum" faselt. Die linksliberale Eleftherotypía übertitelte ein Bild von Angela Merkel und Ministerpräsident Giórgos Pa­pandréou mit „Heil Sparmaßnahmen".

Im Innenteil wird da­ran erinnert, dass Deutschland sich noch immer weigere, seine Milliar­denschulden in Form von Reparationszahlungen für die Verbrechen der Wehrmacht in Griechenland zu begleichen.   Das ressentimentgeladene Rauschen im Blätterwald ist die Begleitmusik zur knallharten Durchsetzung des Stabilitäts- und Wachstums­paktes in der Europäischen Union. Denn in der EU-Kommission geht die Angst vor einem Auseinander­brechen der Eurozone um. Nicht nur die griechische Schuldenkrise gefährdet die Stabilität der Gemeinschaftswährung, sondern der als Domino-Effekt befürchtete Bankrott in weiteren Mitgliedstaaten. Das auch in der Krise währungspolitisch weitgehend stabile Kerneuropa um Deutschland und Frankreich will die schwächelnde Peripherie - Irland, Portugal, Spanien, Italien, Griechenland - auf Kurs halten. Und Griechenland, als sozusa­gen illegitimes Kind der Euro-Zone, das ihr eigentlich nach Meinung vieler gar nicht angehören dürfte, da es beim Beitritt 2001 die Statistiken geschönt hatte, eignet sich wie kein anderes Land für eine Strafaktion. Erst recht, wenn schon die Ankündigung eines Sparpro­gramms zu Streikwellen führt, wie im Januar und Februar. Kurzum: An Griechenland soll ein Exempel statuiert werden. Das Land wird in der Wirtschafts- und Finanzpolitik qua­si unter Zwangsverwaltung ge­stellt und die Regierung gezwungen, ein radikales Sparpa­ket durchzusetzen. Das Schul­dendefizit soll vor allem durch Sozialabbau, Lohn- und Ren­tenkürzungen gedrückt werden. Der massiv von den europäischen Partnern ausgeübte Druck zielt deshalb auch darauf ab, der sozialdemokratischen Pasok-Regierung unter Papandréou bei der geplanten Schocktherapie gegen die eigene Bevölkerung den Rücken zu stärken. Niemand wäre zur Durchsetzung der Einschnitte besser geeignet als die Sozial­demokratInnen mit ihrem Machtapparat in den großen, staatstragenden Gewerkschaften. Hinzu kommt das hohe Ansehen Papandréous, der als ehrlicher Makler und über jeden Korruptionsverdacht erhaben gilt. So sollen Deregulie­rungsmaßnahmen, die in den letzten zwei Jahrzehnten am ent­schlossenen gesellschaftlichen Widerstand scheiterten, nun in Zeiten der Krise auf einen Schlag durchgesetzt werden. Möglicherweise setzt die EU darauf, dass der drohende Zusammenbruch der griechischen Wirtschaft lähmend auf die Bevölkerung wirkt und den Widerstand gegen die angekündigte Enteignung öffentlichen Eigentums entscheidend schwächt. In Anbetracht der sowieso instabilen innenpolitischen Situation ein Jahr nach den sozialen Unruhen in Folge der Ermordung des 15jährigen Aléxandros Grigorópoulos durch Polizeibeamte in Athen, ein zumindest gewagtes Spiel. Wodurch sich der Gedanke aufdrängt, dass durch die Härte der geforderten Einschnitte ein erneuter sozialer Aufruhr gera­dezu provoziert werden soll.

Dass bei dessen Niederschlagung auch Tote kaltblütig mit einkalkuliert werden, kann beim allseits bekannten Agieren der griechischen Polizei getrost vorausgesetzt werden. Da aus Sicht der EU radikale Haus­haltskürzungen unabdingbar sind, wäre es auf diese Weise möglich herauszufinden, wie weit man im vereinten Europa gehen kann. Zum anderen könnte all jenen, die der neoliberalen Schockstrategie potentiell Widerstand entgegensetzen - also Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, der politischen Linken und der anarchistischen Bewegung - eine exemplarische Niederlage beigebracht werden. Ei­ne Art demokratisch verbrämter Aufstandsbekämpfung niederer Intensität also, die eine anhaltende prophylaktische Besetzung widerständiger Stadtteile wie Exárchia in Athen (siehe GWR Nr. 345) ebenso mit einschließt wie den extensiven - straflosen - Schusswaffengebrauch der Polizei. Jüngstes Opfer einer „gelungenen Polizeiaktion" (Athens Polizeipräsident) ist ein 25jähriger Installateur albanischer Herkunft, der am 16. Februar im Athener Stadtteil Výrona unter­wegs war. Von neun Kugeln regelrecht durchsiebt, bezahlte er die Festnahme zweier gesuchter Krimineller mit dem Leben, da er laut Polizei „unglücklicher­weise ins Kreuzfeuer" geriet. Sämtliche Projektile in seinem Körper stammten wohlgemerkt aus Polizeiwaffen. Eine Protestdemonstration gegen den „Poli­zeimord" von knapp 2.000 Menschen im Stadtteil wurde von MAT-Einheiten und der berüchtigten Delta-Motorradtrup­pe mit Tränengas und Schlagstöcken angegriffen. Mehrere Verletzte und Verhaftete, die sich wegen „Widerstands" verantworten sollen, sind zu beklagen.    

Das Sparprogramm

Die am 5. März 2010 von der Regierung verkündeten Einschnitte übertrafen tatsächlich die schlimmsten Befürchtungen. Angekündigt wurden die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 19% auf 21%, höhere Steuern auf Benzin (Preis steigt 12 Cent/Liter), Tabak (steigt 1 Eu­ro/Packung) und Alkohol (steigt um 20%/Flasche), die Kürzung der Gehälter im Öffentlichen Dienst um 12%, bei zusätzlicher Kürzung des 13. und 14. Monatsgehalts um 30%, so­wie die Verlängerung der Le­bensarbeitszeit um zwei Jahre. Momentan gehen GriechInnen durchschnittlich mit 61 Jahren in den Ruhestand. Die Renten werden für fünf Jahre eingefroren, der Bildungsetat - schon jetzt der niedrigste der EU - wird weiter gekürzt. Die Maßnahmen, die fast ausschließlich die breite Bevölke­rungsmasse treffen, werden ab­gerundet durch die Erhöhung der Strom- und Wasserpreise. Mit der Neueinführung einer Luxussteuer auf Nobelkaros­sen, Yachten und Hubschrauber und einer Sonderabgabe von 1% auf Großgrundbesitz und Einkommen über 100.000 Euro im Jahr wird der Klassengerechtigkeit genüge getan. Keinerlei Hindernis scheint der drohende Staatsbankrott für die weitere Aufrüstung des Mi­litärs darzustellen. Beliefert von EU-Staaten - unter anderem der BRD - wird sich Griechenlands Armee für Milliardensummen neue Fregatten, Kampfflugzeuge und anderes Kriegsgerät zu­legen. Das Land gibt 4,3% des Bruttoinlandprodukts für das Militär aus und stand 2006 bei Rüstungsausgaben pro Kopf auf Platz 12 weltweit.

Protest und Widerstand

Während es bereits in der Nacht zuvor Attacken auf Banken, Po­lizeiwachen und luxuriöse Einkaufszentren gegeben hatte, kam es am 5. März, nach Ver­kündung der geplanten Einschnitte, zu wütenden Demos und Zusammenstößen mit den staatlichen Repressionskräften. Bei einer von Basisgewerk­schaften, Betriebsgruppen, AnarchistInnen und Linksradikalen getragenen Demo von bis zu-8.000 Menschen in Athen wurde der 87jährige antifaschistische Veteran Manólis Glézos von Beamten eines MAT-Einsatzkommandos vor dem Parlament schwer verletzt. Glézos hatte während der faschistischen Besatzung Griechenlands die Hakenkreuzfahne von der Akropolis geholt und durch die griechische Na­tionalfahne ersetzt. Er gilt seitdem als Nationalheld.

Auf einer Kundgebung hatten wütende Arbeiter zuvor den Vorsitzenden des Gewerk­schaftsdachverbands GSEE, Giánnis Panagópoulos, mit Joghurt und Kaffee beworfen, ihn als „Verräter" am Reden gehindert und mit Schlägen vom Mikrofon gejagt. Dem Sozialdemokraten Panagópoulos wird par­teipolitisches Taktieren und die Spaltung der Streikbewegung vorgeworfen.

Während sich Betriebsgrup­pen, Basisgewerk­schaften und die anarchosyn­dikalistische ESE in den letzten Wochen erfolglos für die Ausrufung eines unbegrenzten Generalstreiks stark machten, verkündete die GSEE einen 24stündigen Generalstreik am 11. März. Die Beamtengewerk­schaft ADEDY ihrerseits streikt am 16. März. Diese als „revolutionäre Gymnastik" bekannten eintägigen Generalstreiks dienen nach Aussage der Kritiker einzig der Entspannung der La­ge durch das kontrollierte Ablassen von Wut. Direkte Aktionen wie die kurzzeitige Besetzung der Staatsdruckerei durch die Arbeitenden sind bisher Einzelfälle. Da Gesetze nur Gültigkeit erlangen, wenn sie vor der Parla­mentsabstimmung im Amtsblatt veröffentlicht wurden, zielte die Besetzung auf die Sabotierung des Drucks der Parlamentsvorlage ab. Ebenfalls am 5. März wurden in Ioánnina auf einer Demo von 700 Menschen die Überwach­ungskameras in der Innenstadt zerstört. Brennende Barrikaden und Auseinandersetzungen mit der Polizei gab es in Thessa­loníki. In Vólos plünderten An­archistInnen einen Supermarkt und verteilten die erbeuteten Waren auf dem Wochenmarkt. Die Streiks verschiedener Be­rufsbranchen gehen weiter. Obwohl viele Menschen nun folgende Lohnkürzungen auch im privaten Sektor befürchten, zeigen Umfragen, dass die Bevölkerung gespalten ist. Viele sehen zumindest Teile des Sparprogramms - Einschnitte im Öf­fentlichen Dienst - als gerechtfertigt an. Knapp 800.000 Grie­chInnen (20% der arbeitenden Bevölkerung) sind beim Staat beschäftigt. Jahrzehntelang wurden treue ParteisoldatInnen mit BeamtInnenposten belohnt. Unter dem Stichwort „Rousféti" versorgten Abgeordnete, Bürgermeister, Präfekten und Gemeindevorsteher ih­re UnterstützerInnen mit Arbeitsstellen. Nicht persönliches Wissen oder besondere Leistungen, sondern Loyalität zum Parteibonzen war das Kriterium. Das Ergebnis ist ein aufgeblähter öffentlicher Dienst, der Dank konzentrierter Inkompetenz jede/n zum Wahnsinn treibt und bisher alle Reformversuche abwürgte. Wenig  positive Resonanz erfährt die angekündigte Bekämpfung der Steuerhinterziehung. Steuerhinterziehung ist in Griechenland weder die Ausnahme noch ein Privileg der Reichen, sie gehört schlicht zum Alltag. Beim Kaufmann oder im Hotel gibt es keine Quittung, in den meisten kleinen und mittelgroßen Läden existieren immer zwei Preise: mit und ohne Mehrwertsteuer. Beim Arzt, der Architektin oder Anwältin sind reguläre Rechnungen die Ausnahme. Die meisten haben immer Steuern hinterzogen und den Staat als korrupten Feind betrachtet, der kei­ne Gegenleistung für Zahlungen erbringt. Das Großkapital hat so immens hohe Gewinne erzielt, Handwerker kamen gut über die Runden und Klein­händlerInnen konnten zumin­dest ihren Lebensunterhalt bestreiten. Da nun scheinbar die ganze EU auf die „korrupten Griechen" schaut, deren Finanzen aus dem Ruder laufen und die Stabilität des Euro gefährden, appelliert die Regierung an den „Gemeinsinn" der Bevölkerung. Es soll nicht nur exemplarische Strafen für Steuerhin­terzieherInnen geben, auch soziale Kontrolle und Denunziation werden gefördert. Vorgesehen sind Steuernachlässe und Prämien für BürgerInnen, die Quittungen verlangen und mutmaßliche HinterzieherInnen anschwärzen. Völlig ausgeklammert wird in der Debatte, dass die „Schattenwirtschaft" für gut ein Viertel der Bevölkerung mittlerweile fast die einzige Exis­tenzgrundlage darstellt. Auch dass PolitikerInnen der beiden großen Parteien Pasok und Néa Dimokratía, die seit dem Ende der Diktatur 1974 samt Hofstaat und angeschlossenem Großkapital abwechselnd regieren, nur damit beschäftigt waren, sich zu bereichern und Posten im Staatsapparat an Parteimitglie­der, Freunde oder Verwandte zu verteilen, ist nach wie vor kein Thema.

Nachtrag:

Ein erneutes Todesopfer ist seit den Morgenstunden des 10. März 2010 zu beklagen. Im Athe­ner Stadtteil Dáfni wurde der 35jährige Anarchist Lámbros Foúndas um 5 Uhr in der Früh laut Polizei „bei einem Schusswechsel" erschossen. Warum es dazu kam, ist momentan unbekannt. Die Polizeibeamten berichten von einer weiteren Person, die unerkannt flüchtete. Foúndas war seit der Schü­lerInnenbewegung 1990/91 in der anarchistischen Bewegung aktiv. Am Generalstreik des 11. März beteiligten sich nach Gewerk­schaftsangaben mehr als 2 Millionen Menschen. Es kam zu Demonstrationen in allen größeren Städten des Landes. Allein in Athen waren knapp 100.000 DemonstrantIn­nen auf der Straße, die sich zum Teil schwere Auseinandersetzungen mit der Polizei lieferten.

Ralf Dreis, Wiesbaden/Thessaloníki

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 348, April 2010, www.graswurzel.net