Filmgeschichte als Kritik feministischer Filmtheorie

Das Argument 284 "Gewerkschaftsmacht. In der Krise" (6/2009), S. 926-34

in (11.01.2010)

Feminismus und Film - das war in der angloamerikanischen Welt seit den 1970er Jahren die einflussreiche Theorie des gendered spectatorship, die drei Jahrzehnte lang auch über die englischsprachige Welt hinaus das Verständnis von Kino geprägt hat (siehe z.B. Laura Mulvey 1975, dt. 1980)[1]. Doch bei all seiner Stärke ist diesem Paradigma etwas Wesentliches am Zusammenhang von Film und Weltkapital entgangen. Das Paradigma der nach Geschlecht verschiedenen Schaulust, mit der Annahme, dass die neue technische Kunst mit der Kamera eine durch und durch männliche Form sei, blockierte die Erkenntnis und eine Vorstellung davon, wie viele Frauen in der lokalen und internationalen Filmindustrie in der Stummfilmzeit von etwa 1896 bis 1927 in Europa und den USA und bis in die 1930er Jahre in Asien beteiligt waren. Die Belege dafür, dass Frauen einflussreich in den entstehenden nationalen Industrien arbeiteten, sind bestechend. Wir wissen heute, dass sie Kurz- und Spielfilme finanzierten, schrieben, schnitten, filmten und Regie führten.

Die Forschungsarbeit, die vor uns liegt, ist gewaltig: an so vielen Fundorten muss ausgegraben, so viele Sprachen müssen bewältigt werden. Doch ebenso gewaltig ist die Herausforderung für den Feminismus als Theorie und historische Praxis. Dass Feminismus mancherorts gerade dann für erledigt erklärt wird, wenn er weltweit am meisten gebraucht wird, wenn „Frauenarbeit" so unterbewertet und „Frauenleben" in ihrem eigenen Zuhause psychisch und physisch so gefährdet ist, ist eine perverse Ironie. Dass feministische Filmforschung sich mit ihrem Ruf für die vollständige Abwesenheit von wirklichen Frauen im Film verbürgte, nur um schließlich einen Schatzkasten an Belegen über Filmarbeiterinnen in Russland, Australien, der Tschechoslowakei, Deutschland und Italien entdecken zu können, ist eine andere.

Nachdem er die Mär des Ausschlusses von Frauen so mächtig erzählt hat, muss Filmfeminismus nun eine andere Geschichte erzählen, am besten eine kontingentere, offenere. Und so halten wir in diesem bemerkenswerten und beunruhigenden Augenblick inne, um den akademischen Erfolg feministischer geistiger Initiativen zu kennzeichnen, aber auch, um die noch zu bewältigende Arbeit so vieler Feminismen weltweit ins Auge zu fassen. Vielleicht halten wir jetzt inne, weil die eigene Theorie des Feminismus in der zweiten Frauenbewegung so selbstbewusst nach der Annahme verfuhr, es habe weder unter den Empfängern noch hinter der Kamera Frauen gegeben. Jetzt entdecken wir Eigentümerinnen kleiner Filmunternehmen in Italien wie Elvira Notari (dank Guiliana Brunos Forschung) und schlecht bezahlte anonyme Cutterinnen in Frankreich. Plötzlich werden uns nicht nur Lebenswege drastisch bewusst gemacht, sondern auch die von der niederländischen Filmhistorikerin Annette Förster so genannten „Karrierologien" der Ehrgeizigeren, wie etwa der Komödiantin Adriënne Solser, die ein Filmproduktionsunternehmen namens Eureka in den Niederlanden gründete und von 1924 bis 1928 betrieb. Aus meiner Darstellung - „zuerst gab es die Theorie, dann die Beweise" - ließe sich eine Geschichte herauslesen, die Theorie in Gegensatz zur empirischen Arbeit bringt, und sogar die Erwartung, eine andere Geschichte (in der das Randständige nun in den Vordergrund rückt) würde die Erzählung der männlichen industriellen Expansion des 19. Jahrhunderts - die bekannte Erzählung vom kapitalistischen Patriarchat - ersetzen. Annette Kuhn und Jackey Stacey haben uns bereits dazu gedrängt, über die Vorstellung, dass Theorie in völligem Gegensatz zur wirklichen Geschichte stehe, also über die paradigmatische Struktur der feministischen Filmwissenschaft der 1970er Jahre, hinauszugehen. Doch die Erwartung einer anderen, vollständigeren historischen Erzählung, einer, welche die wunderliche Stimme, den Ort der Unpassenden und das sonderbare Objekt wiederherstellt, ist groß und verlangt danach, dass alles Verlorengegangene ans Licht gebracht werde. Inzwischen sollte es offenkundig sein, dass wir als Feministinnen das Problem haben, wie wir zwei Erzählungen schreiben - einerseits die Geschichte der Arbeit der Frauen in den entstehenden nationalen Filmindustrien und andererseits die Geschichte der theoretischen Kämpfe innerhalb des Feminismus. Wir arbeiten im Vergangenheitspräsens, weil es um eine Frage der Vergangenheit des Feminismus geht, die mit Gegenwart zusammentrifft. Direkt zu diesem Dilemma, wie die nahe Vergangenheit des Feminismus zu erzählen ist, erklärt die britische feministische Theoretikerin Clare Hemmings, dass wir „Geschichten über die Vergangenheit erzählen und erneuern, um für eine bestimmte Gegenwart Legitimität zu gewinnen", und darauf bestehen, dass es eine „Politik der Gegenwart im Erinnern der Vergangenheit" geben muss (118f).

Wo wir uns einst „keine Frauen" vorstellten, müssen wir uns jetzt viele vorstellen. Wo wir uns einst nur nordamerikanische und europäische Frauen vorstellten, müssen wir uns jetzt in der Politik der Gegenwart Frauen in Lateinamerika, Asien und im Nahen Osten vorstellen. Wichtig sind für uns daher Filme wie der kürzlich vom ägyptischen Filmarchiv in Kairo wiederhergestellte Al-Dahaia/Die Opfer (1932). Die Schauspielerin Behidja Hafez produzierte den Film zuerst in einer Stummfilm- und einige Jahre später, als die Tontechnik in Ägypten verfügbar geworden war, auch in einer Tonversion, zu der sie selbst die Tonspur schrieb und über die sie Regie führte (Rahman 2002). Angesichts solcher Belege, die der pauschalen negativen Erzählung, es hätte keine Frauen gegeben, widerspricht, überrascht es nicht, dass bei dieser zweiten Chance innerhalb der zweiten Frauenbewegung feministische Wissenschaftlerinnen zögern, weiteres enzyklopädisches Wissen und eine neue definitive Erzählung hervorzubringen. Eine Option wäre, eine offenere und beunruhigendere Lesweise zu schaffen, um sich Bedingungen anzupassen, unter denen kein Wissen mehr gefestigt erscheinen mag. Einige Forscherinnen wollen einen „kontingenteren" Zugang, was uns an zwei Arten von Kontingenz denken lässt: die eine bezieht sich auf die zufällige und unsichere Natur historischer Ereignisse selbst, die andere auf die gegenseitige Abhängigkeit - in diesem Sinne gibt es hinsichtlich der Arbeit von Frauen in den nationalen Filmindustrien konjunkturelle Verbindungen über Kontinente und ethnisch-nationale Klassenformationen hinweg. Unter Kontingenz verstehen wir die Weise, wie Dinge aneinander gekoppelt sind, aber auch, wie sie sich entkoppeln.

Siegfried Kracauer, der sich nach Beendigung seiner Theorie des Films entschied, eine Theorie der Geschichte zu schreiben, unter Mitnahme dessen, was Miriam Hansen als ein Interesse für das Unkontrollierte, für „Dinge, die ein Eigenleben entwickeln", in seiner Arbeit bezeichnet (xxxi), ging so weit vorzuschlagen, ein historischer Ort könne durch das Kontingente oder das Irreguläre definiert werden. „Geschichte ist auch das Reich von Zufällen und neuen Anfängen. Alle in ihr entdeckten oder in sie hineingelesenen Gesetzmäßigkeiten sind von begrenzter Reichweite", heißt es in seiner nachgelassenen Geschichte - Vor den letzten Dingen (1971, 45). Geschichte wird hier gedacht als Reich oder Ort von Möglichkeiten, an dem nichts schon systematisiert oder reguliert ist und bestimmt nicht in Erzählform gebracht. Doch diese ganze Frage nach dem Unkontrollierten und Unvorhergesehenen ist ironischerweise selbst noch offen und unsystematisch. Das Projekt, die Arbeitsbedingungen von Frauen in den internationalen Filmindustrien zu erfassen, hat unzählige mögliche Anfänge, die bemerkenswert unerzählt sind. Vielleicht können wir nicht mehr darüber sagen, als dass es um einen Ort geht, den Filmwissenschaftlerinnen in der Welt sich als Kinogeschichtsland vorstellen.

Denken wir uns jetzt ein anderes Kinogeschichtsland, in dem alle Versionen erzählter vergangener Geschichte gegenwärtig sind und wo überzeugende Objekte zurückweichen und nach vorn treten, ein Ort, der immer antizipiert, immer kontingent ist in der Wiederherstellung der Archive sowie der Erzähllücken, die nie gefüllt werden können. In dieser Hinsicht gleicht der Bereich feministischer Filmgeschichtsschreibung keinem anderen. Das liegt daran, dass ihr Gegenstand das bewegte Bild ist, dessen Inszenierung gerade beansprucht, authentisch zu sein; ihre eigene Erzählung behauptet, der privilegierte Schlüssel zum Bewusstsein eines früheren Zeitalters zu sein. Die erhalten gebliebenen 35mm-Stummfilmrollen, die man in den Gewölben von Mitgliedern der Fédération Internationale des Archives du Film gefunden hat, versprechen eine umfassende Wiederherstellung des Stummfilmgeschichtslandes, einen Weltblick auf welthistorische Szenen, dokumentiert bei ihrer Aufführung. Dass wir Stummfilmkopien weltweit in den Archiven finden, auch außerhalb ihrer Herkunftsländer, amerikanische im Moskauer Filmarchiv, deutsche im niederländischen Archiv, bezeugen ihre breite Streuung und das Streben des globalen Kapitals seit den 1910er Jahren. Dass so viele dieser Filme zu von Frauen gegründeten Produktionsunternehmen zurückverfolgt werden können und im Falle der USA womöglich die Hälfte auf Drehbüchern basieren, die von Frauen geschrieben wurden, ist selbst eine Kampfansage an Annahmen des früheren Feminismus.

Wir brauchen einen kontingenteren, mehr dem Unerwarteten zugewandten und auf das Konjunkturelle gerichteten Ansatz, wir müssen mehrere Erzählungen gleichzeitig denken. In einem Umfeld mit einer soliden marxistisch-feministischen Grundlage würden wir zunächst mit der Erzählung der kapitalistischen Globalisierung im frühen 20. Jahrhundert beginnen. Die Geschichte des Films als Fallstudie in der Globalisierung der Kultur zeigt uns den Aufstieg zur Dominanz der USA über Frankreich, Deutschland und Italien, die alle um die Dominanz in der Weltfilmindustrie konkurrierten. Der US-Standpunkt in dieser Geschichte ist wohl am besten von Kristin Thompson (1982) dokumentiert worden. In dieser Erzählung des „Aufstiegs zur Dominanz" erlangen die USA, die vor dem Ersten Weltkrieg nicht die führende Industrienation waren, zwischen 1914 und 1918 einen Vorteil, als die europäische Konkurrenz angeschlagen ist. Die gängige Erzählung dieser ökonomischen Geschichte ist eine Saga, die den Erfolg des US-Filmstudio-Systems erklärt, eines Kampfes, die Finanzkraft der Wall Street zu gewinnen und sich auf ein Monopol hinzuentwickeln, das die Regierung schließlich kontrollieren würde. Es überrascht daher nicht, dass nach den ersten Hinweisen auf eine große Beteiligung von Frauen an der Filmindustrie zunächst eine Erzählung aufkam, die den Eintritt der Frauen in den 1910er Jahren in der Phase der Hausindustrie ansetzte und ihren Austritt 1925 abgeschlossen sah, zeitgleich, wie uns Karen Mahar berichtet, mit großen Bankinvestitionen in die neue männergeführte Industrie.

Um der Erzählung vom Arbeitsplatzverlust Raum zu geben, müssen wir auch die Erzählung von der „genutzten Gelegenheit" aufnehmen, in der einige Frauen nicht nur unternehmerischen Ehrgeiz hatten, sondern auch das Kapital und die Macht besaßen, ihn zu verwirklichen, wie vorübergehend auch immer. Doch wenn wir gerade denken wollen, dass diese Ressourcen nur Mittelklassen-Frauen europäischer Herkunft zur Verfügung gestanden hätten, und vornehmlich solchen aus reichen Familien oder einem durch Berühmtheit zur Verfügung stehenden Einkommen, verschiebt schon ein einzelner Fund die Erzählung. Die kürzliche Wiederherstellung einer Kopie des Spielfilms The Curse of the Quon Dong (1917), der nach Entdeckung und Restaurierung auch ins Nationale Filmregister der USA aufgenommen wurde, stellt die gängige Geschichte in Frage. Nun muss auch die chinesisch-amerikanische Produzentin und Regisseurin Marion E. Wong, die die Mandarin Film Company im kalifornischen Oakland gründete, nicht nur mit einbezogen, sondern auch erklärt werden. Nur wie erfasst diese Geschichte, dass sie selbst eine abgeänderte Geschichte ist? Die Macht des historistischen ›was wirklich geschah‹ droht die Geschichte zu übertrumpfen, die wir als Feministinnen über die Jahrzehnte des Übersehenwerdens und über die feministische Hypothese von ›Frauen als Opfern‹ erzählen wollten, die als aufgegebene Schlussfolgerung in unserer Arbeit wirkte. Auch die materialistischste Analyse, die ökonomische und soziale Faktoren treffend zueinander in Beziehung setzt und das überzeugendste politische Bild hervorbringt, muss immer noch die Politik unserer feministischen Methodik einbeziehen. Fragen wir, was dies ist. Im Moment brauchen wir Frau Wong vielleicht sowohl als eine phänomenale Ausnahme, weil so umso besser ihre Leistung gegen alle Wahrscheinlichkeit behauptet werden kann, als auch als keine Ausnahme, weil sie so umso besser in das Muster der Kämpfe von Immigrantinnen passt, die bis in die Gegenwart reichen. Im Moment müssen wir auch zugeben, dass der Feminismus theoretisch nicht darauf vorbereitet war, die enthusiastische Teilhabe von Frauen an der ökonomischen Seite des Wachstums und der Expansion der neuen industriellen Kunst zu erforschen.

Weil wir wissen, dass das Erzählen von Geschichten immer eine Art Analyse ist, zögern wir an diesem kritischen Punkt. Während wir uns vor weniger als einem Jahrzehnt „keine Frauen" vorstellten, finden wir plötzlich im Jahr 1917 „mehr Frauen". Wie uns Karen Mahar jetzt berichtet, schrieb in diesem Jahr das Photoplay-Magazin von einer „Ihr-eigenes-Unternehmen-Epidemie" und bezog sich damit nicht nur auf die unternehmerischsten Schauspielerinnen Mary Pickford und Clara Kimball Young, sondern auch auf andere, die ungenannt bleiben. Die negativen Konnotationen des „Epidemischen" sind unmissverständlich der Versuch, eine Anomalie des Geschlechts als eine ansteckende Krankheit zu erklären und noch in der Verunglimpfung etwas über eine faszinierenden Abirrung zu notieren. Feminismus hat uns darin geschult, in der „Epidemie"-Metapher die Doppelbotschaft zu sehen, die der weiblichen Leserschaft dieses populären Fanmagazins übermittelte vertraute Ideologie des „alles ist möglich, aber nicht für alle".

Dieser gleiche Feminismus, der uns darauf vorbereitet hat, in der Massenkultur utopische ebenso wie reaktionäre Tendenzen anzutreffen, hätte uns auch darauf vorbereiten sollen, was nach dem gesunden Menschenverstand nicht möglich gewesen sein konnte: auf mehr von Frauen als von Männern gegründete unabhängige Unternehmen während dieser kurzen Periode. Wiederum finden wir (mit Mahar), zeitgleich mit der Mandarin Film Company, weitere Beispiele von Unternehmen „mit Namen von Stars". Nach Mahars erstem Nachweis des Unternehmensbooms um 1917-23 fand man immer weitere Beispiele. Allein im Jahr 1917 entdecken wir die von einer Komödiantin gegründete Flora Finch Company; und die beiden Unternehmen der Schwestern Norma und Constance Talmadge wurden nach ihr genannt. Es gibt die von der walisischen Immigrantin Muriel Harding (die sich selbst Olga Petrova nannte) gegründete Petrova Pictures Corporation und die von einer mexikanisch-amerikanischen Darstellerin gegründete Beatriz Michelena Features. Die legendärste und bekannteste dieser Produzentinnen-Regisseurinnen verließ Universal Pictures und schuf Lois Weber Productions.

Kehren wir zu unserer Erzählung des „Aufstiegs zur Dominanz" zurück, in der wir ein Jahrhundert des us-amerikanischen Kapitalismus als Produkt und Ideologie sehen, die durch Filme exportiert werden, und wir sehen auch, dass die Produktionsgesellschaften der Frauen in den 1910er Jahren erzählerisch erklärt werden können durch das große Wachstum eines amerikanischen industriellen Phänomens: der Massenkultur und des von ihr eroberten heimischen Massenpublikums. Doch wenn wir gerade versucht sind zu glauben, dass Unternehmensgründung ein reines US-Phänomen war, treffen wir auf einen unerwarteten Fall - d.h. unerwartet von einem amerikanischen Standpunkt, der vergisst, konjunkturell im Weltmaßstab zu denken. Blicken wir wieder grade auf das Jahr 1917, finden wir die Darstellerin-Regisseurin-Produzentin Fern Andra, von Hause aus Fern Edna Andrews aus Watseka in Illinois, in ihrem zweiten Jahr als Leiterin von Andra-Film in Berlin und bei der Produktion von vier Filmen, für die sie selbst die Drehbücher schrieb, vier von achtzehn von ihr zwischen 1915 und 1919 produzierten Filmen. Ebenfalls 1917 verließ die Schauspielerin Aud Egede Nissen mit ihren zwei Schwestern das norwegische Stavanger in Richtung Deutschland, nachdem sie in Norwegen das kurzlebige Egede Nissen Filmsbyrå gegründet hatte. Laut Gunnar Iverson produzierte das Unternehmen Egede Nissen im ersten Jahr in Deutschland zehn Spielfilme. In Mexiko Stadt gründeten die Darstellerin Mimí Derba und der Dokumentarfilmer Enrique Rosas Azteca Films und drehten während dessen einjährigen Bestehens vier Spielfilme und zwei Kurzfilme.

Aus diesen neuen Fallstudien lassen sich verschiedene sich mannigfaltig überlagernde Erzählungen skizzieren, wobei eine jede die Perspektive ändert. Eine betont die Erleichterung interkontinentalen Reisens durch die neue Unterhaltungsindustrie und erzählt, wie Fern Andra Chicago verlässt und nach Berlin geht und Mimí Derba New York und Los Angeles besucht und nach Mexiko zurückkehrt. Eine andere behauptet, dass, weil die italienische Filmindustrie in Mexiko Fuß fassen konnte, die Nachahmung von Divas wie Pina Menichelli und Lyda Borelli die dortige Produktion anfeuerte und die Ästhetik des ersten Spielfilms von Azteca Films, En defense propia (1917), bestimmte. Nach einem rein ökonomischen Erzähl-Argument von Kristin Thompson wurde Derbas Unternehmen wegen der Abwesenheit us-amerikanischer Produkte möglich, weil Exporte nach Mexiko nach Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg stark beschränkt wurden. Die wohl stürmischste Erzählung stellt die Mexikanische Revolution in den Vordergrund und sieht Azteca Films nicht nur als Produkt einer vorübergehenden Schwäche us-amerikanischer Dominanz. Rosas und Derba sahen schon die mexikanische Filmindustrie nach der Revolution „mit der der USA, Italiens und Frankreichs aufschließen und den eigenen nationalen Markt beherrschen".

Rey Chow hat zuletzt darauf gedrungen, unsere vergleichenden Herangehensweisen an die Weltkulturen umzuarbeiten. Vergleiche sollten ihrer Ansicht nach immer eine „Kritik der ungleichen Verteilung kulturellen Kapitals" (2006, 86) einschließen. Doch der Feminismus hat uns ohnehin darin geschult, Ungleichheit zu entdecken. Unsere Theorien des Ungleichen und Unterschiedlichen haben die Opfer-These wunderbar unterstützt und wichtige Arbeiten über Frauen, über Sentimentalität und besonders über das Melodrama als Genre unterschrieben. Feminismus muss aber auch das ambivalente Verhältnis von Frauen zur Macht untersuchen, einschließlich ihres eigenen Strebens nach Führung und Macht, um die Werte zu verbreiten, für die sie eintreten und die ihnen am Herzen liegen. Frigga Haug hat provokativ behauptet, dass Frauen begreifen, dass sie in bestimmten Hinsichten die Macht brauchen, über die Männer verfügen, besonders, wenn sie die Tugend verkörpern sollen, die zu verkörpern ihnen abverlangt wird. „Die Konstruktion von Weiblichkeit ist also eine, die Herrschaft zugleich verlangt und versagt und dies in Werte kleidet" (1990, 170). Vor uns liegt die Herausforderung, die strategischen Inanspruchnahmen neu zu denken, die Frauen auf ökonomische Macht und Macht in ihren Partnerschaften mit Männern erhoben haben, was beides, wie wir wissen, so eng miteinander zusammenhängt. Hier sind die Erzählungen wichtig, die sie leidenschaftlich produziert und weltweit zu verbreiten versucht haben. Ich möchte ein Beispiel geben:

Die Abgründe des Lebens

Die deutsche feministische Filmwissenschaftlerin Heide Schlüpmann drängt darauf, die dänische Stummfilmschauspielerin und -produzentin Asta Nielsen als starkes Paradigma zu sehen, in dem die Perspektive der Frauen vorherrscht, die Perspektive der sozialen Klasse aber das dramatische Dilemma in den Schmutz zieht. Wir können vor Nielsens vielversprechender deutscher Karriere mit ihrem ersten dänischen Film Afgrunden, zu Deutsch Abgrund, beginnen, ein erhalten gebliebener Film von 1910, dem mehr Beachtung gebührt. Um uns die Vitalität dieses Paradigmas zu vergegenwärtigen, müssen wir uns die weltweiten Auswirkungen vor Augen halten - die anderen nationalen Kinos, die das zentrale weibliche Paradigma von Nielsen übernommen haben. Wie uns Angela Dalle Vacche berichtet, ist die italienische Diva eine Hommage an Asta Nielsen, Mimí Derba nahm die größten Divas zum Vorbild für ihre Selbstmodellierung. Aber wir sind erst am Anfang eines Überblicks über die Reichweite des Asta-Nielsen-Paradigmas. Irela Nuñez meldet, dass Stefania Socha, gerade von Polen nach Lima gereist, eine Filmschauspiel-Akademie in Perus Hauptstadt eröffnete. Drei Jahre später führte sie Regie und produzierte den vierten peruanischen Spielfilm mit dem Titel Los abismos de la vida/Die Abgründe des Lebens (1929). In Nielsens Film sinkt die Klavierlehrerin, die den Gaucho erschießt, der sie verführt und verlassen hat, auf den Rang eines Barmädchens herab; Bertha, die Gestalt in Sochas Film, fällt von den Höhen ihrer sozialen Klasse herunter, als sie eine Affäre mit ihrem Chauffeur hat. Der skrupellose Chauffeur bringt Bertha für eine Abtreibung zu einem chinesischen Quacksalber. In einer Wendung der Geschichte, die an Cecil B. DeMilles The Cheat (1915) erinnert - der Film löste einen Skandal aus wegen der Besetzung des Bösewichts mit dem japanisch-amerikanischen Sessue Hayakawa - bittet Bertha den chinesischen Doktor um Hilfe, dem die Vergiftung des Chauffeurs aber misslingt, woraufhin er diesen und, als er auffliegt, sich selbst erschießt. Vielleicht erzählt uns dieser Film sogar mehr als Asta Nielsens Film von 1910 über die gesellschaftlichen Tiefen, in die Frauen, häufig als Folge unwiderstehlicher erotischer Anziehung über Klassengrenzen hinweg, fallen konnten. Aber man beachte, wie das Motto der in ihrem Klassenrang gefallenen Frau eine doppelte Arbeit leistet: einerseits erforscht sie die „andere Realität" außerhalb des Horizonts des Mittelklassenpublikums und andererseits wirkte sie historisch als Warnung und Kontrolle junger Frauen. Das Paradigma des Abgrunds erkundet den Lebenswandel der Unterklasse, zu der anständige Frauen während der ersten beiden Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts keinen Zugang erhalten konnten, in die herunterzufallen sie aber gefürchtet haben dürften. Aber für Asta Nielsen war die Unterklasse auch die „andere Realität" der von Entbehrung und Mühsal geprägten Welt der Arbeiterklasse, aus der sie kam. Nicht überraschend wurde Sochas Film Los abismos zu einem Skandal in Peru; Asta Nielsens Abgrund wurde in der US-Version von 1912 neu geschnitten und in Woman Always Pays umbenannt. Obwohl eine Firma aus Toledo in Ohio in diesem Jahr sechs von Nielsens Filmen kaufte, kamen sie vor dem Ersten Weltkrieg niemals in weiten Umlauf (Engeberg 1996, 14).

Als marxistische Feministinnen sind wir darin geschult, mehrfach determinierte Bedingungen zu denken, und möglicherweise hat gerade dieser Ansatz nicht den notwendigen Aufruhr in den historischen Ereignissen selbst und in unserer späteren Vorstellung von ihnen klarmachen können. In einem stärker welthistorisch orientierten feministischen Ansatz bevölkert sich das Filmgeschichtsland immer reicher mit unvorhergesehenen Zusammenstößen und unerwarteten Treffen. Wenn die kulturelle Angst vor dem klassenbestimmten moralischen Abgrund Dänemark, Deutschland, Polen, Peru, Italien, Mexiko und die USA miteinander verband, über wieviele andere Länder erstreckte sich dieses Paradigma dann? Die Teilhabe von Frauen an der entstehenden Industrie in einem Land hing nicht nur von den männlichen Kräften ab, die nach Vorherrschaft in der Welt strebten, sondern auch von der lokalen und internationalen Teilhabe anderer Frauen. Der Kontingenz-Ansatz sieht nicht die zukünftige Richtung der Erzählung der Weltfilmgeschichte vorher, erwartet aber, dass historischen Ereignisse uns erneut in Erstaunen versetzen werden.

Nachtrag: Dieser Beitrag gibt einen Querschnitt durch die Forschung, an der ein Netzwerk internationaler Forscherinnen und Filmarchivarinnen beteiligt ist, das neuerlich als Women's Film History International institutionalisiert ist. Die Gruppe richtet seit 1997 alle zwei Jahre eine Konferenz mit dem Titel Women and the Silent Screen aus. Die nächste wird 2010 in Bologna stattfinden (siehe womensfilmhistoryinternational.blogspot.com).

Aus dem Englischen von Daniel Fastner und Frigga Haug

Literatur

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[1] Anm. Frigga Haug: In dieser Theorie wird das Kino „als ein Produkt des patriarchalen Unbewussten gesehen". Mulvey geht davon aus, dass Filme für ein männliches Publikum gemacht sind und den Bedürfnissen des männlichen Unbewussten entsprechen. Film funktioniert als Blickinszenierung. Die Kamera als Apparat für die Aufnahme wird als Auge gesehen, lenkt den Blick auf bestimmte Dinge. Damit wird auch der Blick der Zuschauenden gelenkt, diese können nichts anderes wahrnehmen als das, was die Kamera ihnen anbietet. Nach einem Rekurs auf psychoanalytische Vorstellungen von Kastration und Fetischismus kommt Mulvey zu dem Schluss, „dass es im Hollywoodfilm keine Position für eine weibliche Subjektivität gibt, da der Film den Zuschauerinnen die eingebaute männliche Sichtweise aufzwingt". Einziger Ausweg sei, diese Form der Schaulust zu zerstören. (Vgl. auch Hipfl 1995, 152f)