Die Zähmung der Big Brothers

Betrachtet man die Lage der deutschen Bürgerrechtsorganisationen, lassen sich gewaltige neue Herausforderungen konstatieren. Die klassische Konfliktlinie Bürger versus Staat, in deren Rahmen die Bürgerrechtsbewegung während der vergangenen sechs Jahrzehnte politisch agierte, hat sich in den letzten Jahren erheblich verschoben. Hierfür gibt es gleich mehrere aktuelle Beispiele: die jüngsten Datenskandale in der Privatwirtschaft, die besondere Rolle des Bundesverfassungsgerichts für den Schutz der Grund- und Freiheitsrechte und den rasanten Bedeutungszuwachs von Fragen, die soziale Grundrechte betreffen. Wie sollten die Bürgerrechtsorganisationen mit dieser neuen Situation umgehen? Dieser Frage widmet sich der Staatsrechtler und Mitherausgeber des „Grundrechte-Reports“ Martin Kutscha. – D. Red.

Haben Sie eine Kundenkarte?“ Wer diese stereotype Frage an den Supermarktkassen mit einem „Nein“ beantwortet, fühlt sich heutzutage schon als Kunde zweiter Klasse. Schutz der eigenen Daten? Kann es uns nicht gleichgültig sein, ob der betreffende Warenhauskonzern durch das Einlesen der Karte unsere Konsumgewohnheiten erfährt? Immerhin wird diese elektronische Offenbarung mit einem (allerdings recht geringen) Rabatt vergolten.

Kaum jemand weiß allerdings, für welche Zwecke und mit welchen Folgen diese scheinbar belanglosen Informationen ausgewertet werden können. Wer häufig fetthaltige Wurst, Kartoffelchips, Bier oder Schnaps kauft, beim frischen Gemüse aber geizt, pflegt offenbar nicht gerade eine gesunde Ernährungsweise – diese Information dürfte nicht zuletzt für Lebens- und Krankenversicherungen, aber auch für potentielle Arbeitgeber durchaus von Interesse sein. Offensichtlich haben wir also angesichts derartiger Szenarien des elektronischen data mining auch im Hinblick auf scheinbar harmlose Daten eine ganze Menge zu verbergen.

Die Datenskandale der letzten Monate – von Lidl, Schlecker über Deutsche Bank und Telekom bis hin zum mehrfachen Massenscreening fast aller Beschäftigten bei der Deutschen Bahn AG – haben nur die Spitze des Eisbergs erkennen lassen. Längst werden Abermillionen personenbezogener Daten gezielt vermarktet und ausgewertet. Dies geschieht allerdings nicht auf dem gewaltigen Zentralrechner eines allmächtigen Big Brother, sondern auf zahllosen, teilweise vernetzten Computern von Behörden und privaten Unternehmen. 1 Während allerdings die Datenerhebung, -verarbeitung und -übermittlung durch öffentliche Stellen in einer unüberschaubaren Vielzahl bereichsspezifischer gesetzlicher Bestimmungen geregelt ist, gelten für den Privatbereich im Wesentlichen nur die generalklauselartigen Regelungen im Dritten Abschnitt des Bundesdatenschutzgesetzes. Das dort in Paragraph 3a verankerte Gebot der Datenvermeidung und -sparsamkeit wird vom Bundesdatenschutzbeauftragten realistischerweise als „frommer Wunsch“ bezeichnet. 2

Auch die Novelle des Bundesdatenschutzgesetzes verspricht hier kaum Besserung. Auf massiven Lobbydruck aus Versandhandel, Direktmarketing- und Verlagsbranche fand das Ziel, die Betroffenen über die Verwendung ihrer personenbezogenen Daten künftig selbst entscheiden zu lassen und ihnen somit die Souveränität über ihre Daten zurückzugeben, keinen Eingang in das reformierte Gesetz. Somit hinkt das Datenschutzrecht den aktuellen Bedrohungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung der Betroffenen auch weiterhin um Meilen hinterher. Die seit Jahren erhobene Forderung nach einem Arbeitnehmerdatenschutzgesetz wurde von der Bundesregierung im Frühjahr 2009 zwar als berechtigt anerkannt. Das Gesetzesvorhaben wurde aber auf die nächste Legislaturperiode verschoben, was in einem merkwürdigen Kontrast steht zur Hektik bei der Verabschiedung neuer „Sicherheitsgesetze“.

Die Reaktionen der Bürgerrechtsorganisationen auf die Datenskandale der letzten Zeit waren ausgesprochen dürftig. Offenbar hat man sich mit dieser Bedrohung durch Privatunternehmen bislang viel zu wenig befasst. Dies dürfte nicht zuletzt damit zu erklären sein, dass diese Organisationen bei ihrer Verteidigung der Grundrechte traditionellerweise fast ausschließlich den Staat als Gegenspieler wahrnehmen, kaum aber private Unternehmen. Im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte der Freiheitsrechte ist diese Haltung zwar berechtigt. 3 Gerade angesichts der aktuellen Entwicklung wird dabei jedoch leicht übersehen, dass der Staat nicht nur als Gefährder der Grundrechte agiert, sondern – scheinbar widersprüchlich – auch als deren Verteidiger in die Pflicht genommen werden muss. In welchem Maße er seiner Schutzpflicht angesichts von Freiheitsgefährdungen durch wirtschaftliche Macht nachkommt, ist freilich eine Frage politischer Auseinandersetzungen – in die sich die Bürgerrechtsbewegung künftig viel stärker einbringen muss. Dabei muss auch die klassische bürgerrechtliche Wahrnehmung des Staates grundsätzlich überdacht werden.

Pyrrhussiege vor dem Bundesverfassungsgericht?

Indem manche Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler fast ausschließlich die Bedrohung der klassischen Abwehrrechte durch den Staat wahrnehmen, richten sich ihre Hoffnungen oft primär auf das Bundesverfassungsgericht. Und in der Tat hat das Gericht in den letzten Jahren mit einer beeindruckenden Reihe von Entscheidungen dem Einsatz neuartiger Überwachungstechniken durch staatliche Sicherheitsbehörden Grenzen gesetzt. Den spektakulären Auftakt in dieser Entscheidungsserie bildete das Urteil vom 3. März 2004 zum sogenannten großen Lauschangriff, in dem das Gericht die Ermächtigung zur „akustischen Wohnraumüberwachung“ in der Strafprozessordnung für teilweise verfassungswidrig erklärte. 4 Begründet wurde dies unter anderem mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie der Notwendigkeit, einen durch die Menschenwürdegarantie absolut geschützten „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ zu respektieren. In späteren Entscheidungen bemängelte das BVerfG auch die Rasterfahndung nach terroristischen „Schläfern“ und schränkte die strafprozessuale Nutzung der Telekommunikationsverkehrsdaten auf der Grundlage der Vorratsspeicherung ein. 5

Geradezu euphorisch begrüßte der überwiegende Teil der Bürgerrechtsorganisationen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Februar 2008 zur „Online-Durchsuchung“. 6 Das Gericht verwarf in dieser Entscheidung nicht nur die entsprechende Ermächtigung im Verfassungsschutzgesetz von Nordrhein-Westfalen, sondern kreierte bei diesem Anlass auch das „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“. Diese – sowohl begrifflich als auch juristisch sperrige – Neuschöpfung wurde von liberalen Kommentatoren als „Schritt von historischer Dimension“, als „juristische und gesellschaftspolitische Sensation“ gefeiert. 7

Verhaltener fiel das Echo in der juristischen Fachwelt aus. Hier bezweifelt man die Notwendigkeit des neuen „Computergrundrechts“ angesichts des seit dem berühmten Volkszählungsurteil von 1983 anerkannten Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. 8 Ebenso berechtigt ist die Frage, warum das Gericht nicht den Mut fand, die heimliche Ausforschung von Computern generell für verfassungswidrig zu erklären; schließlich ist bei dieser Überwachungsmaßnahme die Verletzung des privaten Kernbereichs zwangsläufig vorprogrammiert. „Wenn der Kernbereichsschutz und damit der der Menschenwürde ernst gemeint ist, müssten Aktivitäten, die unvermeidlich das Risiko von Eingriffen mit sich bringen, schlichtweg verboten und nicht unter dem Vorbehalt einer Reparaturregelung zugelassen werden.“ 9 In diesem Sinne argumentierten die beiden Verfassungsrichterinnen Jaeger und Hohmann-Dennhardt bereits in ihrem Minderheitsvotum zum Lauschangriffsurteil von 2004. Hinzu kommt: Das BVerfG erklärte die „Online-Durchsuchung“ dann für zulässig, „wenn tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut bestehen. Überragend wichtig sind Leib, Leben und Freiheit der Person oder solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen oder den Bestand des Staates oder die Grundlagen der Existenz der Menschen berührt.“ 10

Dem Bundesgesetzgeber, der bei der Urteilsverkündung bereits in den Startlöchern für die Verabschiedung einer umfassenden Novelle zum BKA-Gesetz stand, wurde damit geradewegs eine Steilvorlage geliefert. Nach dem neuen Paragraphen 20k dieses Gesetzes darf das BKA nunmehr „ohne Wissen des Betroffenen mit technischen Mitteln in vom Betroffenen genutzte informationstechnische Systeme eingreifen und aus ihnen Daten erheben“ – so die gängige Umschreibung der Online-Durchsuchung –, „wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass eine Gefahr vorliegt für 1. Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder 2. solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen oder den Bestand des Staates oder die Grundlagen der Existenz der Menschen berührt.“ 11 Insoweit hat der Gesetzgeber nahezu wörtlich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts abgeschrieben.

Erst bei genauer Lektüre der Gesamtregelung erschließt sich, dass hier „nach dem Prinzip der haarscharf kalkulierten Überschreitung verfassungsgerichtlicher Vorgaben“ verfahren wurde. 12 So sind beispielsweise die Regelungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung völlig unzureichend. Dies wiederum hat Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler veranlasst, gegen das neue BKA-Gesetz Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe einzulegen. Es ist allerdings fraglich, ob das Gericht den Gesetzgeber zum zweiten Mal in Sachen Online-Durchsuchung in die grundgesetzlichen Schranken verweisen wird.

Und hier zeigt sich das grundsätzliche Dilemma. Denn problematisch ist just die – in der Bürgerrechtsbewegung allzu weit verbreitete – Fixierung auf „Karlsruhe“ als Rettungsinstanz vor dem Überwachungsstaat selbst. Kurz gesagt: Man agiert auf der Basis eines weitgehenden politischen Konformismus. „Der öffentliche Diskurs konzentriert sich häufig auf angebliche ‚verfassungsrechtliche Knackpunkte‘ anstatt auf den politischen Gehalt einer neuen Entwicklung“. 13 Damit wird insbesondere vernachlässigt, dass von der Juridifizierung gesellschaftlicher Streitfragen letztlich eine entpolitisierende Wirkung ausgehen kann – man diskutiert dann nur noch über Rechtsfragen statt über die sozialen Auswirkungen bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungen. Wo es an einer machtvollen Bewegung in der Gesellschaft wie beim Volkszählungsboykott im Jahre 1983 fehlt, sorgt der „Gang nach Karlsruhe“ zwar für kurzfristige mediale Aufmerksamkeit und lenkt den Blick auf bestimmte Gefährdungen von Freiheitsrechten. Das BVerfG hat bisher jedoch in keinem einzigen Fall eine bestimmte Überwachungsmethode generell für unvereinbar mit den Grundrechten erklärt. Im Übrigen ist dabei die nach seiner Rechtsprechung mit der Menschenwürdegarantie unvereinbare Herstellung umfassender Persönlichkeitsprofile angesichts der heutigen technischen Möglichkeiten der Datenerhebung und -auswertung längst keine Utopie mehr.

Dies bedeutet gleichwohl nicht, dass die hier diskutierten Entscheidungen des höchsten deutschen Gerichts als Pyrrhussiege für die Grundrechte abgetan werden sollten. Die darin statuierten Beschränkungen für das Handlungsarsenal von Polizei und Geheimdiensten haben durchaus Wirkungen in der Praxis und sind als rechtsstaatliche Fortschritte nachdrücklich zu begrüßen. Der Notwendigkeit, nicht nur juristische, sondern gerade auch politische Strategien und Kampagnen gegen die fortschreitende staatliche Überwachung entwickeln zu müssen, ist die Bürgerrechtsbewegung damit allerdings nicht enthoben.

Auch soziale Grundrechte sind Freiheitsrechte

Einen wichtigen Beitrag zur politischen Aufklärungsarbeit, die in diesem Zusammenhang geboten ist, leistet der seit 1997 jährlich jeweils zum Verfassungstag erscheinende und von inzwischen neun Bürgerrechtsorganisationen getragene „Grundrechte-Report“. 14 In bewusstem Gegensatz zu den offiziellen Verfassungsschutzberichten prangern die Herausgeber jeweils Fälle der Missachtung von Freiheitsrechten insbesondere durch die Staatsgewalt an; das Spektrum reicht dabei von der Diskriminierung von Flüchtlingen und Migranten über Polizeiübergriffe bis zur Legalisierung neuer Überwachungsbefugnisse. – Nur in wenigen Beiträgen werden allerdings Verstöße gegen soziale Grundrechte thematisiert.

Nun beschränkt sich der Text des Grundgesetzes in der Tat weitgehend auf die klassischen Abwehrrechte, wie sie zum großen Teil bereits in der Paulskirchenverfassung von 1849 verankert waren. Das Fehlen des Rechts auf Arbeit, des Rechts auf Wohnraum oder des Rechts auf Bildung entspringt allerdings keiner grundsätzlichen Ablehnung solcher sozialen Grundrechte seitens der Verfassungsmütter und -väter, sondern lässt sich unschwer mit dem provisorischen Charakter unseres Grundgesetzes erklären. Schließlich sollte die Regelung vieler strittiger Fragen einer gemäß Art. 146 GG vom „deutschen Volke in freier Entscheidung“ zu beschließenden Verfassung des Bundes vorbehalten sein.

Im Gegensatz zum Grundgesetz enthalten die meisten Verfassungen der Bundesländer einen mehr oder minder ausführlichen Katalog sozialer Grundrechte. 15 Die Bundesrepublik ist darüber hinaus als Unterzeichnerstaat des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966 (UN-Sozialpakt) zur Gewährleistung solcher Rechte verpflichtet. Gleichwohl nehmen die allermeisten Juristen soziale Grundrechte nicht ernst. Der Haupteinwand lautet, dass diese Rechte im Gegensatz zu den Abwehr- oder Freiheitsrechten zu unbestimmt und vor Gericht nicht einklagbar seien und deshalb bloße Staatszielbestimmungen darstellten. 16

Dieser Einwand geht jedoch an der Sache vorbei. Ein aktuelles Beispiel für die Missachtung des UN-Sozialpakts in Deutschland ist der Umgang mit dem dort in Art. 13 II c festgeschriebenen Recht auf unentgeltliche Bildung. Nach dieser völkerrechtlichen Norm erkennen die Vertragsstaaten an, dass im Hinblick auf die volle Verwirklichung des Rechts auf Bildung „der Hochschulunterricht auf jede geeignete Weise, insbesondere durch allmähliche Einführung der Unentgeltlichkeit, jedermann gleichermaßen entsprechend seinen Fähigkeiten zugänglich gemacht werden muss.“ Dieser Bestimmung zum Trotz wurden in den letzten Jahren bekanntlich in mehreren Bundesländern wieder Studiengebühren eingeführt. Geradezu verblüffend ist die Argumentation, mit der Gerichte zuletzt den offensichtlichen Widerspruch zwischen der Wiedereinführung von Studiengebühren und dem Gebot des UN-Sozialpakts „glattzubügeln“ versuchten. Stellvertretend sei hier aus dem – inzwischen von den Instanzgerichten im Ergebnis bestätigten – 17 Urteil des Verwaltungsgerichts Minden vom 26. März 2007 zitiert: Die genannte Norm müsse, heißt es dort, im Wege der teleologischen Reduktion einschränkend ausgelegt werden: „Der teleologischen Auslegung liegt die Vorstellung zugrunde, dass der Richter am Wortlaut der Norm nicht Halt zu machen braucht. Seine Bindung an das Gesetz (Art. 20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 1 GG) bedeutet nicht Bindung an dessen Buchstaben mit dem Zwang zur wörtlichen Auslegung, sondern Gebundensein an Sinn und Zweck des Gesetzes.“ Die im Sozialpakt ausgesprochene allmähliche Einführung der Untentgeltlichkeit von Studiengebühren „sollte einen chancengleichen Zugang zur Hochschulbildung ermöglichen. Wird diese Zielsetzung auf anderem Wege erreicht, entfällt die Notwendigkeit, dieses Ziel durch die Unentgeltlichkeit der Hochschulbildung anzustreben.“ 18 Sodann wird die – vielfach widerlegte – Mär aufgetischt, dass Studiengebühren wegen der Darlehensregelungen keine abschreckende Wirkung auf junge Menschen aus sozial schwachen Schichten ausüben würden. 19

Man übertrage diesen fürwahr „lockeren“ richterlichen Umgang mit einem Normtext einmal auf das Gebiet des Straßenverkehrsrechts: Das Durchfahren einer geschlossenen Ortschaft mit 100 km/h, so könnte dann die Argumentation lauten, sei deshalb kein Verstoß gegen Paragraph 3 III StVO, weil es sich um einen erfahrenen Autofahrer gehandelt habe, der auch bei dieser Geschwindigkeit sein technisch hochwertiges Fahrzeug sicher beherrschen könne. Deshalb sei die Geschwindigkeitsbegrenzung zur Vermeidung von Unfällen entbehrlich gewesen. Eine solche „teleologische Auslegung“ würde man vielleicht einem kreativen Anwalt, aber kaum einem Gericht zutrauen. Der Umgang mit der UN-Sozialcharta zeigt indessen, wie wenig die völkerrechtlich bindenden sozialen Grundrechte den verantwortlichen politischen Instanzen und selbst den Gerichten wert sind.

Aber auch in der Wahrnehmung von Teilen der Bürgerrechtsbewegung scheinen die klassischen Freiheitsrechte einen deutlich höheren Rang als die sozialen Grundrechte einzunehmen. Dabei handelt es sich doch auch bei diesen um Freiheitsrechte: Sie begründen ebenso wie die klassischen Abwehrrechte Freiräume für eine selbstbestimmte Lebensgestaltung. Sie verpflichten den Staat, die materiellen Voraussetzungen zu schaffen, damit die politischen Freiheitsrechte auch von allen wahrgenommen werden können. Deswegen besteht auf internationaler Ebene inzwischen auch weitgehend Konsens darüber, dass die bürgerlich-politischen und die sozialen Menschenrechte unteilbar sind. Diese Erkenntnis sollte auch die Bürgerrechtsbewegung stärker in ihrer Arbeit berücksichtigen.

Perspektiven der Bürgerrechtsbewegung

Insgesamt zeigt sich also die Notwendigkeit, den „juristischen Tunnelblick“ abzustreifen und die politische und soziale Bedingtheit des Rechts verstärkt zu reflektieren. Die Entwicklung zu einem „gouvernementalen“ Herrschaftssystem, die Schwächung des Parlamentarismus sowie der Abbau von Freiheits- und Partizipationsrechten haben durchaus benennbare sozialökonomische Hintergründe. 20 Dagegen hegen auch manche Bürgerrechtler die Vorstellung, ein Argument würde schon aufgrund seiner rechtsdogmatischen Schlüssigkeit und Überzeugungskraft vor Gericht und in der politischen Praxis zum Erfolg führen. Die Praxis hingegen sieht anders aus.

Zu erinnern ist auch an die tiefe Ambivalenz rechtlicher Regelungen: Durch sie kann zwar die Ausübung der staatlichen Gewalt eingegrenzt und zivilisiert werden. Zugleich aber dient das Recht zur Legitimation staatlicher Eingriffe in die Freiheit selbst unbescholtener Bürgerinnen und Bürger, wie das neue BKA-Gesetz anschaulich demonstriert. Bürgerrechtliches Engagement muss also auch darin bestehen, das Recht wieder zu mobilisieren „als Ressource und Mittel gesellschaftlicher Veränderung, zur Erweiterung gesellschaftlicher Partizipationsmöglichkeiten, zur Schaffung von Ressourcengerechtigkeit sowie zur Stärkung der Autonomie des Einzelnen.“ 21 Um hierbei Erfolge zu erzielen, sind Bündnispartner wie Verbraucherschutzorganisationen und Gewerkschaften unverzichtbar.

Erforderlich ist aber auch die Kooperation über nationalstaatliche Grenzen hinweg. Um den freien und ungehinderten Kampf für bessere Lebensbedingungen zu gewährleisten, muss die Bürgerrechtsarbeit sich in Reaktion auf die Internationalisierung politischer und ökonomischer Macht deshalb auch selbst supranational vernetzen. Die seit einigen Jahren von unterschiedlichen Basisorganisationen veranstalteten Sozialforen bieten ein Beispiel dafür, welche Formen eine solche Kooperation annehmen kann.

Bedrohungen für die Menschenrechte gehen schließlich schon längst nicht mehr allein von der Machtausübung einzelner Staaten aus, sondern auch von supranationalen und teilweise quasi-staatlich agierenden Organisationen wie der EG/EU. So beruht beispielsweise die Vorratsspeicherung aller Telekommunikationsverkehrsdaten auf einer Richtlinie der EG aus dem Jahre 2006, 22 und der Vertrag von Lissabon soll neue Handlungsbefugnisse der EG-Organe zur „Terrorismusbekämpfung“ und zur Länder übergreifenden Verfolgung von Straftaten schaffen. 23

Zwar hat der Europäische Gerichtshof in Einzelfällen Freiheitsrechte gegenüber Maßnahmen der EG-Administration verteidigt, so etwa im Fall der jeglichen rechtsstaatlichen Prinzipien Hohn sprechenden „Terroristenlisten“. 24 Die Urteile der Jahre 2007/08 in den Fällen „Viking“, „Laval“ und „Rüffert“ belegen jedoch, wie eng sich der EuGH der herrschenden neoliberalen Grundorientierung der EG-Politik verpflichtet fühlt: Die Ausübung des Streikrechts oder andere Schutzmaßnahmen gegen Sozialdumping können danach unter Berufung auf die europäischen Marktfreiheiten unterbunden werden. 25 In langen Kämpfen erfochtene Schutzgewährleistungen zugunsten abhängig Arbeitender werden damit im Namen grenzenloser Unternehmerfreiheit liquidiert. Dies bedeutet nicht nur für die Gewerkschaften eine Herausforderung, sondern auch für die Bürgerrechtsorganisationen. Das Grundrecht der Streikfreiheit (Art. 9 III GG) ist nicht weniger wichtig als die Meinungs- und die Versammlungsfreiheit oder der Schutz vor staatlicher Überwachung.

Die hier diskutierten Herausforderungen verlangen somit nach neuen Antworten seitens der Bürgerrechtsbewegung. Es gilt, die im Zuge der sozialen Polarisierung gewachsene Bedeutung der sozialen Grund- und Menschenrechte zu erkennen, den massiven Datenmissbrauch nicht nur seitens des Staates, sondern auch seitens der Privatwirtschaft in den Blick zu nehmen und die Perspektive der eigenen Politik nicht auf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu verengen. Nur wenn es gelingt, den „juristischen Tunnelblick“ hinter sich zu lassen und stattdessen an den Alltagserfahrungen der Menschen anzuknüpfen und die praktische „Brauchbarkeit“ der Grundrechte jenseits juristischer Spitzfindigkeiten zu verdeutlichen, wird die Bürgerrechtsbewegung – und werden mit ihr auch die jeweiligen Organisationen – auch wieder an Stärke gewinnen. Dieses Ziel zu erreichen, ist angesichts der immensen bürgerrechtlichen Aufgaben, die vor uns liegen, jedenfalls unverzichtbar.

 

1 Vgl. Peter Schaar, Das Ende der Privatsphäre, München 2007; Martin Kutscha, Im Griff der Datenkraken, in: Till Müller-Heidelberg u.a. (Hg.), Grundrechte-Report 2009, Frankfurt a. M. 2009, S. 36-40.
2 Peter Schaar, Datenschutz im Informationszeitalter, in: „Vorgänge“, 4/2008, S. 4-10, hier S. 8.
3 Vgl. Andreas Fisahn und Martin Kutscha, Verfassungsrecht konkret. Die Grundrechte, Berlin 2008, S. 1 ff.
4 Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen, Bd. 109, S. 279-391.
5 Beschluss vom 4.4.2006, Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen, Bd. 115, S. 320 ff., sowie einstweilige Anordnung vom 11.3.2008, „Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht“, 5/2008, S. 543-547; im Einzelnen dazu Martin Kutscha, Überwachungsmaßnahmen von Sicherheitsbehörden im Fokus der Grundrechte, in: „Landes- und Kommunalverwaltung“, 11/2008, S. 481-486.
6 Bundesverfassungsgericht, „Neue Juristische Wochenschrift“, 12/2008, S. 822-837.
7 Thomas Darnstädt, in: „Der Spiegel“, 10/2008, S. 42; Heribert Prantl, in: „Süddeutsche Zeitung“, 27.2.2008; differenzierter dann aber ders., Die Argusaugen des Staates, in: „Blätter“, 4/2008, S. 7-9.
8 Vgl. die Kritik von Oliver Lepsius, Das Computer-Grundrecht: Herleitung, Funktion, Überzeugungskraft, in: Fredrik Roggan (Hg.), Online-Durchsuchungen, Berlin 2008, S. 21-56, sowie Gabriele Britz, Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, in: „Die Öffentliche Verwaltung“, 10/2008, S. 411-415.
9 Michael Sachs und Thomas Krings, Das neue „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“, in: „Juristische Schulung“, 6/2008, S. 481-486 hier S. 485 f.
10 Bundesverfassungsgericht, „Neue Juristische Wochenschrift“, 12/2008, S. 822-837, hier S. 822, Leitsatz 2.
11 BGBl, I/2008, S. 3087.
12 Sönke Hilbrans, Vom BKA zur Bundesstaatsschutzpolizei, in: „Blätter“, 2/2009, S. 12-15, hier S. 14.
13 Ron Steinke, Radikal wie Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht und der Konformismus der deutschen Bürgerrechtsbewegung, in: „Forum Recht“, 4/2008, S. 120-122, hier S. 122.
14 Zuletzt: Till Müller-Heidelberg u.a. (Hg.), Grundrechte-Report 2009, Frankfurt a. M. 2009.
15 Vgl. Hans Karl Rupp, Vom Antifaschismus zum Antikommunismus. Die Begründung der Bundesrepublik, in: „Blätter“, 5/2009, S. 78-87; Martin Kutscha, Soziale Grundrechte und Staatszielbestimmungen in den neuen Landesverfassungen, in: „Zeitschrift für Rechtspolitik“, 9/1993, S. 339-344.
16 Vgl. dazu ausführlich Norman Paech, Die sozialen, ökonomischen und kulturellen Menschenrechte im Rechtssystem der internationalen Wirtschafts- und Handelsordnung, Hamburg 2003, S. 23 ff.
17 OVG Münster, Urteil vom 9.10.2007, „Deutsches Verwaltungsblatt“, 2007, S. 1442-1448; BVerwG, Urteil vom 29.4.2009; Pressemitteilung des BVerwG Nr. 24/2009.
18 VG Minden, „Deutsches Verwaltungsblatt“, 2007, S. 773-780, hier S. 775.
19 Vgl. Annett Mängel, Elitäre Exzellenz, in: „Blätter“, 12/2007, S. 1416-1419.
20 Vgl. Frank Deppe, Krise der Demokratie – auf dem Weg zu einem autoritären Kapitalismus? In: Ders. u.a. (Hg.), Notstand der Demokratie, Hamburg 2008, S. 10-45.
21 Peer Stolle und Tobias Singelstein, Zum Stand der Bürgerrechtsbewegung, in: „Forum Recht“, 4/2008, S. 126-127, hier S. 127.
22 Richtlinie 2006/24/EG; vgl. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Auf dem Weg in den autoritären Staat, in: „Blätter“, 1/2008, S. 61-70.
23 Vgl. auch den Kommentar von Andreas Fischer-Lescano und das Dokument zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über den Lissabon-Vertrag in „Blätter“, 8/2009.
24 EuGH, Urteil vom 3.9.2008, in: „Deutsches Verwaltungsblatt“, 3/2009, S. 175-178; vgl. Rolf Gössner, EU-Terrorliste: Feindstrafrecht auf Europäisch, in: „Blätter“, S. 13-16.
25 Vgl. Felix Stumpf und Markus Büchting, Arbeitnehmerrechte im Sinkflug, in: „Blätter“, 6/2008, S. 83-90; Martin Kutscha, Europäische Union und Grundrechte – Schutz oder Gefährdung? In: Till Müller-Heidelberg u.a. (Hg.), a.a.O., S. 15-19.
Analysen und Alternativen - Ausgabe 10/2009 - Seite 75 bis 82