Ästhetische Regime

Bekanntlich ist es Jacques Rancière, der den Begriff des ästhetischen Regimes ins Zentrum gegenwärtiger kunst- und politiktheoretischer Diskussionen katapultiert hat. Genau genommen muss im Blick auf Rancière allerdings von verschiedenen ästhetischen Regimen und noch mehr von ihrer Interaktion die Rede sein. Diese Interaktion ist möglich, weil die verschiedenen ästhetischen Regime der Kunst, der Politik, aber etwa auch der Wissenschaft, einen gemeinsamen Grund haben; einen Grund, den Rancière als „ursprüngliche Ästhetik“ oder als „Aufteilung des Sinnlichen“ bezeichnet.[1]

Eine solche Aufteilung erzeugt – neben signifikanten Ausschlüssen – eine sinnliche Gemeinschaft, die Rancière folgendermaßen charakterisiert: „Gemeint ist ein Rahmen der Sichtbarkeit und Intelligibilität, der Dinge oder Praktiken unter einer Bedeutung vereint [...]. Eine Gemeinschaft des Sinnlichen entsteht, wenn Raum und Zeit auf eine bestimmte Weise eingeteilt und dadurch Praktiken, Formen der Sichtbarkeit und Verstehensmuster miteinander verknüpft werden.“
[2] Offensichtlich handelt es sich bei der „ursprünglichen Ästhetik“ nicht nur um die jeweils in einer Gemeinschaft geltenden Einteilungen bzw. Grenzen des Wahrnehmbaren, wie das der Begriff „Ästhetik“[3] nahelegt, sondern auch um die Einteilungen und Grenzen des Denkbaren. Rancière meint mit dem Begriff der ursprünglichen Ästhetik weder einen Uranfang noch will er das Wahrnehmbare vom Denkmöglichen unterscheiden. Die „ursprüngliche Ästhetik“ verweist vielmehr auf jene kontingenten Bedingungen, die das Denkbare und das Wahrnehmbare vom ungedacht und ungesehen Bleibenden unterscheiden, und zwar ohne dass diese Bedingungen bewusst wahrgenommen oder gewusst würden. Damit kommt die „ursprüngliche Ästhetik“ in die unmittelbare Nähe dessen, was Elias und Bourdieu den sozialen Habitus einer Gruppe oder Klasse nennen; der Tatsache zum Trotz, dass Rancière die Soziologie generell und Bourdieu im Besonderen verachtet.

Regime unterscheiden sich von ungewussten, deswegen aber umso selbstverständlicher praktizierten und tradierten Bedingungen des Wahrnehmens und Denkens durch den bewussten Einsatz für oder gegen bestehende bzw. herbeizuführende Einteilungen des Sinnlichen. Im Bereich der Kunst unterscheidet Rancière drei Regime.
[4] Das sog. ethische, von Plato verteidigte Regime schreibt der Kunst die pädagogische Rolle zu, in eine autoritär strukturierte Klassenhierarchie einzuführen. Das zweite Kunstregime – Rancière nennt es das repräsentative – räumt der Kunst zwar Autonomie gegenüber dem Politischen und der Pädagogik ein, jedoch um den Preis, dass die Produktionsregeln für gute Kunst genau festgelegt und überdies so verfasst sind, dass sie politische Grenzziehungen spiegeln und bestärken. Rancière erläutert diese sowohl ästhetischen als auch implizit politischen Vorschriften immer wieder an den seit Aristoteles variierten Regeln für Tragödien, in denen Unterschichtenmenschen nichts zu suchen haben, und zwar im Unterschied zum Personal von Komödien. Das dritte und „ästhetische Regime der Kunst“ entsteht am Ende des 18. Jahrhunderts. Es schreibt der Kunst Autonomie und Freiheit im Sinn des Vermischens potentiell aller jeweils herrschenden Einteilungen der Sinnlichkeit zu: die Unterscheidung zwischen Aktivität und Passivität ebenso wie beispielsweise die zwischen Denken und Wahrnehmen, Sinn und Unsinn oder die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst. Solche Einteilungen werden durch die Kunst des dritten Regimes allerdings (nur) im Modus des als-ob durcheinander gebracht; d.h. in je spezifischen Texten, Bildern, Performances und ohne (notwendige) Breitenwirkung.

Rancière behauptet nicht, dass das Durcheinanderbringen von Einteilungen des Sinnlichen nur in der Kunst möglich ist, im Gegenteil. Auch im politisch-emanzipatorischen Handeln werden Grenzen und Aufteilung einer Sinnlichkeit herausgefordert und idealiter
verschoben. Rancière spricht im Hinblick auf das, was umgangssprachlich Kunst und Politik genannt wird, von zwei verschiedenen Politiken mit dazugehörigen Ästhetiken und betont damit die unaufhebbare Differenz zwischen der Kunst des ästhetischen Regimes und emanzipatorischer Politik, die sich beide gleichwohl in subversiver Absicht auf etwas Gemeinsames richten: nämlich auf die jeweils voraus liegende Einteilung des Sinnlichen. Insbesondere in seinen neueren kunsttheoretischen Überlegungen wird Rancière nicht müde, die Unterschiede zwischen künstlerischen und politischen Praktiken der Vermischung und Störung von Sinnlichkeitsgrenzen hervorzuheben. Während die Kunst des dritten Regimes die grundsätzliche Veränderbarkeit aller Aufteilungen zum Ausdruck bringe, ohne sich um die (effektiven) Umsetzungen von Veränderungen zu kümmern, haben Einteilungssubversionen des politischen Handeln bestenfalls zwar reale Folgen, jedoch immer nur in Bezug auf ein spezifisches und begrenztes Ziel. Letztlich scheint Rancière das grundsätzliche Störungspotential der Kunst jenen subversiven Strategien des politischen Handelns vorzuziehen, die auf die effektive Durchsetzung eines bestimmten und damit beschränkten Anliegens zielen. Das hat ihm Vorwürfe des Romantizismus ebenso eingebracht wie die Kritik, er erkläre die Grenze zwischen Kunst und Politik für sakrosankt, obwohl doch keine Dimension der Aufteilung unseres Denk- und Wahrnehmungsraums vor Übertretungen geschützt sein sollte.

Auffallend ist, dass Rancière den Regime-Begriff im Kontext seiner Kunsttheorie sowohl für Bestrebungen benutzt, denen es um die Affirmation oder Verschleierung vorherrschender Einteilungen des Sinnlichen geht, wie das bei den ersten beiden Regimen der Kunst der Fall ist, als auch für subversive. Allerdings besteht kein Zweifel daran, dass Rancière sich vor allem für die Subversion begeistert. Gegen (post-)strukturalistische und soziologische Theorien, die den Akzent auf die Schwierigkeiten oder gar Unmöglichkeit des Eingriffs in die Herrschaft kollektiver „Aufteilungen des Sinnlichen“ legen, kehrt Rancière in seinen Überlegungen zu Kunst und Politik geradezu penetrant Ereignisse des Gelingens von Neuaufteilungen des Sinnlichen hervor. Das mag eine polemische Pointe gegen Opferdiskurse haben, die insbesondere den sog. Unterdrückten jede Handlungsfähigkeit absprechen. Als Theorie des prinzipiell immer und überall möglichen individuellen wie kollektiven Überschreitens der „ursprünglichen Ästhetik“ sind Rancières Überlegungen aber nicht weniger problematisch als die grundsätzliche Leugnung von Handlungsfähigkeit.


Dieser Text erscheint in BILDPUNKT. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Frühling 2010 „Regimestörungen“.


[1] Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, Berlin 2006; vgl. insbesondere S. 25 ff. In diesem Text stehen die verschiedenen Kunstregime und ihre Interaktion mit politischen Regimen im Zentrum.

[2] Ebenda, Fußnote 4, S. 71.

[3] Er leitet sich von „aisthesis“, dem griechischen Wahrnehmungsbegriff ab.

[4] Zur Unterscheidung zwischen verschiedenen politischen Regimen vgl. Jacques Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt am Main 2002 [frz. 1995], insbes. S. 73 ff.