Auf der Suche nach einem Rechtsgut

wie das Bundesverfassungsgericht sich (vergeblich) mühte, die Strafbarkeit des Inzests zu legitimieren

Vor 60 Jahren war der Zweck der Bestrafung des Inzests nach den damaligen Vorstellungen von Recht und Moral ohne größere Probleme zu benennen: Es „trifft der Gesichtspunkt der Bestrafung grober Unsittlichkeit mit dem Ziele der Reinerhaltung des Familienlebens und der körperlichen Gesunderhaltung der Rasse zusammen."[1]

Etwas schwerer hatte es das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seinem Beschluss vom 26.02.2008.[2] Es hatte über die Verfassungsbeschwerde eines Mannes zu entscheiden, der wegen „Beischlafs zwischen Verwandten" gem. § 173 Strafgesetzbuch (StGB) zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt worden war. Als Ergebnis steht indes auch bei der Entscheidung des BVerfG die Bestätigung dieser Strafnorm. Einzig der Vorsitzende des entscheidenden Senats Hassemer bestritt in seinem Minderheitsvotum ihre Legitimation. In ihrer Begründung berief sich die Senatsmehrheit auf die Gesamtheit dreier Strafzwecke: Den Schutz von Ehe und Familie, der sexuellen Selbstbestimmung sowie eugenische Gesichtspunkte. Außerdem wurden gesellschaftliche Moralvorstellungen angeführt.

Diese Begründung ist sogar in dreifacher Hinsicht anzugreifen. Wie schon bei der Argumentation Schönkes zeigt sich dabei, dass die Strafbarkeit des Inzests in einem modernen Strafrecht keinen Platz hat.

 

Die Entwicklung des § 173 StGB

Bereits ein Blick in die Geschichte des Tatbestands stellt seine heutige Berechtigung in Frage. Der heutige § 173 StGB geht auf den Tatbestand der „Blutschande" des § 173 Reichstrafgesetzbuch von 1871 zurück. Dieser war im Abschnitt über die „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit" angesiedelt. Ursprünglich erfasste die Norm umfassend den Beischlaf unter Verwandten und Verschwägerten.

Im Jahre 1953 wurde der Tatbestand insoweit eingeschränkt, dass die Strafbarkeit des Beischlafs zwischen Verschwägerten aufgehoben wurde, sofern die Ehe, auf welcher die Schwägerschaft beruhte, zur Tatzeit nicht mehr bestand. Eine kontroverse Debatte im Rahmen des 4. Gesetzes zur Reform des Strafrechts im Jahre 1973 führte schließlich statt einer bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts geforderten Abschaffung des Tatbestandes einzig zur gänzlichen Straffreistellung des Beischlafs unter Verschwägerten. Zudem erhielt die Norm mit „Beischlaf zwischen Verwandten" ihren heutigen Titel und wurde den Straftaten gegen den Personenstand, die Ehe und die Familie zugeordnet. Damit hatte sie eine etwa zeitgleich stattfindende weitläufige Entkriminalisierung des Sexualstrafrechts überlebt, die im Jahre 1969 zur Abschaffung von Tatbeständen wie Ehebruch, Homosexualität unter Erwachsenen[3], Unzucht mit Tieren und Erschleichen des außerehelichen Beischlafs geführt hatte.

In ihrer heutigen Form sanktioniert die Norm den Vollzug des Beischlafs unter den in § 173 Abs.1 und Abs.2 genannten Verwandten (leibliche Abkömmlinge, Verwandte aufsteigender Linie und Geschwister). Beischlaf ist dabei der Geschlechtsverkehr im engeren Sinne, d.h. die Vereinigung der Geschlechtsteile von Mann und Frau.[4] Auf einen Samenerguss oder die Möglichkeit der Empfängnis kommt es nicht an.

Schutz von Ehe und Familie?

Nach Ansicht des BVerfG dient § 173 StGB an erster Stelle dem Schutz von Ehe und Familie. Dies wird vor allem mit der gesellschaftlichen Funktion dieser Institutionen begründet. Das Sozialgefüge der Familie, die gegebenen Verwandtschaftsverhältnisse und sozialen Zuordnungen seien prägend für die Entwicklung der Kinder. Inzestverbindungen innerhalb der Familie führten hingegen zu Rollenüberschneidungen innerhalb dieser strukturgebenden Zuordnungen in der Familie, so dass Kinder in solchen Verbindungen Schwierigkeiten hätten, ihren Platz im Familiengefüge zu finden. Daher seien im engsten Familienverband außerhalb des Verhältnisses zwischen den Eltern sexuelle Beziehungen zu verhindern.

Allerdings ist bei dieser Argumentation anzuzweifeln, ob eine positive Kindesentwicklung wirklich untrennbar mit einer festen Rollenverteilung verknüpft ist, wie es das Gericht hier annimmt. Viele diversifizierte Formen des familiären Zusammenlebens zeigen vielmehr, dass eine positive Entwicklung der Kinder nicht von einer traditionellen Familienstruktur abhängig ist.

Über die Zeitmäßigkeit des Familienbilds des BVerfG lässt sich streiten. Über die Frage, ob eine bestimmte, angeblich gesellschaftlich erwünschte Form des familiären Zusammenlebens mit dem Instrument des Strafrechts als schärfstem staatlichen Eingriff durchgesetzt werden darf, allerdings nicht. Im Fall des Ehebruchs, der ebensoviel „Zerstörungspotential" für die traditionelle Familie enthält, ist diese Frage mit Abschaffung der Strafbarkeit eindeutig entschieden worden.

 

Schutz der sexuellen Selbstbestimmung?

Auch das Heranziehen der sexuellen Selbstbestimmung als geschütztes Rechtsgut kann nicht plausibel begründet werden. Nicht einmal der parlamentarische Gesetzgeber hat sich seinerzeit bei der Neuordnung der Norm hierauf berufen.[5] Dass dieser Schutzzweck nachträglich untergeschoben wird, lässt erahnen, wie schwierig die Suche nach einem geschützten Rechtsgut für das BVerfG wohl war. Allerdings kann das Gericht nur eine einzige Fallkonstellation benennen, in der die sexuelle Selbstbestimmung nicht bereits durch die Vorschriften aus dem hierfür vorgesehenen 13. Abschnitt des StGB geschützt ist. So komme der Strafbarkeit des Inzests für den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung dann Bedeutung zu, wenn es Opfern sexuellen Missbrauchs in der Familie auch nach Erreichen der Volljährigkeit nicht gelinge, aus den familiären Strukturen auszubrechen. Aufgrund des langjährigen Missbrauchs könne das Opfer seine Ablehnung des nach wie vor unerwünschten Beischlafs für eine Strafbarkeit nach den entsprechenden Vorschriften oft nicht deutlich genug zu erkennen geben.

Systematische Gesichtspunkte widersprechen diesen Überlegungen jedoch eindeutig. So wurde die Norm gerade aus dem Abschnitt der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung in den Abschnitt der Straftaten gegen Ehe und Familie transferiert. Im Gegensatz zu den Sexualdelikten wird in § 173 StGB nicht auf weitere Einzelheiten des Kontakts zwischen Täter und Opfer abgestellt; es genügt allein der Vollzug des Beischlafs als Tathandlung. Darüber hinaus unterscheidet der Tatbestand überhaupt nicht zwischen Täter und Opfer, sondern sieht mit Ausnahme des Strafausschließungsgrunds für Minderjährige in § 173 Abs.3 StGB eine unterschiedslose Bestrafung beider „Täter" vor.

Wer trotz dieser Gegenargumente Ehe und Familie sowie die sexuelle Selbstbestimmung durch das Inzestverbot als geschützt ansieht, gerät in die Verlegenheit, die Lückenhaftigkeit der Norm zu begründen. So müsste von diesem Standpunkt aus gesehen nicht nur der Beischlaf, sondern auch andere sexuelle Handlungen als Tathandlung definiert sein. Ebenso müsste die Strafbarkeit auf Adoptiv-, Stief- oder Pflegegeschwister ausgedehnt, und auch homosexuelle Verhältnisse erfasst werden. Alle diese Varianten wären gleichsam geeignet, die vom BVerfG als so zentral angesehene Rollenverteilung der Familie zu schädigen. Genauso können sie die sexuelle Selbstbestimmung in dem geschilderten Einzelfall verletzen. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG hat das Gericht zwar nicht zu prüfen, ob der parlamentarische Gesetzgeber die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung gefunden hat.[6] Einer Strafnorm, die aber nur Fragmente einer schädigenden Handlung erfasst, ist allerdings die Geeignetheit abzusprechen, die genannten Schutzzwecke zu erreichen. Dementsprechend müsste die Verfassungsmäßigkeit des § 173 StGB verneint werden.

 

Einbeziehung eugenischer Gesichtspunkte?

Allerdings kann das Vorliegen eines sachlichen Grundes eine lückenhafte Strafbarkeit rechtfertigen. Als solchen Grund führt das BVerfG eugenische Gesichtspunkte ins Feld. So sei die Tathandlung des Beischlafs im Vergleich zu anderen Formen sexuellen Kontakts zusätzlich geeignet, über das Zeugen von Nachkommen weitere schädliche Folgen, etwa in Form von Erbkrankheiten hervorzurufen. Nur mit Einbeziehung dieser Überlegungen erscheint § 173 StGB also - zumindest auf ersten Blick - plausibel. Damit stellen die eugenischen Gesichtspunkte aber nicht nur einen weiteren, dritten Schutzzweck dar. Vielmehr sind sie der eigentliche, in der Ausgestaltung dieser Norm direkt angelegte Grund für das Inzestverbot des § 173 StGB.

Der Rückgriff auf eugenische Gründe verbietet sich jedoch von Verfassungs wegen. Fiskalische Interessen im Hinblick die Gesundheitskosten, die aus möglichen Behinderungen oder Krankheiten von Kindern aus inzestuösen Verbindungen entstehen könnten, können ohnehin nicht herangezogen werden. Auch der Schutz potentieller Nachkommen aus Inzestverbindungen vor Gesundheitsschäden ist nicht mit der Verfassung vereinbar. Denn dies erfordert in den Worten Hassemers die „absurde Abwägung des Interesses der potentiell gezeugten Nachkommen an einem Leben mit genetischen Defekten einerseits mit einem mutmaßlichen Interesse an der eigenen Nichtexistenz andererseits"[7]. Mit Anerkennung dieses Schutzzwecks entscheidet das BVerfG die Abwägung zugunsten der Nichtexistenz - und negiert damit den Wert behinderten oder erbgeschädigten Lebens. Mehr noch - mit der Bestrafung des Inzests aufgrund seiner Gefährlichkeit, erbgeschädigte Nachkommen zu zeugen, wird dem Zeugen behinderten Lebens ein sozialethischer Unwert zugeschrieben.

Die Rechtsordnung kennt an keiner Stelle die Sanktionierung des Risikos des Zeugens behinderten Lebens. Umso verhängnisvoller ist es, wenn sich die obersten HüterInnen der Verfassung, die an erster Stelle die Würde jedes Menschen, ob behindert, mit Erbkrankheiten oder nicht, anerkennt, auf eine solche menschenverachtende Argumentation einlassen.

Indes - selbst wenn man Art. 1 des Grundgesetzes über Bord wirft und den Rückgriff auf eugenische Gründe zulässt, gelingt es immer noch nicht, den Inzesttatbestand zu rechtfertigen. So sind mit der Strafbarkeit des Beischlafs mit Verhütungsmitteln oder sonstigem Ausschluss der Empfängnis auch Handlungen unter Strafe gestellt, welche den zusätzlichen eugenischen Schutzzweck überhaupt nicht verletzen können. Mit der Einbeziehung unschädlicher Handlungen stellt die Fassung des § 173 StGB jedoch nicht das mildeste Mittel dar, und wäre damit selbst bei Anerkennung aller genannten Schutzzwecke noch immer nicht verfassungsgemäß.

 

Schutz von Moral durch das Strafrecht?

Sehr überzeugt von seinen gefundenen Rechtsgütern scheint nicht einmal das BVerfG selbst zu sein. Denn quasi als vierten Strafzweck schiebt es noch die strafrechtliche Bestätigung einer gesellschaftlichen Moralvorstellung hinterher. So bestehe ein verankertes gesellschaftliches Unrechtsbewusstsein hinsichtlich des Inzests. Dieses komme in seiner Tabuisierung und auch in der Diskriminierung sog. „Inzestkinder" zum Ausdruck.

Ob eine Strafnorm überhaupt auf Moralvorstellungen gestützt werden kann, oder der Schutz eines bestimmten Rechtsguts zu fordern ist, wird dabei ausdrücklich offen gelassen. Schließlich gebe es im Fall des Inzests ja nachvollziehbare Rechtsgüter als Schutzzwecke. Im Übrigen sei der Begriff des Rechtsguts ohnehin selbst in der Wissenschaft inhaltlich stark umstritten.[8]

Doch ist zu bezweifeln, ob selbst nach dem sonstigen Maßstab des BVerfG Moralauffassungen einen legitimen Grund für eine Strafnorm darstellen können. So betont das Gericht gleich zu Beginn seiner materiellen Prüfung, dass bei einer Strafnorm aufgrund deren ultima-ratio-Stellung in besonderer Weise das Übermaßverbot zu beachten ist.[9] Zwar werden darüber hinaus höhere Voraussetzungen im Sinne der strafrechtlichen Rechtsgutslehre abgelehnt. Allerdings stellt sich die Frage, worin die vom BVerfG ausdrücklich angeführte besondere Bedeutung des Übermaßverbotes liegen soll, wenn nicht darin, dass als unmittelbarer Zweck einer strafrechtlichen Norm, des schwersten staatlichen Eingriffs in die Rechte der Bürger, ein geschütztes Rechtsgut und kein sonstiger (moralischer) Zweck zu fordern ist. Ganz in diesem Sinne begreift Hassemer die Rechtsgutstheorie als nichts anderes als den strafrechtlichen Ausdruck des verfassungsrechtlichen Übermaßverbots. Das dem Bürger durch die Strafnorm auferlegte Handlungsverbot kann nur mit einem geschützten Rechtsgut gerechtfertigt werden, dessen drohende Verletzung oder Gefährdung als Strafzweck verhindert werden soll.[10] Allein der Schutz einer moralischen Wertevorstellung vermag den Eingriff der Strafnorm in die Handlungsfreiheit sowie die mit der Strafbarkeit einhergehende soziale Ächtung des verbotenen Verhaltens nicht zu legitimieren. Nach diesen Grundsätzen müsste der Maßstab für die Verfassungsmäßigkeit einer Strafnorm sowohl für Vertreter der Rechtsgutstheorie als auch der Senatsmehrheit derselbe sein. Indem die Senatsmehrheit im Gegensatz dazu dennoch das Erfordernis eines geschützten Rechtsguts in Frage stellt, zeigt sich einmal mehr die Widersprüchlichkeit und Inkonsequenz der Argumentation dieses Beschlusses.

 

Absichtlich verfassungswidrig?

Im Ergebnis hat das BVerfG auf der Suche nach Rechtsgütern, die durch die Strafnorm des Inzests geschützt werden sollen, zumindest fragwürdige, im Falle der eugenischen Gesichtspunkte sogar verfassungswidrige Schutzzwecke angenommen. Selbst wenn man darüber hinwegsieht, kommt zweitens am Ende keine Norm heraus, die den Anforderungen der Verfassung gerecht wird. Zu allem Überfluss relativiert das Gericht in einem dritten Schritt die strafrechtliche Rechtsgutstheorie und lässt explizit offen, ob Strafnormen auf Moralvorstellungen begründet werden können.

Damit ist dieser Beschluss mit Sicherheit kein Prunkstück in der Geschichte des BVerfG. Schlicht indiskutabel ist es aber, wenn ohne größere Bedenken (immerhin ein Hinweis auf die Zeit des Nationalsozialismus taucht in der Begründung auf) auf eugenische Gesichtspunkte zurückgegriffen wird, und damit die Gefahr beschworen wird, dass solche Überlegungen wieder salonfähig werden.

Es bleibt die Frage, ob dies so beabsichtigt war, oder ob der Senatsmehrheit letztlich jedes Mittel recht war, um die strafrechtliche Ausprägung eines delikaten gesellschaftlichen Tabuthemas beibehalten zu können.

 

Johannes Schäuble studiert Jura in Freiburg.



[1] Schönke, Adolf, in: Kommentar zum StGB, Berlin 1949.

[2] BVerfG, Beschluss vom 26.02.2008 (2 BvR 392/07).

[3] siehe: Steinke, Ron „Ein Mann, der mit einem anderen Mann...", in: Forum Recht (FoR), Heft 2/2005, 60ff.

[4] Ritscher, Christian in: Münchener Kommentar zum StGB, Band 2.2, § 173/ Rn.8.

[5] Deutscher Bundestag, Drucksache VI/3521 (1972), 17f.

[6] BVerfGE 27, 18 (30); 37, 201 (212).

[7] BVerfG (Fn.2), § 82.

[8] BVerG (Fn.2), § 39.

[9] BVerG (Fn.2), § 35.

[10] Hassemer, Winfried „Darf es Straftaten geben, die ein strafrechtliches Rechtsgut nicht in Mitleidenschaft ziehen?" in: Hefendehl, Roland (Hrsg.) „Die Rechtsgutstheorie", 57ff.