Vom Brief der Bischöfe zum Brief der Acht

Divergierende Dynamiken in den deutsch-polnischen Beziehungen- von Albrecht Lempp

In den deutsch-polnischen Beziehungen der Nachkriegszeit gibt es zwei versetzt verlaufende Entwicklungskurven: einerseits die der zivilgesellschaftlichen Kräfte, häufig im Kontext eines intensiven kulturellen Austauschs oder auch kirchlicher Initiativen, andererseits die der politischen Kräfte. In den 1960er und 1980er Jahren waren die gesellschaftlichen Kräfte Motor für die Fortentwicklung der Beziehungen, in den 1970er und 1990er Jahren dagegen stand die Dynamik des politischen Handelns im Vordergrund. Verkürzt kann man sagen, dass der deutsch-polnische Dialog der Nachkriegszeit mit dem Brief der polnischen Bischöfe als symbolischer Zäsur seinen Anfang hatte, während für die 1970er Jahre die Ostpolitik Willy Brandts, der Warschauer Vertrag und Brandts Kniefall stehen. Auch die Erleichterungen, die aus den KSZE-Verhandlungen von 1975 in Helsinki resultierten, waren Ergebnisse politischer Entscheidungen. Ganz anders die 1980er Jahre: Hier bildete die Politik das verzögernde, das konservierende Element, während die Hilfssendungen für Polen, aus der Bevölkerung heraus organisiert, die gesellschaftliche Stimmung widerspiegelten. Nach der Wende von 1989 gaben in den 1990er Jahren politische Entwicklungen das Tempo der Veränderungen vor und gestalteten die Qualität der Beziehungen: Der NATO-Beitritt Polens und die Vorbereitungen für einen EU-Beitritt bestimmten das Bild.

Noch ist es zu früh, für das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ein Etikett zu vergeben. Noch ist der Abstand zu kurz, das Jahrzehnt nicht zu Ende und die Dichotomie der Kraftfelder zu stark. Einerseits gilt weiterhin das Primat der Politik: Nicht nur der EU-Beitritt am 1. Mai 2004, der nach der langen Vorlaufphase schon fast als Antiklimax empfunden wurde, auch die rapide Verschlechterung im Klima der deutsch-polnischen politischen Beziehungen ist charakteristisch. Wobei die Frage fast zweitrangig ist, welches Ereignis oder welche Abfolge von Ereignissen zu dieser Verschlechterung geführt hat. Ein wichtiges Ereignis hier ist ganz bestimmt Polens Unterschrift unter den Brief der Acht im Jahre 2003, der den Hoffnungen auf eine gemeinsame EU-Außenpolitik einen schweren Dämpfer versetzte. Wie blank die Nerven lagen, wurde deutlich, als Staatspräsident Chirac den Polen über den Mund fuhr, die ihm daraufhin nichts schuldig blieben. Bundeskanzler Schröders Reaktion soll angeblich auch nicht zitierfähig gewesen sein.

Gleichzeitig erklärte Schröder etwa zu dieser Zeit und mit Blick auf die bevorstehende EU-Erweiterung sinngemäß, das Ende der Nachkriegszeit sei gekommen. Damit geht der deutsch-polnische Nachkriegsdialog, der ein Dialog der Versöhnung war, nach nicht ganz einem halben Jahrhundert zu Ende. Zwei Briefe, die ansonsten nichts miteinander gemein haben, markieren seinen Anfang und sein Ende: der Brief der Bischöfe und der Brief der Acht.

Selbstverständlich, und das muss hier nicht weiter ausgeführt werden, sind andere Ereignisse zu Beginn des 21. Jahrhunderts oder sogar zum Ende des 20. Jahrhunderts ebenfalls wichtig, genauso wichtig, oder, je nach Blickwinkel und Einstellung, noch wichtiger: der Papierkrieg, die Sprachlosigkeit nach dem 1. Mai 2004 und vieles mehr.

Zurück jedoch zum Primat der Politik als dem Einerseits. Das Andererseits ist die ungeheure Stabilität und Standfestigkeit, die von den zivilgesellschaftlichen Kräften in einer Zeit ausging, als die politische Kooperation auszutrocknen drohte und das Deutschland-Bashing zwei Jahre lang den Rang einer auswärtigen Regierungspolitik hatte. Das hieße, dass das Entweder-Oder der 1970er und 1980er Jahre einem Nebeneinander Platz gemacht hat, in dem die Politik die Themen vorgeben kann, die Qualität der Beziehungen jedoch von den gewachsenen, d.h. über die Jahre und Jahrzehnte aufgebauten Kontakten und Kooperationen geprägt ist. Der Übergang ist, so möchte man im Rückblick sagen, zumindest in Teilen bestimmt schon in den 1990er Jahren angelegt.

Während der Regierungszeit der PiS (Partei „Recht und Gerechtigkeit") kollidierten unterschiedliche Entwicklungen, deren Inkompatibilität durch die ideologische und verbale Verzerrung wie unter einem Vergrößerungsglas noch erschreckender aussahen, als sie es tatsächlich waren: Die zunehmende Bedeutung zivilgesellschaftlicher und kommunaler Initiativen stand in Konflikt mit dem Versuch der Regierung, die Zivilgesellschaft klein zu halten; eine aus den Meinungsumfragen herauszulesende freundliche Annäherung von Deutschen und Polen kollidierte mit dem Versuch, das Bild vom bösen Deutschen, der die territoriale Integrität Polens und den Besitzstand seiner Einwohner bedroht und sich weigert, in Polen einen gleichberechtigten Partner zu sehen, aufrechtzuerhalten. Allerdings wurde die Forderung nach gleichberechtigter Behandlung von vornherein zu einer Karikatur des eigenen Anspruchs, da der Anspruch auf den Opferbonus mit der gleichen Vehemenz wie zu kommunistischen Zeiten eingefordert wurde.

Gerade wegen dieser Überzeichnungen und Verzerrungen erschien nach den Wahlen vom Herbst 2007 die Erwartung berechtigt, dass die politische und zivilgesellschaftliche Ebene in Ton und Inhalt nun wieder zusammenfinden. Wie weit das stimmt, wird sich zeigen. Sicher ist aber: Die Unterschiede, die es tatsächlich gibt und die weiter bestehen, auch wenn die Politiker anders damit umgehen, verlangen auch künftig Rücksichtnahme, Einfühlungsvermögen und reiche Detailkenntnisse, will man das geklebte Porzellan nicht schon wieder vom Regal fegen.

 

Gefühlte und gemessene Unterschiede

Als 1991 die erste große Untersuchung zur deutsch-polnischen Befindlichkeit von „Spiegel" und Pentor1 durchgeführt wurde, fiel die Nonchalance auf, mit der unterschiedliche Begrifflichkeiten über einen Kamm geschoren wurden. In Vergleichspaaren wurden Eigenschaften wie „gründlich" und „diszipliniert" von den Auswertern problemlos als positive Merkmale gewertet, „oberflächlich" und „undiszipliniert" als negative. Dies mag auf den ersten Blick einleuchten. Wenn man sich jedoch das gründliche und disziplinierte Verhalten der deutschen Besatzer Polens im Zweiten Weltkrieg in Erinnerung ruft, kommen einem Zweifel, ob wir wirklich das gleiche meinen, wenn wir dieselben Ausdrücke verwenden.2 Nähe und Nachbarschaft hin oder her: Wenn es um die Geschichte geht, leben Deutsche und Polen in zwei verschiedenen Welten.

Die Sensibilität bei der Auswertung von Erhebungen ist heute wohl höher, was aber insgesamt die Interpretation von Umfragedaten nicht unbedingt erleichtert. Manchmal ticken wir einfach anders: Polen haben, wie gerade unter Wirtschaftsleuten bekannt ist, eine andere Art, Aufgaben „abzuarbeiten", und ein anderes Verhältnis zur zeitlichen Dimension, in der die Aufgaben erledigt werden. Sie verkörpern den polychron handelnden Typ, während der typische Deutsche als monochron gilt.3 In der Praxis heißt das schlicht, dass polnische Manager bei Verhandlungen, Planungen und der Projektumsetzung eher zwischen verschiedenen Aufgaben und Aktionen hin- und herwechseln, also auch mit mehreren Bällen jonglieren, während der deutsche Kollege eher wie Homer Simpson mit der Checkliste arbeitet und als erledigt abhakt, was erledigt ist, um dann zum nächsten Punkt überzugehen. Als Folge ergibt sich, dass Verhandlungsergebnisse offen bleiben, auch wenn die Tinte unter dem Vertrag längst trocken ist. Die Erfordernisse der Wirklichkeit sind gewichtigere Argumente als die Formulierung im Vertragswerk. Verträge kann man ändern und der neuen Wirklichkeit anpassen, lautet die Devise in Polen; der Vertrag nagelt uns auf eine Wirklichkeit fest, an die wir uns zu halten haben, heißt es in Deutschland.

Klassisch wie im Lehrbuch kommt der Wunsch nach Nachverhandlungen denn auch immer prompt auf, wenn wieder ein Regierungsmitglied ein Vertragswerk abgesegnet, unterzeichnet oder sonstwie gutgeheißen hat. Das war nach den kräftezehrenden Verhandlungen über den europäischen Vertrag 2006 in Brüssel so4 und während der polnisch-amerikanischen Gespräche über Raketenabschirmschilde. Natürlich spielen und spielten hier noch ganz andere Faktoren eine Rolle. Man sieht an diesem leicht überdehnten Beispiel aber deutlich, dass die Orchestrierung der Wünsche und Bedürfnisse von 27 Mitgliedstaaten möglicherweise eher eines monochronen Zugangs bedarf, sonst bekommt man den Sack mit Flöhen nie zu. Dieses Phänomen ist in anderem Gewand nichts anderes als die berühmte Fähigkeit der Polen, zu improvisieren und im letzten Moment alle Kraftreserven zu mobilisieren, um das angepeilte Ziel doch noch zu erreichen. Das eine wie das andere ist gewöhnungsbedürftig, je nachdem, welche Sozialisation man durchgemacht hat.

Das Stimmungsbild zugunsten der Deutschen verbessert sich. Doch seien wir vorsichtig mit Umfragen und deren Aussagen, vor allem, wenn wir sie aus zweiter Hand, aus unberufener Hand, aus den Medien nämlich bekommen. Politologen und Soziologen verfolgen grosso modo oder en détail, wie die Deutschen und die Polen heute zueinander stehen, wie sie sich sehen und wie sich ihre Zu- und Abneigungen über die Jahre verändern. Dank Powerpoint kommen dabei immer schönere Tortengrafiken, Säulendiagramme und Kurven heraus. Von Fachleuten zusammengestellt und interpretiert, fügen sie sich ganz ohne Zweifel zu einem Abbild der gefühlten Temperatur zwischen den einzelnen Gruppen und Schichten beider Gesellschaften.

Dass beim Fußballspiel Deutschland gegen Spanien bei den Europameisterschaften 2008 die polnischen Sympathien mehrheitlich bei Spanien lagen (angeblich zu 75 Prozent), konnte man ohne komplizierte Umfragen spüren, gibt aber doch zu denken. Interessanter wäre es im Übrigen gewesen, wenn es zu einer Endspielkombination Deutschland-Russland gekommen wäre. Wem hätten da die Sympathien gegolten? Vielleicht hätte der Angstfaktor eine Mehrheit für Deutschland jubeln lassen: Angeblich ist für mehr als 60 Prozent der Polen Russland ein Angstfaktor, wohingegen dies nur für gut 20 Prozent der Polen im Falle von Deutschland gilt.5 Zwar steigen die Sympathiewerte in der polnischen Bevölkerung für die Deutschen stärker als die der Deutschen für die Polen, doch letztere steigen eben auch. Außerdem verringert sich die Zahl der Deutschen stetig, die mit Polen vor allem eine hinterwäldlerische Rückständigkeit verbinden, die also gleich den vom Ackergaul gezogenen Bollerwagen vor Augen haben, wenn sie „Polen" hören. Ganz langsam, so die Aussagen der Meinungsbefrager, schiebt sich ein ganz anderes und positiv besetztes Bild ins Bewusstsein: Dynamik ist das Etikett, mit dem die zum Teil rasanten Veränderungen in Polen konnotiert werden. Angesichts eines anhaltenden Wirtschaftswachstums von weiterhin über fünf Prozent pro Jahr, einem starken Złoty und dem Prädikat der Leute von Ernst & Young, derzeit (2008) für Investoren das attraktivste Land in Europa zu sein, überrascht das Kenner nicht.6

Der Sprung des angehenden Tigers in Zentraleuropa war Mitte der 1990er Jahre noch zu kurz, um sich ins Bewusstsein und Gedächtnis der Nachbarstaaten einzugraben; Polen war auch noch „jenseits Europas", also außerhalb der EU, und vor allem Absatzmarkt und nicht auch Produktionsstätte. Heute ruft der langjährige Präsident der polnischen Nationalbank und Begründer des Forums zur Entwicklung einer Zivilgesellschaft (FOR), Leszek Balcerowicz, seinen Mitbürgern und vor allem der Tusk-Regierung zu, den Tigersprung endlich zu wagen.7 Gelänge er diesmal, wäre ein Stimmungsumschwung bei den auswärtigen Beobachtern garantiert. Die immer seltener bemühte „polnische Wirtschaft" würde endgültig durch das „polnische Wirtschaftswunder" abgelöst.

Wenn man sich in solch einer Gemengelage vor Augen führt, wie lange es gedauert hat, bis in der westdeutschen öffentlichen Meinung das Bild des Spaghetti futternden italienischen Gastarbeiters zum Vertreter eines Landes mutierte, dessen Espresso, Wein und Grappa zu trinken selbstverständlich geworden ist und dessen Küche (teutonisch adaptiert) bis auf den bayerischen Leberkäs in weiten Teilen die deutsche Küche ersetzt hat, wer sich vor Augen führt, wie lange es gedauert hat, bis Italien zum Synonym für Mode aus Mailand und Ferien in der Toskana wurde, der sollte die Bedeutung solcher Verschiebungen nicht unterschätzen.

Wie träge die Politik unter Hinweis auf die Erwartungen der „Normalbürger" darauf reagiert, zeigt die politische Diskussion und Entscheidung, den deutschen Arbeitsmarkt gegenüber den neuen EU-Mitgliedern bis 2011 abzuschotten. „Polens langer Weg nach Europa", möchte man denken und mit Dante Alighieri seufzen: „Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!" Psychologisch ist die Entscheidung verheerend, denn sie perpetuiert, was der ehemalige Außenminister Polens, Bronisław Geremek, Mitte der 1990er Jahre als die Karottentaktik der Alt-EU kritisiert hatte: Man hält uns ständig eine Karotte vor die Nase, doch verringert sich die Distanz bis zum Beitritt nicht. Nun, der Beitritt ist erfolgt, die Distanz hat sich folglich verringert, doch immer noch ist man nicht Voll-Mitglied, weil die letzte Karotte noch nicht verspeist ist. Das ist die Politik und ihre Wirkung.

Die Praxis ist, natürlich, eine ganz andere und Bundesregierung und Gewerkschaften wissen das am besten. Die Praxis folgt nicht Dante, sondern Georg Kreisler, der da kalauerte: „Wir treten trotzdem ein".8 Denn letztlich wird der Schein einer Abschottung wie ein Feigenblatt gehandhabt, während Ausnahmeregelungen und sonstige Absprachen bis, möglicherweise, hin zur völligen Öffnung für Akademiker das Bollwerk längst so löchrig gemacht haben wie den klassischen Schweizer Käse.

Die Zahl der polnischen Arbeitnehmer und Selbstständigen, die 2005 legal in Deutschland arbeiteten, überstieg die Zahl derer, die damals unter großem Getöse der Medien nach Großbritannien und Irland aufbrachen, um zu arbeiten.9 Mittlerweile hat sich das ausgeglichen, sind Briten und Iren tatsächlich die größten legalen Arbeitgeber - oder waren es für einige Zeit, denn schon hat der Rückmarsch begonnen: Der starke Złoty, das vergleichsweise schwache Pfund, die Verbesserung der Arbeitsmarktsituation in Polen inklusive einer rapide steigenden Gehaltskurve haben bewirkt, dass die Heimkehrerquote heute höher ist als die Auswandererquote. Ob auch der Abgang des nörgeligen Chaosproduzenten Kaczyński manche zur Heimreise veranlasst hat, wie es die Bürgerplattform will, mag dahingestellt sein.

Die Medien sind jedes Mal dabei, wenn es darum geht, Ängste vor dem polnischen Klempner und Fliesenleger zu schüren. Sie waren dabei, als 1991 die Visafreiheit im Grenzverkehr zwischen Deutschland und Polen eingeführt wurde, und sie waren dabei, als Polen im Dezember 2007 der Schengen-Gruppe beitrat. Jedes Mal und in jedem Fall war, wenn man den Medien Glauben schenken wollte, Gefahr im Verzug. Im Oktober 2007 musste Innenminister Wolfgang Schäuble seine Polizisten im Grenzgebiet von Mecklenburg-Vorpommern sogar zur Ordnung rufen, als diese ihrem Unmut über die Grenzöffnung durch Streiks und Demonstrationen öffentlich Ausdruck verleihen wollten. Man solle die Erweiterung der Schengen-Zone doch als das nehmen, was sie vor allem ist: ein letztmaliges, ultimatives Aufreißen des Eisernen Vorhangs, rief er ihnen zu.10 Bei jeder Öffnung war der Schaden bisher geringer als angekündigt, und auch wenn im einen oder anderen Fall „nachgearbeitet" werden musste, verstärkte PKW-Kontrollen im grenznahen Bereich für einige Zeit notwendig wurden, so blieben die Probleme beherrschbar und konnte mittelfristig keine Verschlechterung der Lebensqualität festgestellt werden.

Hier sieht man, wie schwer man trennen kann zwischen echten Bedrohungen, begründeten Sorgen und Stimmungsmache. Die Medien geben keine Entwarnung, weil das die Auflage nicht steigert; Politiker tun es nicht, weil sie möglicherweise verantwortlich gemacht werden, wenn im Einzelfall doch etwas schief läuft; die Erinnerung verblasst schnell, und schon steht die nächste Bedrohung vor der Tür, mit der gezündelt werden kann.

Polen hat durch seine politische Repräsentanz 2006/2007 auf der internationalen Bühne und in der europäischen Öffentlichkeit ohne Zweifel an Ansehen verloren. Der Umschwung vom hinterwäldlerischen zum dynamisch-jungen Polen in der Außenwahrnehmung hat sich deshalb vielleicht verlangsamt. Aber nur vielleicht. Denn gleichzeitig hat das erratische Verhalten der Zwillinge zu einer erhöhten Aufmerksamkeit für das geführt, was an der Ostgrenze der EU geschieht. Und es ist vor allem dies, was Polen braucht: erhöhte Aufmerksamkeit. Die Meinungsumfragen zeigen, dass immer noch gut 20 Prozent der Deutschen mit dem Land Polen und seinen Menschen gar nichts verbindet: Null, nichts.11

Hier scheint mir immer noch und schon lange das eigentliche Problem zu liegen. Wenn die Politiker im „Spiegel" in lässiger Pose regelmäßig auf den Prozentsäulen ihres Bekanntheitsgrades abgebildet werden, ist es ihnen zuerst einmal egal, ob sie auch geschätzt, geachtet und geliebt werden. Hauptsache bekannt. In einem Bekanntheits-Ranking sind 20 Prozent Unbekanntheit ein Haufen Miese.

Letztlich, und vielleicht schafft dies der Rhetorik, dem politischen Wort, so viel Raum gegenüber der funktionierenden, ereignislosen Alltäglichkeit, letztlich bleibt der deutsch-polnische Dialog, wie wir ihn medial vermittelt wahrnehmen, die Domäne einer kleinen, interessierten Minderheit. Einmal abgesehen von der rein kaufmännischen Optik, liegt Polen primär nicht im Blickfeld des deutschen Betrachters. Vielleicht bringt die Fußballeuropameisterschaft 2012 hier die Wende. Vielleicht bringt sie Polens Aufstieg zum mitteleuropäischen Tigerstaat.

Das Beharren auf Themen der Vergangenheit jedenfalls schafft die Wende nicht. Es verlängert nur den Schatten, den Auschwitz wirft, und dem viele zuerst intuitiv einmal ausweichen. Solange die Themenpalette auf Holocaust, Vertreibungen und Kriege eingeengt bleibt, bleibt die Resonanz gering. Wer will schon in Fettnäpfchen treten, wenn er anderswo ungestört in der Sonne liegen kann. Erst der Bier trinkende Billigflieger hat für sich die Diskussion entschieden und genoss die Kneipen Krakaus, ohne sich um die Vergangenheit zu scheren, bis ihm der starke Złoty 2008 den Biergenuss verdarb.

Wir brauchen den Mut, die Frage der Versöhnung in Urlaub zu schicken. Der Ansatz ist überholt, man müsse erst die Themen der Vergangenheit „aufarbeiten", bevor man „ausgesöhnt" Zukünftiges in Angriff nehmen könne. Wir sind in den 1990er Jahren damit in einer Sackgasse gelandet, was dazu geführt hat, dass richtige und notwendige Ansätze als Versöhnungskitsch diskreditiert wurden. Versöhnung sollte seit 2004 nicht mehr Inhalt der politischen Zusammenarbeit sein, und die Gedenkfeiern und der Neubau von Gedenkstätten sollten sich auf ein vernünftiges Maß beschränken, während zur Vermeidung von Missverständnissen das permanente Gespräch ohne falsche Rücksichtnahmen geführt werden muss. Natürlich darf man sich nichts vormachen. Die Vergangenheit lässt sich nicht ungeschehen machen oder verschweigen. Gerade die deutsche nicht. Wie dünn das Eis manchmal ist, zeigt sich immer wieder, wie z.B. 2003 beim Kapo-Inzident vor EU-Kulisse, als der EU-Abgeordnete Martin Schulz  Italiens Ministerpräsidenten Berlusconi wegen dessen Doppelrolle als Regierungschef und Medien-unternehmer scharf kritisierte. Berlusconi schlug daraufhin Schulz als Idealbesetzung für den „Kapo" (Häftling, der im Auftrag der Lagerleitung andere Häftlinge beaufsichtigt) in einem KZ-Film vor. Der Eklat führte dazu, dass Bundeskanzler Schröder seinen Sommerurlaub in Italien absagte.12

 

Emanzipatorische Metamorphosen

Im Vorfeld seines ersten Berlinbesuchs als frisch gebackener Premier Polens gab Donald Tusk der FAZ ein Interview, das manch hochgespannte Erwartung auf einen Neuanfang enttäuschte: „Normalität ist gut, aber was bedeutet ,normal‘ im Falle der Deutschen?", lautete der Tenor: „Von vielen prominenten Deutschen höre ich immer wieder, es sei nun an der Zeit, dass ihr Land zu seiner natürlichen Stellung zurückkehrt - zu einer Stellung, die seinen wirtschaftlichen, demografischen, kulturellen Potenzialen entspricht. Sie sagen, dass die Phase der Selbstbeschränkung, der Reue dem Ende zugehe. Sie sprechen so, als hätten sie vergessen, dass diese Haltung der Selbstbeschränkung und der selbstkritischen Reflexion das Fundament des Vertrauens gegenüber den Deutschen gebildet hat, zunächst des Vertrauens seitens Westeuropas und nach 1989 auch Polens". Und weiter: „Als Pole muss ich fragen, was bedeutet ‚neue Normalität‘? Was wird sich ändern. [...] Man sollte sich nicht wundern, dass ein Pole, wenn er aus Deutschland hört, es sei Zeit für ‚etwas Neues‘, sofort fragen muss: Was bedeutet das?"13 Eine hochinteressante Perspektive, bei der sich der unbefangene deutsche Zeitungsleser wohl zuerst einmal ein „Aha, so hab' ich das noch nie gesehen" abringt. Steckt dahinter Überzeugung, oder ist es die Vorsicht eines Premiers, der weiß, dass in seinem Land die antideutsche Karte in der politischen Auseinandersetzung immer noch gerne gespielt wird? Wahrscheinlich, so meine ich, beides. Donald Tusk hat es selbst erlebt, als bei seinem Versuch, 2005 die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen, der Vorwurf des „Großvaters in der Wehrmacht" kurzzeitig zu einer Belastung wurde, wenn er wohl auch nicht wahlentscheidend war, Tusks Niederlage letztlich andere Gründe hatte.

Normalität hat in den Augen der Polen, und das sollte in Deutschland immer bedacht werden, auch die Dimension eines „entfesselten" Deutschlands, das sich nicht mehr mit der selbst auferlegten oder erzwungenen Rolle des politischen und militärischen Zwerges begnügt. Dass dabei dann gleich auch das Warnschild „Rapallo" in den Politikerköpfen aufblitzt, ist bekannt14 und, bei ein bisschen Einfühlungsvermögen, verständlich; was nichts darüber aussagt, ob die Assoziation auch richtig ist. Aber auch innenpolitisch hat Normalität weitreichende Konsequenzen: Neben dem Verzicht auf den Bonus, der sich aus dem Opferstatus herleitet, und von dem bereits die Rede war, besteht die Sorge, dass damit auch die Geschichten über den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen endgültig kodifiziert und zu einem Geschichtsbild verfestigt werden, das dann über Generationen unverändert Geltung haben wird. Hat Polen in den Jahren nach der Wende Zeit gehabt und hat es die Zeit genutzt, seine von den kommunistischen Lügen bereinigte Sicht der Dinge dem öffentlichen Diskurs in Europa zugänglich zu machen? Ist es gehört worden?

Gerade auch deshalb war es ein kluger Schritt, als die Außenminister beider Länder 2008 offiziell den Anstoß zur Erarbeitung eines gemeinsamen Geschichtsbuches gaben. Nicht etwa, weil die Historiker hier noch viel Neues entdecken würden. Nicht etwa, weil die Lehrer sich begeistert darauf stürzen werden (das französische Beispiel sollte hier ernüchternd wirken), sondern weil damit auf einer sachlichen Ebene die Tür offen bleibt, um Akzente zu setzen und Korrekturen vorzunehmen, bevor die Geschichten von der Vergangenheit zur Geschichte des 20. Jahrhunderts kondensieren und zwischen den Buchdeckeln erstarren.

Wahrscheinlich ist es Zufall und keine Absicht, doch ungünstig für eine entkrampfte, kompetente und zukunftsorientierte Politik beider Länder ist es in jedem Fall: Während die Schwäche der universitären Polonistik in Deutschland, vor allem nach den regelmäßigen Stellenkürzungen und Schließungen von Instituten, eine gewisse mediale Aufmerksamkeit gewinnen konnte und politische Reaktionen zu erkennen waren, und sich gleichzeitig eine Reihe von deutschen Einrichtungen einer hohen polenbezogenen Kompetenz rühmen können, bleibt das eklatante Defizit einer deutschlandpolitischen Kompetenz in Polen weitgehend unkommentiert. Die mediale Begleitung der drohenden Schließung und nachfolgenden Umstrukturierung des Willy-Brandt-Zentrums an der Universität Breslau hatte eine andere Qualität. Sie führte nicht zu einer Diskussion über das Fehlen einer solchen oder ähnlichen Einrichtung in Warschau. Niemand kann hier die Frage Henry Kissingers beantworten, welche Telefonnummer er in Warschau wählen soll, wenn er eine deutschlandbezogene Auskunft benötige. Anna Wolff-Powęska ist in ihre wohlverdiente Pension gegangen und erhebt nur noch manchmal ihre mahnende Stimme aus dem Off. Nachwuchs, wie z.B. Piotr Buras, sitzt in Berlin; und der einstmals erstrangige Ansprechpartner Janusz Reiter ist nach seiner Rückkehr aus den USA in die höheren Sphären der internationalen Unternehmenspolitik entrückt. Nachdem noch vor nicht allzu langer Zeit auch fast alle, die sich deutschlandkompetent nennen konnten, als U-Boote bezeichnet wurden und dem Vorwurf der Agententätigkeit ausgesetzt waren, ist es vielleicht doch kein Zufall, sondern die Folge fahrlässiger Entscheidungen. In jedem Falle ist es ein Defizit, das Beachtung verdient.

In der Diskussion über den Zustand und die Zukunft der deutsch-polnischen Beziehungen wird auf deutscher Seite manchmal übersehen, wie sehr auch Deutschland sich in den letzten Jahren verändert hat. Die Metamorphose dauert noch an, und es ist sicher hier nicht der Ort, dies im Detail zu sezieren. In Stichworten lässt sie sich jedoch an drei Bildern festmachen: an dem ersten Trabi, der 1989 champagnergläserklirrend durch die offene Mauer nach Westberlin gefahren kam; an dem von Christo verpackten Reichstag, der plötzlich ein warmes Wir-Gefühl durch die Menge schickte, die staunend feststellte, das es auch Spaß machen kann, deutsch zu sein; und zuletzt 2006 und 2008 die Fußballwelt- bzw. -europameisterschaft, als Deutschlandrufe überraschend unpolitisch und unbeschwert durch Deutschlands Straßen hallten, in denen ebenso unbeschwert die deutschen Fähnchen flatterten, als könnten niemandem dabei böse Erinnerungen kommen.

Eine solch unbeschwerte Freude am Deutschsein kann nur entwickeln, wer als Identifikationspunkt nicht mehr die Zeit des Nationalsozialismus hat, sondern die Jahre des wirtschaftlichen Aufschwungs und des demokratischen Aufbaus in Westdeutschland. Das entspricht denn auch der Argumentationslinie ausgewiesener Deutschlandspezialisten, die bei den (West-)Deutschen einen Wechsel ihres Identifikationsparadigmas feststellen, ohne sie dabei zu verdächtigen, sie versuchten auf diese hinterhältige Weise, aus der Täterrolle in die Opferrolle zu schlüpfen. Das ist der Verdacht und der politisch instrumentalisierte Knüppel, mit dem in Polen das breite Feld rechtsaußen versucht, Anhänger für das Deutschland-Bashing zu gewinnen. Die Verschiebung des Identifikationspunktes geht einher mit einer Nacharbeit der deutschen Linken, die Tabu-Themen der Nachkriegszeit verspätet, aber immerhin noch zur Diskussion zu stellen. Helga Hirsch z.B. steht und der verstorbene Peter Glotz stand für dieses Bedürfnis, auf das der Vorwurf der Individualisierung der Geschichte voll zutrifft und an dem er voll abprallt, denn nichts ist natürlicher und nichts ist ungeeigneter als Beweis für eine Verneinung der Schuld der Täter. In einen natürlichen Aufarbeitungsprozess, der auch generationsspezifische Elemente enthält, tages- oder parteipolitische Absichten einzuflechten, ist nicht nur eklig, sondern auch wirkungslos.

Immerhin: Wenn wir anerkennen, dass sich beide Staaten in einem Prozess der Neufindung, vergleichbar einer Metamorphose, befinden, die Wahrnehmung des Partners also neu kalibriert werden muss, dann wird klar, dass der potenzielle Tiger (Arbeitsmarkt) keine Zeit für die Suche nach Symbolen (z.B. dem Kniefall Brandts) hat, der „Neu-Deutsche" kein Verständnis für Empfindlichkeiten beim Thema Nationalstolz und Vergangenheit. Beide agieren wie Pubertierende. Beide können erst wieder vernünftig zusammen reden und handeln, wenn jeder für sich seinen neuen Platz gefunden hat.

Ständig vergleicht sich Polen mit Deutschland, als hätte Humboldt das Maß zum Vermessen Europas vorgegeben. Die Flächen sind vergleichbar: 357.000 km² westlich der Oder, 313.000 km² am rechten Ufer. Andere Messdaten sind nicht mehr so leicht in Deckung zu bringen: rund 80 Mio. Einwohner da, 40 Mio. dort. Prognosen besagen, dass Polen in einem Vierteljahrhundert den heutigen Stand der West-EU erreicht haben wird; wenn die Reformen knallhart und erfolgreich durchgesetzt werden, vielleicht sogar zehn Jahre früher.15

Der Vergleich mit Spanien oder Italien wäre vielleicht leichter. Doch die ein paar Hundert Kilometer lange gemeinsame Grenze und die über 1000-jährige Nachbarschaft verpflichten genauso wie die vielen familiären Verknüpfungen, die bis tief in die Fußballnationalmannschaft hineinreichen. Von den intensiven Handelsbeziehungen und dem Diktum des Philosophen Leszek Kołakowski ganz zu schweigen, der selbst den Sprachen beider Völker eine Deckungsgleichheit attestiert, wenn er sagt, dass sie identisch seien, wenn man einmal von Lappalien wie Wortschatz, Grammatik und Aussprache absähe. In der Verwaltung, in der Gesetzgebung, selbst beim Kauf der Munition für die Polizei, beziehen sich Politik und Medien ständig und nicht selten selbstquälerisch auf das deutsche Vorbild.16

Das kann nicht gut gehen. Wir kennen das aus der Schule, von Geschwistern und Freunden: Was als Vorbild zu Hochleistungen anstiftet, verursacht in einer Beziehung der Rivalität Minderwertigkeitskomplexe.

Polen ist noch keine Konsensgesellschaft und noch längst keine Gesellschaft mit einer „gesättigten" Mittelschicht, d.h. einer Mittelschicht, die mit sich zufrieden ist und genießen kann, was sie hat. Das ist gut, weil es die Dynamik und das Wachstum verstärkt, aber es verstärkt auch die Unruhe, die Unzufriedenheit, den Neid. Dadurch entstehen ständig Neid- und Konkurrenz-Situationen: Mein Nachbar hat ein neues, ein größeres Auto. Wie reagiere ich? Entweder tue ich alles, um bald auch so ein Auto oder gar ein noch größeres zu haben, oder ich versuche, ihm das Auto zu verleiden, es kaputt zu machen oder dafür zu sorgen, dass es ihm weggenommen wird. Durch den Vergleich mit den Standards, dem Wohlstand und der zivilisatorischen Infrastruktur westlicher EU-Mitglieder steht Polen derzeit ständig vor dieser Wahl. Die einen nehmen die Herausforderung an und tun alles, um selbst ein noch besseres Auto in der Garage zu haben. Die anderen beginnen, um sich zu schlagen.

Nach der im Ausland kaum, in Polen aber umso mehr kritisierten Entscheidung, den Österreichern im EM-Spiel gegen Polen in der 92. Minute einen Elfmeter zu genehmigen, kommentierte der sowohl literarisch wie fußballerisch qualifizierte Protestant und Pole Jerzy Pilch die waghalsige, weil von Todesdrohungen begleitete Entscheidung des britischen Schiedsrichters Howard Webb sinngemäß wie folgt: Dank sei ihm, dem Schiedsrichter, denn ohne ihn wäre die polnische Mannschaft als Verlierer heimgekehrt, so aber kehrt sie als Märtyrer heim.17

Gute Beziehungen bedürfen tragfähiger Symbole. Die deutsch-polnischen Beziehungen sind arm an positiven Symbolen, an Ikonen, die positive Bilder evozieren. Wenn wir einmal absehen von den jetzt wieder neu inszenierten Schlachten zwischen dem polnisch-litauischen Heer, das bei Tannenberg (im Polnischen: bei Grunwald) gegen die Kreuzritter (im Polnischen: gegen die Deutschen) kämpfte und gewann, dann bleiben aus der Neuzeit nur Geschichtsikonen, in denen die Deutschen als die Aggressoren erscheinen und die Polen als die Opfer: das Bild der deutschen Wehrmachtssoldaten, die am 1. September 1939 johlend den Grenz-Schlagbaum zur Seite schieben; das Bild des verschreckten Kindes mit erhobenen Händen und dem Judenstern an der zu großen Jacke, das bei der Liquidierung des Warschauer Ghettos seinen Peinigern gegenübersteht. Von den Leichenbergen, den Schuhbergen, den Haarbergen in den deutschen Lagern ganz zu schweigen. Es ist schwer, daneben positive Bild-Ikonen zu finden oder zu schaffen.

Die Umarmung von Bundeskanzler Helmut Kohl und Premierminister Tadeusz Mazowiecki 1989 in Kreisau könnte eine positive Ikone sein. Willy Brandts Kniefall 1970 vor dem Denkmal zu Ehren der Opfer im Warschauer Ghetto ebenso. Unproblematisch sind beide nicht. Keine der Situationen hat sich bisher als Ikone durchgesetzt, als Topos ins gemeinsame Gedächtnis eingeprägt, weil Deutsche und Polen Unterschiedliches damit verbinden.

Symbolische Handlungen in der Politik sind wichtig. Manchmal gelingt es, manchmal geht's daneben. Das Bild von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle vor der Kathedrale in Reims hat sich tief ins deutsch-französische Bewusstsein eingegraben. Das Händchen haltende Paar Kohl-Mitterand in Verdun (1984) brachte die Kritiker und Zweifler auf den Plan.

In einer Diskussionsrunde zum Thema Migration, einem Thema so ausladend wie die Golden Gate-Brücke in San Francisco, in dem Karrieren von hochbezahlten Facharbeitern im Ausland neben halbverhungerten Flüchtlingen aus Tschetschenien Platz haben, denen die Flucht über die grüne Grenze in den EU-Wohlstand gelungen ist, kam auch der geplante Fragenkatalog für deutsche Neu-Bürger in spe zur Sprache. Sofort wurde klar, dass die Zulassungsquote unter den Teilnehmern der Tagung im Ernstfall peinlich niedrig ausgefallen wäre. Bei reinen Wissensfragen mag dies Ausdruck einer Ignoranz deutscher Staatsbürger und ihres vielleicht eher niedrigen Bildungsniveaus sein. Wie aber steht es bei Fragen zu „Geschichte und Verantwortung", wenn es um die Einschätzung historischer Fakten geht? Die Frage lautete: „Was wollte Willy Brandt mit seinem Kniefall 1970 im ehemaligen jüdischen Ghetto in Warschau ausdrücken?" Uuups. Den Beamten, der sich diese Frage ausgedacht hat, würde ich gern einmal treffen. Er könnte mir und einigen anderen Menschen, z.B. der Beauftragten für die deutsch-polnischen Beziehungen und derzeitigen SPD-Kandidatin für das Amt der Bundespräsidentin, Gesine Schwan, aus der Bredouille helfen.

Auf einem Podium der 1. Deutsch-Polnischen Medientage im Juni 2008 in Potsdam ging es an einer Stelle genau um diese Frage: Galt der Kniefall allen Opfern der deutschen Gewaltherrschaft im Zweiten Weltkrieg? Oder galt er speziell den Millionen von Juden, deren vollständige Ausrottung die deutschen Machthaber damals anstrebten? Frau Schwan plädierte für die gesamtmenschliche Antwort, der polnische Gesprächspartner für die auf die jüdischen Opfer eingeschränkte.18 Das ehemalige deutsche Staatsoberhaupt Richard von Weizsäcker hat in einem Beitrag zu diesem Thema den Horizont einst noch viel weiter gesteckt und den Brandt'schen Kniefall als Voraussetzung für und Einstieg in die EU-Osterweiterung bezeichnet.19 Unabhängig von der Einschätzung haben wir hier aus deutscher Sicht ein Ereignis von hoher geschichtlicher und emotionaler Bedeutung, das in Polen im Bewusstsein der Bürger nicht existiert, auf jeden Fall nicht als deutsch-polnisches Symbol einer hoffnungsvollen europäischen Zukunft.

Aber wir brauchen Bilder, um unsere Geschichten aufeinander abzustimmen und sicherzustellen, dass wir dieselben Koordinaten verwenden. Es ist deshalb für Polen auch ein Ärgernis, ein fatales Versäumnis, dass nicht Solidarność als Symbol für das Ende der Ost-West-Teilung in das Geschichtsbewusstsein der Menschen eingegangen ist, sondern der Fall der Berliner Mauer.

Es ist müßig zu fragen, wer hier „rechter" hat und wie ernst die Dankesadressen deutscher Politiker an die Solidarność-Helden sind, wenn sie den Zusammenhang ansprechen. Tatsache ist, dass Lech Wałęsa heute im eigenen Land als Nationalheld demontiert wird, dass sich das Post-Solidarność-Lager in einer Weise öffentlich bekämpft, die für Außenstehende längst nicht mehr nachvollziehbar ist, und Polen sich auf diese Weise selbst um die Chance gebracht hat, dem Ende des europäischen Blockdenkens einen polnischen Akzent zu verleihen. Vielleicht gelingt es punktuell, dies 2009 nachzuholen, wenn sich die Ereignisse von 1989 zum zwanzigsten Male jähren. Doch der Lernprozess wird lang sein, denn kaum jemand in Deutschland wird wissen, warum Polen zwanzig Jahre später vor allem den 4. Juni 1989 feiern wird, den Tag, als die Wahlen stattfanden, in deren Folge die kommunistische Regierung hinweggefegt wurde und Tadeusz Mazowiecki als erster demokratisch gewählter Ministerpräsident Polens der Nachkriegszeit seinen Amtseid ablegen konnte, während die gefühlte Temperatur am 9. November, wenn Deutschland den Fall der Mauer feiert, in Polen niedrig sein wird.

2009 wird, daran besteht kein Zweifel, noch ein Jahr der Rückblicke sein. Irgendwann aber wäre es hilfreich, das Gemeinsinn stiftende Event zu haben, das Ereignis von der Art einer durch Christo verpackten Hochgeschwindigkeitstrasse Berlin-Warschau oder einer MOE-Disney-Erlebniswelt auf dem Gelände des grenzüberschreitenden Muskauer Parks. Das ist marktschreierisch formuliert und in dieser Simplizität sicher zu billig. Doch dies sind die Dimensionen, in denen ein positives Wir-Gefühl aus dem Stand heraus entsteht. Vielleicht wird man dereinst und im Rückblick feststellen, dass das, was der 68er Generation Woodstock war, den deutsch-polnischen Beziehungen das Jarocin-Festival von heute ist. Die älteren Jahrgänge, also wir, haben es nur noch nicht gemerkt und es deshalb noch nicht in unsere gemeinsame Geschichte eingebaut.

 

Anmerkungen

1          DER SPIEGEL, Nr. 36/1991.

2          Vgl. Albrecht Lempp: West-östliche Bilder. In: Friedrich-Ebert-Stiftung: Deutsche und Polen. Zwischen Nationalismus und Toleranz. Bonn 1993, S. 11-26; auch abrufbar unter: http://library.fes.de/fulltext/asfo/01013002.htm

3          Vgl. die Darstellung in: Deutsche und Polen - Verstehen und verstanden werden. Interkulturelle Kommunikation im deutsch-polnischen Geschäftsalltag. Wirtschaftshandbuch Polen, Heft 8. Deutsch-Polnische Wirtschaftsförderungsgesellschaft 2003, S. 14ff.

4          Vgl. z.B. die kurze Notiz in der FAZ vom 11.9.2007, S. 7, unter dem Titel „Polen will noch über EU-Vertrag verhandeln".

5          Nach einer Studie des Instituts für Öffentliche Angelegenheiten [Instytut Spraw Publicznych], dargestellt in einem Artikel von Lena Kolarska-Bobińska und Mateusz Fałkowski, in: Dziennik vom 2.8.2006. Die Studie von Mateusz Fałkowski und Agnieszka Popko: „Niemcy o Polsce i Polakach 2000-2006" [Die Deutschen über Polen und die Polen] ist verfügbar unter: www.isp.org.pl.

6          Laut einem Bericht in Dziennik vom 6.6.2008, S. 1, placiert Ernst & Young Polen mit 18% Zustimmung als besten Standort für neue Investitionen an erster Stelle, noch vor Deutschland mit 16%.

7          Balcerowicz: Polsce potrzeba głębokich reform [Polen braucht tiefgreifende Reformen], in: Dziennik vom 11.4.2008.

8          Aus dem Liedtext von „Orpheus in der Filmwelt".

9          Vgl. z.B. die Angaben in Rzeczpospolita  vom 17.3.2006 und vom 6.9.2006, jeweils S. 1, sowie Dziennik vom 7.5.2008, S. 8, und Dziennik Finansowy vom 26./27.7.2008, S. 2.

10        Jeroen Kuiper: „Hilfe, die Polen kommen!" In: Freitag vom  21.12.2007.

11        Die Aussage „gut 20% der Deutschen" setzt sich zusammen aus der Feststellung, dass 23% der befragten Deutschen bisher überhaupt nicht mit Polen zu tun hatten, nicht dort waren und auch indirekt nicht mit Polen in Kontakt gekommen sind, z.B. durch Zeitungslektüre (S. 2 der in Anm. 4 aufgeführten Studie „Niemcy o Polsce i Polakach 2000-2006") sowie der Feststellung, dass 18% der befragten Deutschen nichts mit Polen assoziieren und sich dies seit der letzten Studie vor sechs Jahren nicht geändert hat (S. 3 der erwähnten Studie).

12        Mehr dazu z.B. unter:

            http://www.politik.de/information/thema-der-woche,artikel=152.html

13        „Die Geschichte ist wieder Ballast". FAZ-Gespräch mit Donald Tusk vom 10.12.2007, S. 6.

14        Z.B. die berühmte Erwähnung des Rapallo-Vertrags durch den frischgebackenen Außenminister der PO-Regierung Radosław Sikorski am 10.12.2007, 08.15 Uhr, in der Sendung „Gast von RadioZet" mit Monika Olejnik.

15        Um genau zu sein, arbeitet die Studie mit den Zeiträumen von 26 Jahren und 16 Jahren, also einem Jahr länger als dem erwähnten „Vierteljahrhundert"; siehe Dziennik vom 25.6.2008, S. 1.

16        Vgl. den Artikel: Policja zamierza uzbroić się w najtańszą amunicję [Die Polizei hat vor, sich mit der billigsten Munition zu bewaffnen], in: Dziennik vom 28.12.2007, S. 11.

17        Im Eifer des (Fußball-)Gefechts habe ich mir die Quelle des Zitats nicht notiert, Jerzy Pilch hat mir am Telefon auch nicht helfen können, da er grundsätzlich keine bibliografischen Notizen macht, doch im Internet finden sich mehrere Kommentare zu Pilchs Einschätzung.

18        Polsko-Niemieckie Dni Mediów [Deutsch-Polnische Medientage], dodatek specjalny [Sonderbeilage] vom 25.6.2008 in Dziennik: Polacy i Niemcy ciągle nie mają symbolu pojedniania [Deutsche und Polen haben noch immer kein Symbol der Versöhnung], S. 5.

19        In: Zeit Online 50/2000, S. 4: Es begann in Polen. Brandts Kniefall ermöglichte die EU-Erweiterung.

 

Dr. Albrecht Lempp, Slawist, Kulturmanager, Übersetzer; Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit in Warschau

 

aus: Berliner Debatte INITIAL 19 (2008) 6, S. 23-32