Wie das Ende der DDR geplant wurde

„Was wäre wenn?“, ruft das Feuilleton den Gipfeln der Geschichte zu, und das Echo ist ein sachdienlicher Hinweis: „Renn!“ Denn wer die Gipfel anschreit, dem werfen sie die Brocken um die Ohren.

Das aber focht unsere tapferen Feuilletonisten bisher nicht an: Kurras, der Mörder des Benno Ohnesorg, war Stasi-Agent? Jetzt muss aber die Geschichte neu geschrieben werden, verlangten die Qualitätszeitungen und waren mit Feuereifer dabei. Doch als dann eine neue DDR-Gemeinheit das trübe Licht einer kleinen Öffentlichkeit erreichte, als dieser Tage, fast 20 Jahre nach dem Einheits-Jubel, der Feier scheinbar spontaner Grenzüberquerungen, des Falls der Berliner Mauer als erzähltem Ergebnis von SED-Blödheit und DDR-Volksfreiheit, der ehemalige West-Berliner Oberbürgermeister Walter Momper so nebenbei gestand, die SED habe ihn wegen der Öffnung der Grenze schon zehn Tage vor dem 9. November informiert – da schwieg das Feuilleton, kalt und erhaben. Und schweigt bis heute.

Nur ein lokaler Berliner Radio-Sender sendete Mompers Geständnis über „Geheimtreffen“ mit Günter Schabowski, fast scheu meldeten „Die Welt“ und die Berliner „BZ“ die Sensation hinterher. Jetzt, so denkt der bescheidene Leser und TV-Konsument, jetzt werden sie aber nur so investigativieren, die Süddeutschen, Frankfurter und Hamburger Großjournalisten. Kann das sein, dass schon wieder die Staatssicherheit, denn ohne die hätte das Treffen ja wohl nicht stattfinden können, die Geschicke der Deutschen bestimmt hat, viel mehr, als es ihr je mit dem Mord an Ohnesorg hätte gelingen können? Nach dem Kurras-Ohnesorg-Geschichtsauflauf kann es doch eigentlich gar nicht anders sein, die Geschichte muss ein weiteres Mal umgeschrieben werden, jetzt erst recht!

Doch kein TV-Sender besuchte Walter Momper bisher zu Hause, kein Frank Schirrmacher, der uns regelmäßig den perfiden Osten erklärt, und kein Cord Schnibben, der in jener Zeit im Palast-Hotel einquartiert war, jenem Hotel, in dem sich Momper und Schabowski trafen, hilft der bisher geschriebenen Geschichte mit einer neuen Reportage aus.

Riccardo Ehrmann bekam im November des letzten Jahres das Bundesverdienstkreuz. Der italienische Journalist hatte in der berühmten Pressekonferenz mit dem SED-Politbüromitglied Günter Schabowski gefragt, nachdem dieser eher nachlässig einen Zettel zur Reisefreiheit verlesen hatte: „Wann tritt denn das in Kraft?“ Und Schabowski antwortete: „Sofort, unverzüglich.“ Der Rest, denkt man, ist Geschichte. Doch neben der Geschichte gibt es eben auch Geschichten. Wie jene, die ein Potsdamer Historiker recherchierte und die ihm Ehrmann, auch 20 Jahre danach, erzählte: Der Chef der DDR-Preseagentur ADN, Günter Pötschke, habe ihn vor der Maueröffnungskonferenz angerufen und ihn gebeten, doch die besagte Frage zu stellen. Und ein Kulturmagazin des MDR interviewte den Italiener, der diese schöne, aber neue Erkenntnis bestätigte, im April. Günter Pötschke, das steht fest, hätte nicht einmal genießt, ohne vorher im Politbüro anzurufen, geschweige denn einen Journalisten zu einem so heiklen Thema mit einer so delikaten Frage zu briefen.

Auch wenn der „Stern“ noch keine Serie mit dem Titel „Schabowskis wahre Tagebücher“ aufgelegt und „Brigitte“ noch kein Porträt des schönen Riccardo („Wie gut kannte er Margot“) veröffentlicht hat, wir sammeln schon mal Indizien, damit das Umschreiben der Geschichten denen, die jetzt noch schweigen, leichter wird: Wann immer in der alten Westrepublik einer eine wie auch immer linke Meinung hatte, wurde ihm dringend nahegelegt, doch „nach drüben“ zu gehen. Kaum einer derer, denen man immer wieder nachdrücklich empfahl, in die DDR zu emigrieren, ist diesem Rat gefolgt. Lange glaubte man, das hätte mit dem Hedonismus der westdeutschen Linken und der schlechten Versorgungslage in der DDR zu tun gehabt. Doch in diesen Tagen drängt sich, oh List der Geschichte, der Verdacht auf, dass die, denen man zum Landwechsel riet, längst wussten, dass die DDR eines Tages rüberkommen würde. Wenn die Birthler-Behörde sich endlich den Grundstücksverkäufen der DDR-Behörden an Westler vor der Wende widmen würde, wären wir bestimmt schon viel weiter.

Der Milliardenkredit, von Strauß der DDR vermittelt, das geräuschlose Verschwinden von Schalck-Golodkowski, dem DDR-Devisenbeschaffer, in die grausame Bewährung am Starnberger See, die Tatsache, dass es ausgerechnet Manfred Stolpe war, der das Treffen zwischen Momper und Schabowski vermittelte: „Es war unser Anliegen, dass Momper das offiziell von der DDR-Führung erfährt, damit sich West-Berlin [auf die DDR-Massen] vorbereiten kann“ – alles deutet daraufhin, dass die deutsche Einheit im Ministerium für Staatssicherheit von langer Hand geplant worden war.

Ausgerechnet der Bundessicherheitsminister Wolfgang Schäuble führte die Verhandlungen über den Einigungsvertrag zwischen DDR und BRD, und während immer noch nach Teilen des verschwundenen SED-Parteivermögens gefahndet wird, schweigt Helmut Kohl eisern über die Herkunft von Millionen-Spenden an die CDU. Gewiss, manches mag noch im Dunklen liegen, doch sicher ist, dass Erich Mielkes legendärer Satz „Ich liebe Euch doch alle“ dringend einer Neuinterpretation bedarf. Das deutsche Feuilleton wird sich dieser Aufgabe bestimmt nicht versagen.

 

Aufgespießt - Ausgabe 08/2009 - Seite 38 bis 39