Menschenrechtsanwältin Vilma Nuñez über den Autoritarismus Daniel Ortegas und die Schwierigkeiten, in Nicaragua eine politische Alternative zu entwickeln
Vilma Nuñez ist Anwältin und kämpfte für die Revolution der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN). Als Anwältin politischer Gefangener im diktatorischen Regime unter Anastasio Somoza wurde sie verfolgt und gefoltert. Nach dem Triumph der Revolution 1979 wurde Vilma Nuñez Richterin am Obersten Gerichtshof in Nicaragua. Heute ist sie Direktorin des Nicaraguanischen Menschenrechtszentrums CENIDH. Aufgrund ihrer Kritik an autoritären Regierungsstrukturen und Missachtungen der Menschenrechte in Nicaragua wird sie von der Regierung ihres einstigen Mitstreiters Daniel Ortega diffamiert und bedroht.
Wie
beurteilen Sie das kürzlich bekannt gewordene Urteil des Obersten
Gerichtshofs, das Daniel Ortega eine erneute Kandidatur bei den
Präsidentschaftswahlen 2011 ermöglicht?
Eines der größten Probleme in Nicaragua ist die Instrumentalisierung
der Staatsorgane für politische Interessen. In diesem Fall hat Daniel
Ortega den Justizapparat für seine Zwecke missbraucht. Sein Ziel ist
es, möglichst lange an der Macht zu bleiben, vor allem um seinen
wirtschaftlichen Reichtum zu vergrößern. Der Artikel 147 der Verfassung
verbietet jedoch die direkte Wiederwahl des Präsidenten. Die für eine
Verfassungsänderung notwendige Mehrheit im Parlament hatte Daniel
Ortega in den vergangenen Monaten nicht erreichen können.
Das Gericht begründete das Urteil damit, dass es gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoße. Was ist juristisch davon zu halten?
Die Begründung, der Artikel 147 sei nicht anwendbar, weil er die
Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz missachte, ist absurd. Es
waren nicht einmal alle Richter anwesend, als diese Entscheidung
innerhalb von 36 Stunden gefällt wurde. So etwas dauert normalerweise
mindestens zwei Monate. Obwohl dieses Urteil rein juristisch gesehen
wertlos ist, hat der Richterspruch Gültigkeit und es gibt keine
Möglichkeit einer Revision. Damit ist der Weg frei für eine erneute
Kandidatur von Daniel Ortega. Doch der Oberste Gerichtshof hat Ortega
nicht zum Kandidaten deklariert, sondern ihm nur die Möglichkeit dazu
verschafft. Zum Kandidaten muss ihn die FSLN erklären.
Es gab Spekulationen über eine mögliche Kandidatur seiner Ehefrau
Rosario Murillo. Hätte das nicht zu weniger Aufruhr innerhalb der
Zivilgesellschaft geführt? Nach Bekanntwerden des Richterspruchs hat es
bereits eine Großdemonstration gegeben.
Das ist der entscheidende Punkt. Es gab bereits Spekulationen über
mögliche Kandidaten bei den nächsten Wahlen. Die finden ja erst 2011
statt, wir befinden uns also noch nicht einmal im Vorwahlkampf. Warum
hat sich Daniel Ortega also bereits jetzt zu so einem Schritt hinreißen
lassen, der natürlich große Proteste ausgelöst hat? Für mich deutet das
darauf hin, dass es innerhalb der Partei Konflikte gibt. Das macht mir
ein wenig Hoffnung.
Ich denke, dass Ortega im Grunde sogar Angst und Neid seiner eigenen
Ehefrau gegenüber hatte. Rosario Murillo ist momentan politisch
mächtiger als er. Ich glaube, Daniel gönnt nicht einmal ihr das
Präsidentschaftsamt. Allerdings wäre das aus meiner Sicht auch noch
schlimmer. Schließlich ist es Rosario Murillo, die die zweifelhaftesten
und autoritärsten Schachzüge der Regierung plant und durchführt.
Daniel Ortega wird vor allem für seinen autoritären Regierungsstil
kritisiert. Manchmal entsteht der Eindruck, dass die
Regierungs-kritikerInnen in erster Linie aus der gebildeten
Mittelschicht der Städte stammen, während besonders auf dem Land viele
Menschen Ortega unterstützen. Stimmt das?
In den Städten ist es keinesfalls nur die Mittelschicht, sondern es
sind auch viele sehr arme Menschen, die Ortega kritisieren. Es stimmt
natürlich, dass die Demonstrationen vor allem in den Städten
stattfinden. Auf dem Land sind die Menschen meist noch ärmer und oft
ausnahmslos mit dem bloßen Überleben beschäftigt. Viele verstehen
beispielsweise auch gar nicht, was es bedeutet keine Rechtssicherheit
zu haben. Sie reagieren erst, wenn sie selbst betroffen sind. Dennoch
gibt es auch auf dem Land Unzufriedenheit, unter anderem darüber, dass
das Null-Hunger-Programm der Regierung klientelistisch verwaltet wird.
Hinzu kommt, dass die Sozialprogramme weit hinter den Erwartungen
zurück bleiben. Neue Studien belegen, dass bisher von den angekündigten
15.000 Familien pro Jahr nur neun Prozent mit dem Hilfspaket des
Null-Hunger-Programms unterstützt wurden.
Aber hat es nicht auch Verbesserungen im sozialen Bereich gegeben?
Es hat einige Verbesserungen gegeben, im Bereich der Bildung und
Gesundheit beispielsweise. Aber die Regierung sieht sich zurzeit einem
Haushaltsdefizit gegenüber, vor allem weil die internationale
Gemeinschaft nach dem Wahlbetrug von 2008 Gelder gestrichen hat. Also
mussten jüngst Ausgaben gekürzt werden. Das hat genau im Sozialbereich
stattgefunden, statt zum Beispiel weniger Geld für Eigenwerbung
auszugeben. Ortega führt hier einen Doppeldiskurs: Was er macht, stimmt
nicht mit dem überein, was er sagt. Während er riesige Plakate druckt,
auf denen „Arriba los pobres del mundo“(Hoch die Armen der Welt; Anm.
d. Red,) steht, schließt er gleichzeitig neoliberale Übereinkommen mit
dem Internationalen Währungsfonds und setzt die neoliberale Politik der
liberalen Vorgängerregierungen fort. Außerdem gibt es in Nicaragua
mittlerweile quasi zwei Parallelhaushalte. Die Gelder aus Venezuela
werden nämlich nicht offiziell im Staathaushalt verwaltet, sondern
durch Privatfirmen der Familie Ortega. Der Einfluss dieser Familie ist
gewaltig und sie gehört wirtschaftlich zu den reichsten des Landes.
Dennoch hat Daniel Ortega viele AnhängerInnen.
Es wäre natürlich absurd zu behaupten, Daniel Ortega würde von
niemandem unterstützt. Aus meiner Sicht gibt es da drei Gruppen. Da
sind zum einen diejenigen, die noch immer glauben, Daniel würde die
Revolution wiederbeleben. Zum zweiten jene, die von den
Regierungsprogrammen profitieren. Daniel Ortega nutzt die
Sozialprogramme für seinen politischen Klientelismus. Und dann gibt es
noch diejenigen, die Ortega unterstützen, weil sie Angst um ihren
Arbeitsplatz haben.
Letzteres ist eine erschreckende Entwicklung. Die Regierung hat
begonnen, die Staatsangestellten zu instrumentalisieren und sie zur
Mitgliedschaft in der FSLN zu zwingen, indem sie einfach Parteiausweise
verteilt. Bei CENIDH (Nicaraguanisches Menschenrechtszentrum; Anm. d.
Red.) sind viele Klagen eingegangen. Einige haben ihre Arbeit verloren,
weil sie sich weigerten den Parteiausweis entgegenzunehmen.
Hat sich also aus Ihrer Sicht die Lage der politisch-zivilen Rechte in Nicaragua unter Daniel Ortega verschlechtert?
Ja. Man muss wissen, dass Rosario Murillo ein sehr enges Verhältnis zum
ehemaligen Chef der Staatssicherheit, Lenin Cerna, hat. Gemeinsam haben
die beiden ein System der Verfolgung und Repression geschaffen. Das hat
immer mehr zugenommen. Nach der Amtsübernahme durch Daniel Ortega kam
es zu einzelnen Rechtsbrüchen, zur vermehrten Vermischung von Partei
und Regierung. Nach und nach hat Ortega immer mehr Fronten eröffnet. Er
beleidigt und verfolgt Journalisten, Nichtregierungsorganisationen,
Menschenrechtler, Diplomaten. Einen besonders schweren Stand haben
Frauen.
Zurzeit gibt es sogenannte Fuerzas de Choque, das sind quasi
Schlägertrupps. Sie dienen der Einschüchterung aller, die öffentlich
demonstrieren wollen, und setzen sich aus Staatsangestellten,
Parteimitgliedern und Kriminellen zusammen. Sie halten sich auf
öffentlichen Plätzen auf und sobald eine Demonstration angekündigt
wird, organisieren sie eine Gegendemonstration. Staatsangestellte
werden teilweise gezwungen, an diesen Gegendemonstrationen teilzunehmen.
Auch sie persönlich erleben Repression. Wie genau werden Sie bedroht?
Ziel ist es, mich öffentlich und politisch zu diskreditieren. Ich
verstehe mich nicht als Politikerin oder politische Gegnerin von
irgendjemandem, sondern ich bin Menschenrechtsanwältin. Doch von der
Regierung werden wir als Gegner betrachtet. Sie versucht mich
öffentlich in den Schmutz zu ziehen. Zudem habe ich Drohanrufe erhalten
und mein Haus wurde in rot-schwarz bemalt. Vor einigen Tagen ist dann
eine Liste mit zehn Personen aufgetaucht, die angeblich physisch
eliminiert werden sollen. Auch ich stehe darauf, ebenso wie Sofía
Montenegro (renommierte feministische Journalistin; Anm. d. Red). Es
ist eine Art dauerhafte psychische Folter. Alles, um zu demobilisieren.
Aber mich werden sie nicht zum Schweigen bringen.
Welche politische Alternative gibt es denn aus Ihrer Sicht?
Ich sehe Nicaragua momentan in einer Sackgasse. Die gesamte politische
Klasse ist diskreditiert oder geschwächt. Es gibt momentan keine
Alternative. Die sozialen Bewegungen haben keine Ambitionen politische
Macht zu erlangen. Eine neue Entwicklung ist die Entstehung einiger
Jugendorganisationen. Aber es wird lange brauchen, bis sich das auf die
Politik auswirkt.
Sehen Sie die Möglichkeit, dass innerhalb der FSLN eine linke, sandinistische Alternative entsteht?
Wir wissen, dass es innerhalb der Frente sehr ernsthafte Widersprüche
gibt, aber es ist nicht vorstellbar, dass jemand aufsteht und sagt:
„Ich habe eine andere Meinung.“ Dafür ist die FSLN mittlerweile viel zu
undemokratisch. Im Grunde sieht es also nicht so aus, als könne hier
eine sandinistische Alternative wachsen, aber ich gebe die Hoffnung
nicht auf. Es können doch nicht alle Menschen korrupt und prinzipienlos
sein.
Eilaktionen zum Schutz der Menschenrechte
Zur Lage der Menschenrechte in Nicaragua hat amnesty international (ai)
im vergangenen Jahr vier Eilaktionen gestartet. Unter anderem forderte
ai im November 2008 den Schutz von Dr. Vilma Nuñez und anderen
CENIDH-MitarbeiterInnen, da diese massive Drohungen erhalten hatten. Im
Dezember 2009 gab es erneut eine Eilaktion, da die 25-jährige
Menschenrechtlerin Leonor Martínez Drohungen erhalten hat und auf
offener Straße angegriffen wurde. Zur Situation der Menschenrechte in
Folge des totalen Abtreibungsverbots in Nicaragua ist jüngst eine
Informationsbroschüre erschienen. Frauen dürfen seit 2006 auch dann
nicht mehr abtreiben, wenn ihr eigenes Leben in Gefahr ist. Das Gesetz
war damals mit Unterstützung der liberalen Parteien aber auch der
momentan regierenden FSLN durchgesetzt worden. Bis heute hat sich die
Situation der Frauen unter Daniel Ortega keinesfalls verbessert,
besonders Frauenorganisationen sind vermehrt Repressionen ausgesetzt
und werden in ihrer Arbeit behindert.
Weitere Informationen unter:
http://www.amnesty.de/urgent-actions // www.casa-amnesty.de // www.amnesty-frauen.de
Text: // Interview: Anna Schulte
Ausgabe: Nummer 427 - Januar 2010