Resistanbul

Die 11. Istanbul Biennale zeigt ausschließlich politische Kunst. Und ist dennoch schön anzusehen.

„Turn left“ steht immer wieder auf dem Boden. Daneben liegen rote Papierknäuel. Es sind Flugblätter der kroatischen Künstlerin Sanja Ivekovic, die darin einen Aktionsplan für mehr Geschlechtergerechtigkeit und Lohngleichheit fordert. Der Boden, auf den das diesjährige Kuratorinnenkollektiv die 11. Istanbul Biennale zurückgeholt hat, ist jener der politischen und sozialen Realitäten. Vier Frauen aus Zagreb, die sich „What, How & for Whom“ (WHW) nennen, haben die Kunstschau am Bosporus zu einem mit 141 Arbeiten sehr polyphonen, nichtsdestotrotz unmissverständlichen politischen Statement gemacht. Und wer noch die Fußbodenmarkierung als kuratorischen Hinweis aufs nächste Kunstwerk missversteht, für den werden Ivet Curlin, Ana Devic, Natasa Ilic und Sabina Sabolovic noch deutlicher. Bei der Eröffnung schließen sie ihre Rede mit dem Aufruf „Sozialismus oder Barbarei!“.

Seeräuber Jenny und Sozialkritik.
Bereits das von Bertold Brecht entliehene Biennale-Motto „What keeps mankind alive?“ macht klar, dass Kunst dem Kollektiv immer auch Mittel aufklärerischer Agitation sein muss. „Denn wovon lebt der Mensch“, lässt Brecht in der Dreigroschenoper fragen. Mackie Messers Antwort: „Indem er stündlich den Menschen peinigt, auszieht, anfällt, abwürgt und frisst“. Drastische Dokumente von Peinigung und Würgegriff enthält die auf drei Häuser verteilte Ausstellung zuhauf. Ganz buchstäblich ins Bild gesetzt etwa von Yüksel Arslan, der die Kontrollmacht von Kapitalismus und Kolonialismus durch eine gierig gekrümmte Hand mit Münzmanschettenknopf am Ärmel (über)zeichnet. Darinka Pop-Mitic bezieht sich mit ihrem Wandgemälde der Seeräuber Jenny direkt auf Brecht. Mit ihrem Muralismus-Zitat liefert sie aber zugleich eine Reflexion, die für die gesamte Schau zentral ist – die Reflexion über das Verhältnis von Kunst und Propaganda. Denn die großflächigen Wandmalereien, mit denen der mexikanische Muralismo einst Sozialkritik in den öffentlichen Raum gebracht hat, machen deutlich, dass die revolutionäre Absicht nicht von der Notwendigkeit entbindet, auch eine angemessene künstlerische Form dafür zu finden.
Dass das nicht immer gelingt, wird angesichts der allgemeinen Zunahme dokumentarischer, oft textbasierter Strategien in der zeitgenössischen Kunst natürlich nicht erst in Istanbul sichtbar. Aber eben auch dort. Emanzipatorische Aufklärung wird, wie etwa bei den kartografischen Arbeiten von „Bureau d’études“ oder „Société Réaliste“, häufig mithilfe detail- und informationsreicher Schaubilder geleistet, die den BetrachterInnen viel Zeit und
einen eisernen Willen zum Wissen abnötigen.


Bilder und Geschichten. Insgesamt jedoch ist WHW die ausgerufene Politisierung der Kunst nicht nur inhaltlich, sondern auch formal durchaus gelungen. Und dass die Investition in ästhetisch eingängige Vermittlungsformen selbst vom Diskurskunst-geschulten Publikum belohnt wird, beweist etwa ein Film der 1970 geborenen Künstlerin Canan Senol. Ihr Animationsvideo „Exemplary“ kombiniert fotografisches Material mit Trickfilmelementen und verhandelt die widersprüchlichen Anforderungen, mit denen sich Frauen in den türkischen Metropolen gegenwärtig konfrontiert sehen. Andrang und Andacht vor der in ihrer Narrationsstruktur an „Tausend und eine Nacht“ angelehnten Erzählung legen den Schluss nahe, dass engagierte Vermittlung durch gut gemachte Bilder und Geschichten weiterhin einfach besser funktioniert.
Was auch einige Fotoarbeiten zeigen. Hans Peter Feldmanns ausgestelltes Buchprojekt „50 years of a woman“ z.B., das mit einer aus unzähligen Einzelbildern bestehenden Chronologie eines weiblichen Nachkriegsleben nicht nur scheußliche Moden ins kollektive Gedächtnis zurückruft, sondern den BetrachterInnen unweigerlich auch die Frage aufdrängt, was Frauen in den letzten fünfzig Jahren wohl sonst noch so alles eingeengt hat. Oder Rena Effendis Serie über die Lebensbedingungen von Menschen, die unmittelbar an der zweitlängsten Öl-Pipeline der Welt wohnen. Effendi widmet der Inszenierung und Komposition jedes einzelnen Bildes ebensoviel Aufmerksamkeit wie den verheerenden geopolitischen Auswirkungen des Pipeline-Baus, die sie mit ihm anprangert.

Songcontest und East Side Story. Aber auch Humor erweist sich als dankbares künstlerisches Mittel, um für die eigenen Überzeugungen zu werben. So stellt etwa die argentinische KünstlerInnen-Gruppe „Etcétera“ ein kunterbuntes Pappfiguren-Kabinett auf, in dem sich das gesamte kanonisierte linke Figuren- und Ideenarsenal findet und in dieser Ironie ebenso selbstkritisch wie selbstvergewissernd ist. Das Kollektiv „Chto delat“ („Was tun“, benannt nach dem Werk Lenins) zeigt zwei Singspiele, in denen mit viel dramaturgischem Witz über das weitere Schicksal des postsozialistischen Russlands quasi per Songcontest entschieden wird.
Mitunter offenbart sich aber auch die Überzeugungskraft des rein Dokumentarischen. Igor Grubic erinnert mit  „East Side Story“ an die Gay Pride-Paraden in Belgrad 2001 und Zagreb 2002. Die mitgeschnittenen und unkommentierten Szenen mit skandierender homophober Meute und der unglaublichen Courage der DemonstrantInnen, die sich den Angriffen aussetzen, hätten der tänzerischen Interpretation nicht bedurft, mit der Grubic sie auf einer zweiten Leinwand kontrastiert.

Kartoffelpreise und Heimarbeit. Auch bei KP Brehmer dient formale Reduktion der Klarheit der Aussage. Die da lautet, dass es die Umstände eben manchmal erforderlich machen, statt satter Sujets die Entwicklung von Kartoffelpreisen oder eine in Farbfelder gefasste Studie über die Befindlichkeit von ArbeiterInnen auf die Leinwand zu bringen.
Brehmers Diagramme sind nicht die einzigen älteren Arbeiten, die gezeigt werden. Und nicht nur mit der Regel, möglichst viele neue Werke zu präsentieren, bricht diese Biennale. Auch andere klassische Repräsentationsverhältnisse werden umgekehrt: Lediglich 28 Prozent der vertretenen KünstlerInnen stammen aus westlichen Ländern, das Verhältnis zwischen Männern und Frauen insgesamt ist nahezu ausgewogen. Letzteres führt auch zu einem ausgeprägt feministischen Profil der Ausstellung, die etwa zwei Räume den großformatigen Arbeiten der queerfeministischen Künstlerin Nilbar Güres1 widmet. Und in der Margaret Harrissons Installation „Homeworkers“ von 1977/78 über die Situation von Heimarbeiterinnen ebenso aktuell ist wie Isil Egrikavuks Video „Gül“ von 2007, das nicht allein Zwangsverheiratungen von Minderjährigen thematisiert, sondern durch das darin sichtbar gemachte Ringen um eine adäquate Form der Behandlung auch auf die voyeuristische und instrumentalisierende Vereinnahmung dieses Themas verweist.
Keine Politik und keine Kunst. Parallel zur Biennale fand in Istanbul Anfang Oktober auch die Jahrestagung von IWF und Weltbank statt. „Resistanbul“, das linke Bündnis, das zum Protest dagegen aufgerufen hatte, wandte sich in einem offenen Brief an die Kuratorinnen. Darin lud es diese ein, das Museum zu verlassen, mit auf die Straße zu gehen und „zurück ins Leben“ zu kehren, in ein „Leben des Widerstands“. Kunst ist keine Politik, lautet die Überzeugung, die dieser Forderung zugrunde liegt. Und politische Positionierung noch lange keine Kunst, wie viele KunstkritikerInnen meinten, die die künstlerische Güte dieser Biennale durch ihre plakative Parteilichkeit kompromittiert sahen.
Beide Einschätzungen sind falsch. Weder endet die gesellschaftspolitische Relevanz von Kunst an der Museumstür. Noch muss der klare Aufruf „Turn left“ notgedrungen zulasten künstlerischer Formvollendung gehen. Wie die Biennale in Istanbul paradigmatisch gezeigt hat.

Istanbul Biennale:
www.iksv.org/bienal11

1 Arbeiten von Nilbar Güres sind derzeit auch im Salzburger Kunstverein zu sehen.

Dieser Artikel erschien in: an.schläge, das feministische Magazin, www.anschlaege.at