Hungerstreik der Hungernden

Die BewohnerInnen der Puna-Hochebene in Argentinien wehren sich gegen die Vernachlässigung der Region durch die Politik

Die Lebensbedingungen in den Provinzen Jujuy und Salta im Norden Argentiniens sind desolat. Es herrscht Armut, Arbeitsplätze fehlen und das öffentliche Gesundheitswesen ist verwahrlost. Diese Lage wurde im Februar durch eine Schlammlawine in Tartagal, in der Provinz Salta, noch zusätzlich verschärft. Die BewohnerInnen organisieren Proteste, um die Situation anzuklagen.

Der Aufschrei der Ausgeschlossenen hallte durch die Hochebene der Puna, eine Hochwüste im äußersten Norden Argentiniens. Extreme Armut und Unterernährung, der Mangel an menschenwürdigen Arbeitsplätzen und Land für Wohnungsbau brachten am 13. Februar dieses Jahres in der Stadt La Quiaca 400 Menschen dazu, in den Hungerstreik zu treten. Dadurch wollten sie auf ihre Situation aufmerksam machen und endlich eine Reaktion der Regierung provozieren. Quiaca, die nördlichste Stadt Argentiniens an der Grenze zu Bolivien, liegt in der Provinz Jujuy, die zusammen mit den beiden anderen Provinzen des Nordens, Salta und Tucumán, die ärmste Region des Landes bildet.
Initiiert wurde der Hungerstreik von dem Zusammenschluss zahlreicher Basisorganisationen Multisectorial de Jujuy, in dem unter anderem Gewerkschaften, Nachbarschaftsorganisationen und Arbeitslose organisiert sind. Sprecher des Zusammenschlusses ist der Priester von La Quiaca, Jesús Olmedo. Auch der Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel unterstützt die Hungerstreikenden: „Ich unterstütze alle Maßnahmen, die diese vom System ausgeschlossenen Menschen ergreifen, um für ihre Würde zu kämpfen. Sie greifen zur Waffe ihres eigenen Hungers, es ist ein Streik der Hungernden.“
Der Hungerstreik erstreckte sich über fast vier Tage. Die Streikenden verkündeten, bereit zu sein, bis zum Letzten zu gehen. Ein Teil von ihnen organisierte sich vor dem Rathaus, um vom Bürgermeister Daniel Suárez die Wiederanstellung von 250 im Jahr 2007 entlassenen Angestellten der öffentlichen Verwaltung zu verlangen. Eine weitere Gruppe versammelte sich auf Grundstücken, auf denen Wohnhäuser gebaut werden sollen, um zu erzwingen, dass diese für den sozialen Wohnungsbau genutzt werden. Momentan stehen die Arbeiten wegen Rechtsstreitigkeiten jedoch still.
Eine dritte Gruppe stellte sich im Hof des örtlichen Pfarrgebäudes auf. „Dort wollten sie“, so Pfarrer Olmedo, „die Klage des Hungers und des Elends derer spürbar machen, die mit 150 Peso (circa 30 Euro) im Monat überleben müssen. Es ist eine Schande!“ Der Befreiungstheologe Olmedo unterstützt seit geraumer Zeit die Anliegen der Armen und der indigenen Bevölkerung der Region und organisierte eine Kontinent weit durchgeführte Demonstration: den Marsch des Aufschreis der Ausgeschlossenen. Um gegen die Versuche der Regierung, die Demonstration zu verhindern, zu protestieren, kreuzigte er sich in einem symbolischen Akt im vergangenen Oktober vor dem Regierungsgebäude von Jujuy. In Bezug auf den aktuellen Hungerstreik sagte der Pfarrer: „Die Puna ist eine Region, in der viele Familien in extremer Armut leben. Die vielen Versuche des letzten Jahres, mit der Regierung ins Gespräch zu kommen, blieben unbeantwortet. Die Sozialpläne reichen zum Leben nicht aus, es gibt keine Wohnungen, jene die existieren, sind überbelegt. Die Regierung muss nachhaltige soziale Maßnahmen treffen.”
Yolanda Domínguez, Gonzalo Burgos und Rafaela Camino, Mitglieder der Multisectorial de Jujuy, forderten darüber hinaus soziale Maßnahmen, wie die „Zuteilung von Stipendien für StudentInnen, Finanzierung für Speisesäle der sozialen Organisationen und die sofortige Wiedereinstellung der zu Unrecht entlassenen Bediensteten des öffentlichen Dienstes“. Adolfo Perez Esquivel beteuerte an Präsidentin Cristina Kirchner gewendet: „Erhören sie den Aufschrei der Armen, die in der Region von Jujuy leben.“
In den Provinzen Salta und Jujuy, die die argentinische Hochebene Puna bilden, leben ein großer Teil der Bevölkerung in extremer Armut. In Jujuy gibt es darüber hinaus zehn Prozent mehr Obdachlose als im nationalen Durchschnitt.
Am 15. Januar schickte das Arbeitsministerium schließlich einen Vertreter nach La Quiaca. Dieser schlug vor, eine von der Gemeinde unabhängige, lokale Regierungseinheit zu schaffen, die dazu verpflichtet ist, im Dialog mit den Basisorganisationen die diversen sozialen Maßnahmen umzusetzen: etwa den Bau von Schulen, sozialen Wohnungen, Kanalisation und Brücken. Darüber hinaus erlangten die Streikenden, dass die Zentralregierung die Finanzierung von rund 50 gemeinnützigen Mikrounternehmen, mit einem geschätzten Gesamtvolumen von 300.000 Peso, und 150 Schulungen für Arbeitslose zusagte.
Der Provinzregierung wurden außerdem 3.000 Peso zugestellt, mit denen diese soziale und karitative Projekte unterstützen soll. Einzig die Forderung der Wiedereinstellung der entlassenen Angestellten des öffentlichen Dienstes wurde nicht erfüllt. Stattdessen wurde ihnen damit gedroht, die so genannten Sozialpläne (staatliche Unterstützung für Arbeitslose) zu entziehen, die ihre einzige Einnahmequelle darstellen.
Aufgrund der erlangten Zugeständnisse wurde der Hungerstreik am 16. Januar mit einer Aktion vor dem Rathaus beendet. In einer fröhlichen, aber immer noch kämpferischen Atmosphäre sagte Jesús Oleado zu der Nachrichtenagentur COPENOA: „Die Ausdauer und Härte der Streikenden in diesen vier Tagen, hat uns ermöglicht gehört zu werden und diesen Streik der Hoffnung und Opfer zu beenden.“
In der Nachbarprovinz Salta hat währenddessen am 9. Februar ein Erdrutsch zahlreiche prekär gebaute Häuser in der Stadt Tartagal dem Erdboden gleichgemacht. Auch in Salta herrschen Armut und Arbeitslosigkeit. 1992 wurde hier das staatliche Erdölunternehmen YPF privatisiert, infolgedessen wurden 90 Prozent der Bevölkerung arbeitslos. Die prekäre Situation der Provinz wurde nun durch die katastrophalen Auswirkungen des Erdrutsches schlagartig offensichtlich. Anschließend trat der Fluss Tartagal über seine Ufer und verschärfte die Situation zusätzlich.
Bereits 2006 sagten ForscherInnen der Nationalen Universität von Salta die Gefahr eines Erdrutsches und einer Überschwemmung voraus. Die Studie von Claudio Cabral und Gloria Plaza wurde der Gemeindeverwaltung von Tartagal vorgelegt. Passiert ist jedoch nichts.
Am 9. Februar riss dann eine Lawine aus Schlamm, Baumstämmen und Wasser Häuser, Autos und eine 100 Meter lange Eisenbahnbrücke mit sich. Mindestens 10.000 Menschen sind von der Katastrophe betroffen, viele von ihnen verloren ihr Dach über dem Kopf und alles was sie besaßen. Zwei Menschen kamen bei dem Unglück ums Leben. Obwohl sich schnell ein Hilfsnetzwerk der NachbarInnen und AnwohnerInnen bildete, um wenigstens noch einige Dinge aus dem Schlamm zu retten, warteten die Betroffenen vergeblich auf Hilfe der Regierung. Erst etliche Stunden später reagierten die nationale wie regionale Regierung und Hilfsarbeiten, wie die Evakuierung der obdachlos gewordenen Menschen und die Suche nach Vermissten, wurden gestartet.
Die ersten Aussagen einiger RegierungsvertreterInnen konzentrierten sich darauf, das Problem zu umgehen. Der Innenminister Florenzio Randazzo erklärte, dass die Tragödie „nicht hätte vermieden werden können“, obwohl eine ähnliche Katastrophe in kleinerem Ausmaß schon 2006 eingetreten war. Der Gouverneur von Salta, Juan Manuel Urtubey, deutete an, dass die Tragödie nichts mit menschlichem Handeln oder Raubbau zu tun habe, wie die BewohnerInnen behaupteten. Zwar beauftragte Präsidentin Cristina Kirchner Regierungsbeamte, sich in die Region zu begeben und schickte Laster mit Nahrungsmitteln, Matratzen, Windeln, Kleidung und Schuhen nach Tartagal. Allerdings war die Hilfe angesichts des Ausmaßes der Katastrophe unzureichend. Die Bevölkerung forderte, dass eine Gesundheitskrise in der Stadt ausgerufen werden sollte, da aufgrund der Überschwemmungen eine Dengueepidemie drohte. Aus Protest blockierten die BewohnerInnen des Stadtviertels Santa María am 4. März die Hauptzufahrtsstraße von Tartagal. „Angesichts der Vernachlässigung seitens der Regierung haben wir uns entschlossen, die Zufahrt zur Stadt zu blockieren. Wir können einfach nicht mehr. Bis jetzt hörten wir nur leere Versprechen, aber es gibt keine echte Antwort,” so Víctor, einer der Evakuierten. Die Nahrungsmittelversorgung durch die Armee war eine Woche zuvor eingestellt worden. Am 6. März verordnete die Regierung von Salta schließlich die geforderte Gesundheitskrise in Tartagal.
Trotz der Verschleierungsversuche seitens der Politik, liegen die wahren Ursachen der Naturkatastrophe klar auf der Hand: die seit Jahren betriebene Rodung und die Zerstörung der Wälder durch die multinationalen Holz- und Ölkonzerne sowie die Ausbreitung von genetisch verändertem Soja. Obwohl der Oberste Gerichtshof der Regierung von Salta in einem Urteil vom 29. Dezember 2008 die Abholzung der Wälder verbot, wurde diese weiter betrieben und beschleunigt. Laut Angaben der Nachrichtenagentur COPENOA beträgt die gerodete Fläche mittlerweile 1.853.644 Hektar.
Hieran zeigt sich der Mangel an Voraussicht der PolitikerInnen sowie UnternehmerInnen von nationalen und internationalen Konzernen, deren vorrangiges Interesse nach wie vor auf der eigenen Bereicherung liegt. Die Verstrickungen von Politik und Privatwirtschaft sind dabei offensichtlich. So bestätigt Diego Alcoba, Generalsekretär der regionalen Direktion des Gewerkschaftsdachverbands CTA, dass der Bürgermeister von Tartagal, Sergio Napoleón Leavy, der Besitzer eines der wichtigsten Sägewerke der Region ist und damit direkt aus der massiven Abholzung profitiert.
In einem weiteren Akt wohl gemeinten Opportunismus‘ deklarierte Cristina Kirchner am 13. Februar 2009 zwar ein neues Forstgesetz, das auf dem Urteil vom 28. Dezember beruht. Trotzdem scheint die kritische Lage des Nordens von Argentinien aber nicht zu enden. Die LehrerInnen von Tartagal befinden sich weiterhin im Streik und machen die Regierung für die strukturelle Armut der Region verantwortlich. Und einen Monat nach der Katastrophe befanden sich die Obdachlosen noch immer in ihren Notunterkünften in Schulen oder auf der Straße und mehr als 10.000 EinwohnerInnen haben immer noch kein fließendes Wasser. Für viele wird nun deutlich, dass vereinzelte Hilfspakete keine staatliche Politik ersetzen, die die nötigen strukturellen Veränderungen in Gang setzt, um die Situation der Bevölkerungsmehrheit nachhaltig zu verbessern.

// Sergio Randi
// Übersetzung: Max von Groll

Ausgabe: Nummer 418 - April 2009