Historische Gerechtigkeit oder geschichtspolitisches Alibi?

Der Prozess gegen Iwan »John« Demjanjuk

 Im Münchner Justizzentrum an der Nymphenburger Straße spielten sich am Vormittag des 30. November 2009 tumultartige Szenen ab. Im Eingangsbereich drängten sich Dutzende Journalisten aus aller Welt. Einige von ihnen waren bereits um 4.30 Uhr am Gerichtsgebäude eingetroffen. Den Anlass für das riesige Medieninteresse lieferte die Eröffnung des seit langem erwarteten Prozesses gegen Iwan »John« Demjanjuk vor dem Landgericht München II. Die Staatsanwaltschaft wirft dem mittlerweile 89 jährigen gebürtigen Ukrainer »Beihilfe zum Mord« vor. Als Wachmann im Vernichtungslager Sobibor soll er zwischen März und September 1943 an der Ermordung von mindestens 27.900 Jüdinnen und Juden beteiligt gewesen sein. Der eigentlich für 10.00 Uhr angesetzte Sitzungsbeginn verzögerte sich aufgrund penibler Einlasskontrollen und der Tatsache, dass im Gerichtssaal A 101 für die rund 270 akkreditierten Journalisten lediglich 68 Plätze zur Verfügung standen um gut eine Stunde.
 
Mehr als vier Jahrzehnte zuvor am 6. September 1965 hatte die Eröffnung des bis heute umfangreichsten »Sobibor«-Prozesses vor dem Landgericht Hagen gegen 12 ehemalige SS-Offiziere des Vernichtungslagers ein ungleich geringeres öffentliches Interesse auf sich gezogen, obgleich es hier auch um »gemeinschaftlichen Mord« bzw. »Beihilfe zum Mord« in über 150.000 Fällen ging. Gegen Ende des Verfahrens, das fast 16 Monate dauern sollte, verlor sich nicht einmal mehr eine Handvoll Journalisten im Gerichtssaal.
 
Auch wenn das Interesse an dem auf 36 Verhandlungstage angesetzten Demjanjuk-Prozess in den vergangenen Wochen erkennbar nachgelassen hat, offenbart der Medienhype im Vorfeld und zu Beginn des Verfahrens auf grundlegende Veränderungen im öffentlichen Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus im Vergleich zu den 1960er Jahren. Mussten engagierte Journalisten damals regelrecht gegen eine Bevölkerungsmehrheit von annährend 70 Prozent anschreiben, die eine weitere Strafverfolgung von NS-Verbrechen ablehnte, scheinen zumindest in der offiziösen Erinnerungs-kultur der »Berliner Republik« Schuldabwehr und Schlussstrichforderungen vielfach einem ostenta-tiven Bekenntnis zur Shoa gewichen zu sein. Darauf verweisen aufwendig begangene Gedenktage wie der 27. Januar oder der 8. Mai ebenso wie die Errichtung des Mahnmals für die ermordeten Juden Europas im Herzen Berlins. Gleichzeitig erweckt der Prozess gegen Demjanjuk den Eindruck, als habe auch die bundesdeutsche Justiz aus den Versäumnissen der Vergangenheit gelernt. Ist in der zeithistorischen Forschung mit Blick auf die juristische Ahndung von NS-Verbrechen gemeinhin von einer »trostlosen Bilanz« (Stefan Klemp) oder einem »Desaster« (Norbert Frei) die Rede, scheinen Richter und Staatsanwälte nun keine Mühen zu scheuen, selbst hochbetagte mutmaßliche Täter wie Demjanjuk vor Gericht zu bringen. Gerade der Fall Demjanjuk macht aber auch die erinnerungskulturellen, geschichtspolitischen und juristischen Ambivalenzen dieser Entwicklung deutlich. Während einerseits besonders die Überlebenden der Shoa, deren Angehörige und Rechtsanwälte die Bedeutung des Prozesses betonen und darauf hinweisen, dass in München der »letzte lebende Täter von Sobibor« vor Gericht stehe, sind andererseits auch Stimmen laut geworden, die aus unterschiedlichen Motiven das Verfahren kritisieren. Vor allem zwei Punkte stehen hier im Vordergrund. Zum einen die Frage nach den Handlungsspielräumen, die ein aus einem Kriegsgefangenenlager rekrutierter »Hilfswilliger« wie Demjanjuk tatsächlich wahrnehmen konnte. Zum anderen die Feststellung, dass dem Prozess vor allem eine geschichtspolitische Alibifunktion zukomme, da die eigentlichen Organisatoren des Massenmords, die der SS angehörenden deutschen Ausbilder Demjanjuks im Jahr 1976 vom Landgericht Hamburg allesamt mit teilweise haarsträubenden Begründungen freigesprochen worden waren. Im Folgenden soll es daher um drei Aspekte gehen. Zunächst ist nach den historischen Umständen und den möglichen Motiven zu fragen, die Demjanjuk zu einem mutmaßlichen Handlanger der NS-Vernichtungspolitik machten. Zweitens sollen die Entwicklungslinien und die offenkundigen Defizite der juristischen Vergangenheitsbewältigung näher betrachtet werden. Drittens ist die erinnerungskulturelle Bedeutung des Demjanjuk-Prozesses zu diskutieren.
 
Opfer oder Täter? Die »Trawniki«-Männer
 
Iwan Demjanjuk wurde im Jahr 1920 geboren und wuchs in ärmlichen Verhältnissen in einem ukrainischen Dorf auf. Nachdem er 1940 zur Roten Armee eingezogen worden war geriet er im Jahr 1942 in deutsche Kriegsgefangenschaft. Von Beginn an führte die Wehrmacht ihren im Juni 1941 begonnenen Feldzug gegen die Sowjetunion als Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg ohne völkerrechtliche Beschränkungen. Dies zeigte sich besonders im Umgang mit den sowjetischen Kriegsgefangenen, die zu Hunderttausenden in Lagern oftmals unter freiem Himmel oder in primitiven Erdlöchern, die zuvor von den Rotarmisten selbst ausgehoben werden mussten, zusammengepfercht wurden. Ebenso katastrophal war deren Verpflegung. Aus zahlreichen hinter der Front aber auch auf dem Gebiet des Deutschen Reiches eingerichteten Lagern wird berichtet, dass sich die ausgehungerten Gefangenen teilweise von Baumrinden und Gras ernähren mussten. Die Sterblichkeitsraten nahmen aufgrund von Kälte, Entkräftung und Krankheiten dramatische Ausmaße an. Von den rund 5,7 Millionen Rotarmisten, die zwischen 1941 und 1945 in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren, überlebten mindestens 3,3 Millionen die Torturen der Lager nicht. Nach den Jüdinnen und Juden bildeten die in die Hände der Wehrmacht geratenen sowjetischen Soldaten die zweitgrößte Opfergruppe der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik.
 
Allerdings eröffnete sich allem für Balten, Ukrainer und so genannte Volksdeutsche unter den Kriegsgefangenen im Laufe des Jahres 1941 eine Möglichkeit, den todbringenden Lebensbedingungen der Lager zu entrinnen. Ausbilder von SS und Polizei begannen damit, unter den deutschstämmigen und nichtrussischen Soldaten »Hilfswillige« zu rekrutieren, denen die Aufgabe zukam, den bereits hinter der Front angelaufenen deutschen Vernichtungsapparat zu unterstützen. In diesem Zusammenhang wurde im Sommer 1941 am Rande der ca. 30 Kilometer südöstlich von Lublin gelegenen Ortschaft Trwaniki ein SS-Ausbildungslager errichtet, in dem »fremdvölkische« Einheiten auf ihre Einsätze vorbereitet werden sollten. Bis zu dessen Auflösung im Sommer 1944, durchliefen insgesamt zwischen 4000 und 5000 Kriegsgefangene das Lager, die anschließend als »Trawniki«-Männer an verschiedenen Schauplätzen, vor allem aber im Generalgouvernement zum Einsatz kamen. Einer von ihnen war Iwan Demjanjuk.
 
Die Ausbildung lag vorwiegend in der Verantwortung von SS-Offizieren um den Lagerkommandanten, SS-Sturmbannführer Karl Streibel. Sie unterteilte sich in eine militärische Formalausbildung sowie in eine Spezialausbildung, die vor allem das Vorgehen bei Razzien und Deportationen umfasste. Dementsprechend sahen die Einsatzfelder der »Trawniki« aus. Sie wurden als Unterstützungskräfte bei Massenerschießungen ebenso herangezogen wie zu Durchsuchungen oder zur Bewachung von Deportationszügen. Das Personal der Vernichtungslager der Aktion Reinhard, Sobibor, Treblinka und Belzec, bestand zu großen Teilen aus »Trawniki«, die unter dem Kommando der SS die Mordmaschinerie funktionsfähig hielten, indem sie die ankommenden Jüdinnen und Juden aus den Waggons trieben und die Dieselmotoren in Gang setzten, mit deren Abgasen, die Opfer getötet wurden.
 
Nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft München war auch Demjanjuk maßgeblich in den Vernichtungsapparat mit eingebunden, indem er zwischen März und September 1943 als Wachmann in Sobibor seinen Dienst versah. In dem Lager, dessen Zweck ausschließlich in der systematischen Vernichtung von Menschen bestand, wurden in der Zeit von April 1942 bis Oktober 1943 mindes-tens 250.000 Jüdinnen und Juden ermordet. Die Zahl des Lagerpersonals war indessen recht über-schaubar, bestand es doch aus lediglich 30 SS-Männern und bis zu 120 »Trawniki«. Auf dieser Feststellung gründet auch die Argumentation der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger im Fall Demjanjuk. So betont Rechtsanwalt Cornelius Nestler, der in dem Prozess die überlebenden Opfer des Vernichtungslagers vertritt, dass es nicht notwendig sei, in dem Verfahren Demjanjuk individu-ell »Beihilfe zum Mord« nachzuweisen, da der »alleinige Daseinszweck der Trawniki-Männer im Lager Sobibor« darin bestanden habe, »möglichst reibungslos eine große Anzahl an Juden umzu-bringen.«
 
Diese Auffassung erscheint schlüssig, dennoch erübrigt sich dadurch die Frage nach den Handlungsspielräumen der »Trawniki« nicht. Einerseits erscheint deren Entscheidung, sich den elenden Zuständen in den Kriegsgefangenenlagern der Wehrmacht durch »freiwillige« Kollaboration mit dem deutschen Machtapparat nachvollziehbar. In diesem Kontext ist zudem darauf hinzuweisen, dass die »Trawniki« zu keinem Zeitpunkt einen eigenständigen Status gegenüber der SS besaßen. Vielmehr waren die »Hilfswilligen« einem strengen Reglement unterworfen, das schon bei geringstem Anschein von abweichendem Verhalten strengste Strafen bis hin zur Hinrichtung vorsah. Andererseits waren die Handlungsmuster der »Trawniki« keineswegs gleichförmig. Zweifellos heben zahlreiche Zeitzeugenberichte und andere Quellen den weit verbreiteten Antisemitismus unter den »Trawniki« ebenso hervor, wie deren oftmals exzessive Gewalttätigkeit. Die Historikerin Angelika Benz urteilt daher, dass der »Massenmord an den Juden ohne eine ausführende Gruppe höchst brutaler Helfer« nicht hätte stattfinden können. Jedoch gab es offenkundig auch eine größere Anzahl von »Trawniki«, die desertierten und sich auf diese Weise der Beteiligung an der deutschen Vernichtungspolitik entzogen. Diese Zwiespältigkeit zeigte sich auch während des Aufstands jüdischer Häftlinge und sowjetischer Kriegsgefangener in Sobibor im Oktober 1943, in dessen Folge fast 300 Menschen aus dem Lager fliehen konnten. Einige der »Trawniki« schlossen sich im Verlauf der Revolte der Widerstandsgruppe an. Der größere Teil unterstütze jedoch die SS bei der Niederschlagung des Aufstandes. Zu ihnen gehörte offenkundig auch Iwan Demjanjuk.
 
Nachdem das Vernichtungslager im Oktober 1943 aufgelöst worden war, wurde er als Wachmann in das KZ Flossenbürg versetzt. Das Ende des »Dritten Reichs« und die unmittelbare Nachkriegszeit erlebte Demjanjuk in Bayern. Er wurde als Displaced Person anerkannt und beantragte ein Einreisevisum in die USA – wobei er freilich seine Tätigkeit in Sobibor und Flossenbürg verschwieg. Im Januar 1952 konnten Demjanjuk und seine Familie in die Vereinigten Staaten ausreisen. Sie ließen sich in Ohio nieder und erhielten 1958 die amerikanische Staatsbürgerschaft.
 
Die Vergangenheit holte Demjanjuk erst Ende der 1970er Jahre wieder ein. 1979 war mit dem Office for Special Investigation (OSI) eine dem Justizministerium unterstehende Einrichtung geschaffen worden, deren Aufgabe darin bestand, in den USA untergetauchte Kriegs- und NS-Verbrecher aufzuspüren. Die OSI-Fahnder stießen bei ihren Recherchen auf eine Reihe von ehemaligen »Trawniki«, darunter auch Iwan Demjanjuk, der sich mittlerweile »John« nannte. Ein in einem Prozess in der Sowjetunion Beschuldigter hatte ausgesagt, gemeinsam mit Demjanjuk in Sobibor und Flossenbürg gewesen zu sein. Weitere Zeugen, die vom OSI befragt worden waren, konnten diese Behauptung zwar nicht bestätigen, wollten in ihm aber »Iwan den Schrecklichen«, einen berüchtigten »Trawniki« aus dem Vernichtungslager Treblinka erkannt haben. 1981 wurde in den USA erstmals ein Prozess gegen Demjanjuk eröffnet, der zwar nicht mit einer Verurteilung wegen der mutmaßlich von ihm begangenen Verbrechen endete – das ließen die bestehenden Gesetze nicht zu - wohl aber die Aberkennung der amerikanischen Staatsbürgerschaft zur Folge hatte. Im Jahr 1986 wurde er schließlich nach Israel ausgeliefert, wo er sich 1987 in Jerusalem vor Gericht verantworten musste. Der Prozess endete mit einem Todesurteil. Das Gericht wie auch große Teile der Öffentlichkeit waren davon überzeugt, dass es sich bei Demjanjuk um »Iwan dem Schrecklichen« aus Treblinka handeln müsse.
 
Der Oberste Gerichtshof Israels kassierte jedoch im Jahr 1992 das Urteil, nachdem erhebliche Zweifel an Demjanjuks Identität aufgekommen waren. Er konnte in die USA zurückkehren und erhielt erneut die amerikanische Staatsbürgerschaft, die ihm jedoch knapp zehn Jahre später wieder aberkannt wurde. Mittlerweile galt den US-Behörden der Einsatz Demjanjuks zwar nicht in Treblinka, wohl aber in Sobibor und Flossenbürg als erwiesen. Jedoch brachte erst ein im März 2009 vom Amtsgericht München erlassener Haftbefehl gegen Demjanjuk wieder Bewegung in die Angelegenheit. Zwei Monte später wurde er in die Bundesrepublik abgeschoben, wo die Staatsanwaltschaft München im Juli Anklage wegen »Beihilfe zum Mord« in 27.900 Fällen erhob.
 
Freisprüche für die Drahtzieher der Vernichtung
 
Als Anfang der 1980er Jahre das juristische Tauziehen um Demjanjuk begann, durften sich die meisten seiner ehemaligen SS-Ausbilder und Kommandeure, sofern diese noch lebten, ihrer Freiheit erfreuen, ohne allzu große Sorgen vor etwaigen Nachstellungen der Strafverfolgungsbehörden haben zu müssen. Bereits im Jahr 1971 war von der Staatsanwaltschaft Hamburg ein Ermittlungsverfahren gegen Karl Streibel und fünf seiner ehemaligen Unterführer aus dem SS-Ausbildungslager Trawniki wegen »gemeinschaftlichen Mordes« eingeleitet worden. Staatsanwältin Helge Grabitz ging davon aus, dass die Beschuldigten an der vorsätzlichen und heimtückischen Ermordung von mindestens 850.000 Menschen in Belzec, Treblinka und Sobibor durch die Abstellung von »Trawniki«-Männern in die Vernichtungslager mitgewirkt hatten. Der Prozess vor dem Landgericht Hamburg zog sich über vier Jahre hin und endete im Juni 1976 mit Freisprüchen für alle sechs Angeklagten. Das Verständnis, das die Richter Karl Streibel und seinen vormaligen Offizieren entgegenbrachten schien nahezu grenzenlos zu sein. So sei es dem früheren Kommandanten des SS-Ausbildungslagers nicht nachzuweisen, dass er vor 1942 von der Judenvernichtung gewusst habe, hieß es beispielsweise in der Urteilsbegründung. Nach dieser Logik hatte Streibel mit der Entsendung der Trawniki in die Vernichtungslager gar nicht »vorsätzlich« gehandelt, da er über deren Verwendung angeblich nichts wissen konnte. Aber auch der Auffas-sung, die Jüdinnen und Juden seien »heimtückisch« ermordet worden, wollten sichedie Richter nicht anschließen. Diese hätten ja durch kursierende Gerüchte das ihnen bevorstehende Schicksal erahnen können. Das Tatmerkmal der »Heimtücke« sei daher auszuschließen.
 
Der geradezu atemberaubende Zynismus, der in hier deutlich wird, war keineswegs untypisch für die Urteilspraxis bundesdeutscher Gerichte in NS-Verfahren. Es waren vor allem zwei von Richtern und Staatsanwälten bis in die 1970er Jahre weithin geteilte Interpretationsmuster nationalsozialistischer Verbrechen, die sich in zahlreichen Fällen als entlastend für die Angeklagten erweisen sollten. Zum einen wurde in vielen NS-Verfahren formelhaft auf Adolf Hitler, Heinrich Himmler, Hermann Göring und Reinhard Heydrich verwiesen, die nach Auffassung der Gerichte, aber auch der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, als die eigentlichen Protagonisten der Verbrechen galten. Diese Sichtweise suggerierte, dass alle anderen Täter, selbst hochrangige SS-Offiziere, allenfalls bedingt aus eigenständigen Motiven und weltanschaulichen Überzeugungen gehandelt hatten, was sich wiederum strafmildernd auswirken konnte. Hier reproduzierten und verstärkten die juristischen Argumentationsmuster die in der Öffentlichkeit weit verbreitete Dämonisierung Adolf Hitlers und seiner engsten Führungsclique, auf die sich die Verantwortung für die präzedenzlosen Verbrechen bequem abwälzen ließ. Hiervon profitierten auch die 11 Beschuldigten im eingangs erwähnten »Sobibor«-Prozess 1965/1966 vor dem Landgericht Hagen. Lediglich der Hauptangeklagte, SS-Oberscharführer Karl Frenzel, wurde zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Fünf weitere erhielten Haftstrafen zwischen drei und acht Jahren. Vier Angeklagte wurden freigesprochen (ein Angeklagter hatte Suizid begangen).
 
Zum anderen erwies sich die von zahllosen Beschuldigten vorgetragene Auffassung, sie hätten aus einem »Befehlsnotstand« heraus gehandelt und unter Zwang an verbrecherischen Aktionen teilgenommen, vor Gericht als äußerst wirkungsvoll. Obgleich der Verweis auf einen angeblichen Befehlsnotstand bereits am Beginn der 1960er Jahre als von der historischen Forschung widerlegte Rechtfertigungslegende gelten konnte, gelang es zahlreichen Beschuldigten, sich mit Hilfe dieser Behauptung aus der strafrechtlichen Verantwortung zu stehlen. Dies betraf nicht nur Angehörige von Polizeibataillonen, die als das »Fußvolk der ‚Endlösung’« (Klaus Michael Mallmann) maßgeblich an den Massenmorden in Osteuropa und in der Sowjetunion mitgewirkt hatten, sondern auch für Angehörige der SS, die in den Vernichtungslagern ihren Dienst versehen hatten. So wurde etwa in München die Eröffnung eines Verfahrens gegen frühere SS-Schergen des Vernichtungslagers Belzec mit dem Hinweis auf einen angeblichen »Befehlsnotstand« abgelehnt. Die Beschuldigten hätten zwar Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in 90.000 bis 450.000 Fällen geleistet, ein »Schuldvorwurf« können ihnen jedoch nicht gemacht werden, da sie »in dem Bewusstsein gehandelt (hätten), sich in einer völlig aussichtslosen Zwangslage zu befinden und nichts anderes tun zu können, als den ihnen erteilten Befehlen zu gehorchen.«
 
Neben der täterfreundlichen Entscheidungspraxis vieler Gerichte, trugen großzügige, in den Jahren 1949 und 1952 erlassene Amnestiegesetze, auf die sich über eine Million Menschen beziehen konnten, das Auslaufen der Verjährungsfrist für Totschlag im Mai 1960 sowie die Tatsache, dass NS-Täter seither nur noch wegen »Mord« und in eng begrenzten Fällen wegen »Beihilfe zum Mord« belangt werden können, dazu bei, dass die juristische Ahndung der nationalsozialistischen Massenverbrechen in der Bundesrepublik insgesamt so enttäuschend verlief.
 
Eine vorläufige Bilanz liest sich folgendermaßen: Zwar wurden in den Jahren 1945 bis 2005 von westdeutschen bzw. bundesrepublikanischen Staatsanwaltschaften insgesamt 36.393 Strafverfahren gegen 172.294 namentlich benannte Beschuldigte wegen mutmaßlich begangener NS-Verbrechen geführt. Auf den ersten Blick erscheinen diese Zahlen durchaus beachtlich. Zur Anklageerhebung kam es jedoch nur in 5672 Verfahren (16 Prozent). 16.740 (10 Prozent) der namentlich bekannten Beschuldigten sahen sich mit einer Anklage konfrontiert. 14.693 von ihnen mussten in einem gerichtlichen Hauptverfahren erscheinen. Tatsächlich verurteilt wurden 6656 Angeklagte, wobei der überwiegende Teil mit niedrigen Haftstrafen davon kam. Nur neun Prozent der Verurteilten erhielten Freiheitsstrafen von über fünf Jahren, darunter fielen auch die 166 Personen, die die Richter »lebenslänglich« ins Gefängnis schickten.
 
Konsequente Strafverfolgung?
 
An dieser ernüchternden Quote änderte auch die Tatsache wenig, dass sich entgegen aller Erwartungen in den 1990er Jahren und seit der Jahrtausendwende doch noch eine Reihe von NS-Tätern vor Gericht verantworten musste. So wurde im Mai 1992 der ehemalige SS-Offizier Josef Schwammberger wegen siebenfachen Mordes vom Landgericht Stuttgart zu lebenslanger Haft verurteilt. Im Jahr 2001 endeten die Prozesse gegen den früheren SS-Untersturmführer Julius Viel und Anton Malloth, der 1940 bis 1945 als Aufseher im Gestapo-Gefängnis »Kleine Festung« in Theresienstadt eingesetzt war, mit langjährigen Freiheitsstrafen für die Angeklagten – die jedoch beide kurz nach den Urteilssprüchen verstarben. Straflos kam allerdings Herbertus Biker davon, der als Freiwilliger der Waffen-SS mutmaßlich einen niederländischen Widerstandskämpfer erschossen hatte. Das Landgericht Hagen stellte 2004 das Verfahren wegen Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten ein. Der BGH hob schließlich im Juni 2004 die Verurteilung des ehemaligen SD-Chefs von Genua, Friedrich Engel zu sieben Jahren Haft wegen seiner Beteiligung an der Ermordung von 59 italienischen Gefangenen durch das Landgericht Hamburg im Juli 2002 auf, da den Karlsruher Richtern das Mordmerkmal der »Grausamkeit« nicht erwiesen schien. Im August 2009 wurde schließlich der frühere Gebirgsjäger Josef Scheungraber vom Landgericht München I wegen zehnfachen Mordes, begangen im Juni 1944 im italienischen Dorf Falzano di Cortona zu lebenslanger Haft verurteilt. Zur Zeit findet neben dem Verfahren gegen John Demjanjuk noch der Prozess gegen Heinrich Boere vor dem Landgericht Aachen statt, der als Mitglied eines SS-Kommandos im Jahr 1944 an der Erschießung mehrerer niederländischer Zivilisten beteiligt war.
 
Die NS-Prozesse seit den 1990er Jahren wurden zum einen möglich durch neue Quellenfunde in osteuropäischen und italienischen Archiven nach dem Ende des Kalten Krieges. Zum anderen gewann in geschichtswissenschaftlichen Diskursen die Frage nach der Beteiligung »ganz normaler Deutscher« an den Massenverbrechen des Nationalsozialismus an Bedeutung. Von zentraler Bedeutung waren hier die beiden so genannten Wehrmachtsausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung sowie Christopher Brownings Studie über die »ganz normalen Männer« des Hamburger Reservepolizeibataillons 101 und das höchst kontrovers diskutierte Buch »Hitlers willige Vollstrecker« von Daniel Goldhagen (1996). In diesem Kontext wuchs somit die Aufmerksamkeit für Tätergruppen, wie Wehrmachtssoldaten oder Ordnungspolizisten die bis dahin, zumindest in der Öffentlichkeit, kaum als wichtige Stützen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik wahrge-nommen worden waren. Nicht zuletzt trugen aber auch die kritischen Nachforschungen und erinne-rungskulturellen Interventionen linker und antifaschistischer Initiativen dazu bei, die Strafverfolgung bislang unbehelligt gebliebener NS-Täter mit in Gang zu setzen. Dies war beispielsweise bei Joseph Scheungrabers der Fall, der sich, obgleich im Jahr 2006 von einem italienischen Gericht in Abwesenheit zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, noch an Pfingsten 2007 in aller Offenheit beim jährlichen Treffen des Kameradenkreises der Gebirgstruppe am Hohen Brendten in Mittenwald tummeln konnte. Bei genauerem Hinsehen taugen die jüngsten NS-Prozesse daher kaum als Nachweis einer zwar spät einsetzenden, nun aber schonungslosen juristischen Aufklärung bislang nicht geahndeter nationalsozialistischer Verbrechen. Denn trotz der veränderten gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, sind die Ergebnisse der Strafverfolgung noch lebender mutmaßlicher Täter nach wie vor unbefriedigend. Auch heute verlaufen die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen oftmals schleppend und nicht ohne Pannen. In diesem Sinne erscheinen die kritischen Einwände, die im Zusammenhang mit dem Prozess gegen John Demjanjuk laut geworden sind, als durchaus bedenkenswert: So drängt sich der Verdacht auf, dass es in dem Verfahren gegen den ehemaligen ukrainischen »Trawniki« auch darum geht, die Reputation einer Justiz aufzupolieren, die über Jahrzehnte hinweg deutsche NS-Schergen unbehelligt ließ, derer man durchaus hätte habhaft werden können, wenn denn der Wille dazu vorhanden gewesen wäre. In einigen Fällen standen die mutmaßlichen Täter sogar mit Namen und Adresse im Telefonbuch.
 
Der Eindruck juristischer Symbolpolitik ergibt sich auch aus einer weiteren Beobachtung: In den vergangenen Jahren konnte das Office for Special Investigations eine Reihe weiterer NS-Täter identifizieren, die nach 1945 in die USA ausgewandert waren. Auch ihnen wurde infolgedessen die amerikanische Staatsbürgerschaft entzogen. Die US-Behörden wären bereit, diese Personen, meist ehemalige SS-Angehörige und Aufseher in Konzentrationslagern in die Bundesrepublik oder in andere europäischen Länder abzuschieben, wo sie vor Gericht gestellt werden könnten. An weiteren NS-Verfahren scheinen jedoch weder die Bundesregierung noch der überwiegende Teil der Justizbehörden Interesse zu haben, hat es doch bislang lediglich im Fall Demjanjuk einen entsprechenden Haftbefehl und Auslieferungsantrag gegeben.
 
»Die Wahrheit über Sobibor«
 
Gleichwohl ist der Prozess gegen John Demjanjuk trotz seiner fragwürdigen Implikationen aus mehreren Gründen wichtig und richtig. Erstens muss sich in München tatsächlich einer der mutmaßlich letzten noch lebenden Täter von Sobibor vor Gericht verantworten. Wenn auch viel zu spät trägt der Prozess dazu bei, das historische Geschehen in Sobibor als das zu benennen, was es war: Ein präzedenzloser Massenmord, der jedoch nicht von einer abstrakten Maschinerie begangene wurde, sondern konkreter Handlanger bedurfte, die daher für ihre (Mit)täterschaft zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Das historische Versagen großer Teile der bundesdeutschen Justiz in den vergangenen Jahrzehnten bei der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen kann kein Argument sein, auch heute auf die Strafverfolgung zu verzichten. Zweitens trägt der Prozess dazu bei, den Opfern der Shoa und deren Angehörigen wieder, und angesichts des nahenden Endes der Zeitzeugenschaft, vielleicht auch ein letztes mal Gesicht und Stimme zu verleihen. So betont der Sobibor-Überlebende Thomas Blatt: »Ich suche keine persönliche Rache. Ich denke, dass es wichtig ist, wenn das Gericht die Wahrheit über Sobibor ausspricht.« Drittens kommt dem Prozess historiografische Bedeutung zu, indem er zum einen auf die vielfach vergessenen oder gar weithin unbekannten Vernichtungslager der Aktion Reinhard, neben Sobibor auch Belcez und Treblinka aufmerksam macht, zum anderen aber auch Erkenntnisse über den Ablauf und die Täter des Massenmords hervorbringen kann. Dies betrifft nicht zuletzt die Rolle der »Trawniki« und deren Handlungsspielräume. Doch dabei kann ein Aspekt nicht deutlich genug hervorgehoben werden: Die Idee und die Organisation der Vernichtungspolitik war ein deutsches Projekt, woran auch die mögliche Verurteilung von John Demjanjuk nichts ändern wird.