Pakistans Armee hat im Nordwesten des Landes eine Großoffensive gestartet - kurz nachdem eine Bewegung von unten der Regierung eine herbe Niederlage zugefügt hatte. Stefan Bornost schildert die Ereignisse.
Mindora im Nordwesten Pakistans war einmal
eine lebendige Stadt mit 300.000 Einwohnern. Jetzt ist sie, so die
pakistanische Zeitung Dawn, »still wie ein Grab. Die Märkte sind
verlassen, die Häuser tragen die Spuren von schwerem Beschuss«.
Mindoras Einwohner sind geflohen - und nicht nur sie. Seit Pakistans
Präsident Asif Ali Zardari am 5. Mai den Angriff auf die islamistischen
Gruppen im Nordwestterritorium Pakistans befohlen hat, haben 2,5
Millionen Menschen ihre Heimat verlassen. Das ist die größte
Massenflucht seit dem Völkermord in Ruanda vor 15 Jahren.
Die planmäßige Entvölkerung ganzer Gebiete gehört zur Strategie der
Regierung in Islamabad. Flucht und Vertreibung werden durch
Evakuierungsbefehle, das Sperren von Strom und Gas, Ausgangsverbot rund
um die Uhr und schließlich durch massive Luftangriffe auf Dörfer und
Stadtteile forciert.
Die Offensive der pakistanischen Armee ist direkt auf Druck aus
Washington zurückzuführen. Barack Obama hatte die Regierung Zardari
öffentlich dafür kritisiert, nicht hart genug gegen Islamisten
durchzugreifen. Schon seit 2002 bombardiert die US-Armee neben
Afghanistan auch Ziele in Pakistan. Bei diesen Angriffen wurden viele
Zivilisten getötet, was den islamistischen Gruppen immer wieder neue
Rekruten zutrieb.
Auch die diversen Einsätze der pakistanischen Armee in den letzten
Jahren haben den Widerstand gestärkt. Diese fanden ihren Höhepunkt im
August 2008 in der nur wenige Autostunden von der Hauptstadt Islamabad
entfernten Swat-Region, die bis dahin hauptsächlich wegen ihrer
Schönheit und ihrem touristischen Wert bekannt war. Der Angriff der
Armee trieb 400.000 Menschen in die Flucht. Zehntausende von ihnen
landeten in Karachi, der größten Stadt des Landes. Dort beschuldigte
sie der dortige Bürgermeister, die Taliban in die Stadt zu bringen.
Daraufhin kam es zu Pogromen gegen die Flüchtlinge. Mehrere Dutzend
Menschen wurden umgebacht.
Die Offensive vom August 2008 scheiterte und Zardari war gezwungen,
eine demütigende Waffenruhe mit den Aufständischen einzugehen. Die
Einwohner von Swat wurden der Herrschaft der Mullahs übergeben. Diese
führten die Scharia ein und kontrollieren die Gerichte. Mädchen wurde
der Zugang zum Bildungswesen verhindert, Frauen durften nicht mehr
einkaufen gehen und konnten in ländlichen Gegenden nicht einmal mehr
Wasser aus den Brunnen holen.
Dafür hatten die Armen auf dem Land nicht gekämpft, als sie die Führung
der Taliban im Widerstand gegen die Militäroperationen der USA und der
pakistanischen Regierung akzeptierten. Ihre Wut begann, sich nun gegen
die Taliban zu richten. Diese Entfremdung zwischen den islamistischen
Gruppen und der lokalen Bevölkerung versucht die Armee mit einer
erneuten Offensive zu nutzen. Doch die Vertreibung von 2,5 Millionen
Menschen und die Zerstörung ihrer Häuser und Lebensgrundlagen wird die
Einwohner der Nordwestprovinzen nicht zu Freunden der Zentralregierung
machen - vor allem nicht in der derzeitigen sozialen Situation: Der
Krieg und die Flüchtlingskatastrophe trifft die Menschen in Pakistan in
einer verzweifelten wirtschaftlichen Lage. In den vergangenen Jahren
hatte das Land noch Teil am globalen Aufschwung - mit einem
Wirtschaftswachstum von sieben bis acht Prozent pro Jahr. Seit Ausbruch
der Krise befinden sich die Exporte im freien Fall. Die Börse ist
zusammengebrochen.
160 Millionen Menschen leben in Armut, das ist ein Viertel mehr als vor
fünf Jahren. Pakistan investiert lediglich 2,1 Prozent seines
Bruttoinlandsproduktes ins Bildungswesen. Mit diesem Anteil rangiert es
weltweit unter den letzten zwölf Staaten. Mädchen sind besonders
benachteiligt: Nur etwa jede dritte Frau kann lesen und schreiben.
Kinderarbeit ist zwar offiziell verboten, jedoch gängige Praxis.
Um den sofortigen Staatsbankrott abzuwenden, ist der Internationale
Währungsfonds mit einem Notkredit in Höhe von sieben Milliarden Dollar
eingesprungen. Dass dieses Geld bei den Bedürftigen ankommt, ist
unwahrscheinlich. Transparency International, eine unabhängige
Forschungseinrichtung, listet Pakistan nach Nigeria als das
zweitkorrupteste Land der Welt.
Wesentlich verantwortlich für diese Zustände ist die eigentliche Macht
im Staate, die Armee. Das Militär ist der größte Unternehmer im Land
und einer der größten Landeigner. Generäle handeln mit Immobilien und
führen große Exportfirmen. Ihre Kinder gehen auf armeeeigene Schulen
und spielen auf Squashplätzen, die auch schon mal mit Marmor ausgelegt
sind.
Korruption und systematische Unterentwicklung sind auch ein weiterer
Grund für das Erstarken islamistischer Gruppen in den nordwestlichen
Provinzen. Dass eine wachsende Zahl von Kindern in Madrasas, religiösen
Schulen, ausgebildet wird, zeugt nicht vom Erstarken der islamistischen
Parteien, sondern von der Armut der Bevölkerung. Für sie stellen die
Madrasas die einzige Möglichkeit dar, ihren Kindern zu Bildung zu
verhelfen.
US-Präsident Obama hat die Offensive der pakistanischen Regierung
begrüßt - ohne das Flüchtlingselend weiter zu thematisieren oder die
zahllosen zivilen Opfer. Damit bestätigt er die schlimmsten
Befürchtungen der internationalen Friedensbewegung: Die unter Bush
angefangenen Kriege werden von der Obama-Regierung nicht beendet,
sondern sie eskalieren.
Die Linke ist in Pakistan traditionell schwach, eingekeilt zwischen dem
Militär und den Islamisten. Dennoch gab es in den Monaten vor der
Offensive ermutigende Entwicklungen, die den Weg zu einer breiteren
linken Bewegung öffnen könnten. Menschen tanzten am 16. März auf den
Straßen als die Regierung die Wiedereinsetzung des Obersten Richters
Iftikhar Chaudhry bekannt geben musste. Chaudhry ist eine
außergewöhnliche Persönlichkeit. In Pakistan gibt es keine Tradition
einer unabhängigen Justiz. Deshalb hat Chaudhry viele überrascht, als
er sich mit den mächtigen Geheimdiensten anlegte und Nachforschungen
nach den »Verschwundenen«, von Staatsbehörden entführten
Oppositionellen, anstellte. Zudem annullierte er die Privatisierung von
Pakistan Steel, einer großen Staatsfirma, die zu einem lächerlichen
Preis an einen Günstling des ehemaligen Präsidenten Pervez Musharraf
verscherbelt worden war.
Deshalb war Chaudhry ein Dorn im Auge der Regierung und wurde 2007 von
Musharraf abgesetzt. Schon damals hatte sich eine starke Bewegung mit
Rechtsanwälten an ihrer Spitze für Chaudhry eingesetzt. Der politische
Druck war so hoch, dass der damalige Präsidentschaftskandidat Zardari
die Wiedereinsetzung von Chaudhry zu einem seiner zentralen
Wahlversprechen machte. Nach der Wahl wollte er davon allerdings nichts
mehr wissen. Zardari gilt als einer der korruptesten Politiker
Pakistans und heißt im Volksmund »Mr. zehn Prozent«, weil er bei jedem
Geschäft mit abkassiert. Er hatte also gute Gründe, Chaudhry zu
fürchten.
Doch Zardaris Pläne wurden von unten durchkreuzt. Woche für Woche
hatten Rechtsanwälte vor den Gerichtsgebäuden Proteste organisiert. Die
Aktionen sollten in einen »langen Marsch« nach Islamabad münden.
Zardaris Reaktion war brutal: Die Polizei prügelte demonstrierende
Rechtsanwälte und ihre Sympathisanten zusammen, Hunderte wurden
eingesperrt und der Oppositionspolitiker Nawaz Sharif unter Hausarrest
gestellt.
Die Reaktion der Bewegung folgte prompt: Die Hauptverkehradern im
Punjab, Pakistans größter Provinz, wurden von Demonstranten mit Hilfe
von großen Transportcontainern versperrt. Während so dem Militär der
Weg blockiert war, machten sich Tausende aus Karachi und anderen großen
Städten auf den Weg zum Obersten Gericht in Lahore. Trotz ständiger
Attacken erreichten 4000 am Morgen des 15. März ihr Ziel, den zentralen
Platz vor dem Gericht. Die Demonstranten konnten den Platz mehrere
Stunden halten - trotz hunderter Gasgranaten und Knüppelangriffen der
Polizei. Millionen saßen vor den Fernsehern und sahen die
Entschlossenheit und den Mut, mit dem sich die Demonstranten für
Chaudhrys Wiedereinsetzung verprügeln ließen. Am Ende des Tages war
ganz Pakistan in Empörung über die Regierung vereint, führende
Polizeioffiziere in Lahore traten zurück und schließlich musste Zardari
nachgeben. Am Morgen des 16. März verkündete die Regierung die Rückkehr
Chaudhrys auf den Posten des Obersten Richter. Dies war ein Sieg gegen
das korrupte politische System und den allmächtigen Staatsapparat, den
bis dahin niemand für möglich gehalten hätte. Mit diesem Rückenwind
versucht die pakistanische Linke jetzt den Protest gegen den Krieg im
Nordwesten zu organisieren, um die Regierung zu zwingen, aus Obamas
Krieg auszusteigen. Hier liegt die Hoffnung für eine neue Linke in
Pakistan
Zum Autor:
Stefan Bornost ist leitender Redakteur von marx21.