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Eine queere Kritik am Transsexuellengesetz

in (10.10.2009)

Obwohl das Bundesverfassungsgericht Ende 2007 entschieden hat, dass das Transsexuellengesetz bis August 2009 reformiert werden muss, hat sich bislang noch nichts bewegt. Progressives ist vom Innenministerium aber auch nicht zu erwarten. Auch in der Debatte sind radikal-emanzipatorische Stimmen kaum zu hören. Um Abhilfe zu schaffen, wird hier die Kritik am Transsexuellengesetz in seinen gesellschaftspolitischen Kontext gesetzt und mögliche Punkte für eine weitere Debatte aufgezeigt.

In queer-feministischen Ansätzen wird Geschlecht als soziales Konstrukt begriffen, das „physisches Körpermaterial“, Sexualität und soziale Geschlechterrollen miteinander verknüpft. Dieser Prozess beruht auf der Konstruktion zweier „Gesamtpakete“, die als naturgegeben gelten: nämlich „Mann“ und „Frau“. In diesen Gesamtpaketen wird eine Kausalreihe gezogen, die ausgehend von spezifischen Körpermerkmalen auf die Zuordnung zu einer der beiden Gruppen auf ein mit dieser Gruppe verknüpftes heteronormativ sexuelles Begehren (heterosexuelle Paarbeziehungen) und daran anschließend auf gewisse Funktionen und Eignungen schließt (zum Beispiel Kinder zu bekommen und aufzuziehen). All diese Komponenten gehören zusammen und haben sich in historisch-sozialen Prozessen zum Geschlecht verdichtet - auch wenn die beiden letztgenannten Komponenten in den vergangenen Jahren gesellschaftlich und rechtlich aufgeweicht wurden. Insgesamt sind diese Gesamtpakete als Norm fest etabliert und haben sich tief in gesellschaftliche Verhältnisse, Denk- und Gefühlsstrukturen eingegraben. Über diese Norm werden im Zusammenspiel mit Rassisierung, Klassenzugehörigkeit etc. - Hierarchien hergestellt und reproduziert, die den Zugang zu gesellschaftlichen Möglichkeiten regulieren. Sozial nicht tolerierte Normabweichungen wurden und werden kriminalisiert und/oder als „Krankheit“ dargestellt. Ganz zu schweigen von den vielfältigen Ausgrenzungen im sozialen Umfeld, auf der Straße, in der Arbeitswelt usw., die von offen gewalttätig bis unbewusst-versteckt reichen.
In diesem Kontext befindet sich auch das Transsexuellengesetz: Das Auseinanderfallen von individueller Geschlechtsidentität und Zuordnung nach der Geburt zu einem Gesamtpaket, das eine andere Geschlechtsidentität vorsieht, wird als eine seelische Störung verstanden. Diese muss als psychische Krankheit diagnostiziert werden, um in den Genuss eines Gesetzes kommen zu können, das sich groteskerweise als Ausdruck des im Grundgesetz verbürgten Persönlichkeitsrechts versteht.

Die Behandlung der „Störung“, so leben zu wollen, wie man sich selbst sieht, geht noch weiter: Das Erfordernis der geschlechtsanpassenden (!) Operation zeigt, dass für die rechtliche Anerkennung als Person, ein normierter Körper gefordert wird. Ein vergeschlechtlichter Körper wird sofort mit spezifischen Fähigkeiten und sozialen Aufgaben verknüpft: Ein Kind gebären und aufziehen? Mit der vom Transsexuellengesetz geforderten Zwangssterilisation nicht machbar, wenn man rechtlich als Mann leben will. Durch diese Anforderungen führt das Transsexuellengesetz zu wesentlich mehr Operationen und Sterilisationen. Mit anderen Worten: Um in dieser Gesellschaft als Geschlechtswesen Anerkennung zu finden, lassen sich Menschen zunähen, kastrieren, amputieren, sterilisieren und mit Hormonen voll pumpen. Mit massiven Eingriffen wird eine binäre Geschlechterlogik hergestellt und aufrechterhalten. Das zeigt das Transsexuellengesetz an den ausfasernden Rändern dieser konstruierten Ordnung in aller Deutlichkeit.

Da stellt sich zu Recht die Frage: Wieso sollen immer nur zwei Gesamtpakete möglich sein? Erscheint nicht vielmehr eine Gesellschaft wünschenswert, die sich von Gesamtpaketen verabschiedet und für geschlechtliche Selbstbestimmung jenseits binärer Logiken öffnet? Beantwortet man das mit Ja, reicht es nicht aus, bei einer „toleranzpluralistischen“ Integration von „Betroffenengruppen“ stehen zu bleiben. In der Debatte um das Transsexuellengesetz wird richtigerweise viel von Persönlichkeitsrechten und Selbstbestimmung geredet. Die meisten Debattenbeiträge übersehen aber eines: Die Art und Weise, wie ich mich entscheide, mein Leben zu gestalten, findet in machtvollen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen statt. Diese einfach auszublenden und eine individuell verantwortete Selbstbestimmung auszurufen, greift zu kurz. Radikal emanzipatorische Ansätze verfolgen vielmehr, Normierungslogiken und mit solchen Differenzziehungen verbundene Ein/Ausgrenzungsstrukturen zu überwinden. Ziel ist es, gesellschaftliche Verhältnisse zu schaffen, in denen Menschen real und nicht nur auf dem Papier ihre Lebensweise selbst bestimmen können - das ist unter einem gehaltvollen Persönlichkeitsrecht zu verstehen!

Die aktuellen politischen Entwicklungen geben für eine entsprechende Reform des Transexuellengesetzes aber wenig Mut zur Hoffnung. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach Teile des Transsexuellengesetzes für verfassungswidrig erklärt und den Gesetzgeber wiederholt zu einer grundlegenden Reform aufgefordert, die den gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung trägt.

Es ist jedoch zu erwarten, dass die Bundesregierung lediglich einige kleine Verfahrensfragen ändern und verfassungsrechtliche Minimallösungen übernehmen wird. Primäres Motiv ist wohl, schnell und heimlich das Nötigste zu tun und so die Debatte um die Privilegierung der heteronormativen Ehe-Konzeption zu umgehen. Genau daran hatten sich zentrale Bundesverfassungsgerichtentscheidungen und politische Mobilisierungen aufgehängt.
Die Reform des Transsexuellengesetzes bietet aber durchaus Potential, um Grundannahmen der Geschlechterordnung diskursiv unter Rechtfertigungsdruck zu setzen. Dadurch verschieben sich gleichzeitig auch die strategischen Möglichkeiten, wichtige Bastionen der Geschlechtskonstruktion im Recht weiter abzubauen. Gender-AktivistInnen und sonstige VerfechterInnen radikaler Emanzipationsbestrebungen sollten sich diese Diskussion also nicht entgehen lassen. Zumal es hier in der Sache um nichts weniger geht, als eine entschieden weniger restriktive und gewalttätige Rechtspraxis zu erstreiten.

Dieser Beitrag macht sich daher stark für eine Reform, die Zwangsoperationen und sterilisationen ebenso abschafft wie die Definition Transsexueller als psychisch krank durch das Gutachtenwesen. Der eigene Antrag beim Standesamt muss für die Feststellung des rechtlichen Geschlechtsstatus ausreichen. Dafür bedarf es aber keines eigenen Gesetzes. Also: Transsexuellengesetz auflösen und ein progressives Personenstandsrecht schaffen.

 

 

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Hintergrund:

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Transsexuellengesetz (TSG)

Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen (Transsexuellengesetz- kurz: TSG), erlassen 1980 ermöglicht Personen, die sich ihrem bei Geburt zugeordneten Geschlecht nicht (mehr) angehörig fühlen, zwei Varianten:

  • kleine Lösung: Änderung des Vornamens, Anspruch auf eine entsprechende Anrede, neuer Pass
  • große Lösung: personenstandsrechtliche Anerkennung im neuen Geschlecht, gleichwertig alle Rechte und Pflichten, die diesem Geschlechtsstatus entsprechen
  • Voraussetzungen: Gutachten, die von einer psychiatrischen Diagnose der dauerhaften Transsexualität ausgehen; für die große Lösung zusätzlich: unverheiratet und dauerhaft fortpflanzungsunfähig zu sein (Sterilisation), Operationen an den äußeren Geschlechtsmerkmalen


Queer

  • amerikanisches Schimpfwort gegen Schwule, Lesben, Transgender; bedeutet verquer, absonderlich, pervers
  • Trotzig eigneten sich Lesben, Schwule, transgender und kritische gender-AktivistInnen den Begriff als Selbstbezeichnung an; zudem entwickelten sich wissenschaftlich-theoretische Ansätze, die sich als queer theory, legal queer studies, queer-feministische Geschlechterforschung etc.bezeichnen
  • "Queer ist eine spezifische Perspektive auf dem breiteren Feld sexueller Politiken, (...) die sich gegen gesellschaftliche Regulierungen von Sexualität richten, mittels derer Hierarchien (...) geschaffen bzw. Ausgrenzungen oder Diskriminierungen von einzelnen oder Gruppen gerechtfertigt werden. Politiken demnach, die sich für eine Unterschiedlichkeit sexueller Praktiken, Beziehungen oder Identitäten und für gleichberechtigte Möglichkeiten (...)  individueller und sozialer Existenzweisen einsetzen. Politiken also, die (...) auf eine Entprivilegierung normativ heterosexueller Ordnung und einen entsprechenden gesellschaftlichen Umbau zielen." (Zitat aus quaestio, Queering Demokratie  sexuelle Politiken, quer-Verlag, Berlin 2000)