Vorsicht, Zeitbetrüger!

Deutsche Unternehmen eignen sich alljährlich unbezahlte Mehrarbeit in Milliardenhöhe an. Umfassende Gegenstrategien sind nicht in Sicht. Ein Beitrag für die >>Konferenz Arbeits-Unrecht<< am 14. März 09 in Köln

Die Weltwirtschaft steckt in der Rezession, und auch wenn die Perspektiven unklar sind, spricht einiges dafür, dass das gesellschaftliche Arbeitsvolumen insgesamt für einige Zeit schrumpfen wird. Mehrwöchige Betriebsferien, Abbau von Zeitkonten, Übergang zu Kurzarbeit oder Viertagewoche in der Schlüsselbranche Autoindustrie sind ein deutlicher Indikator. Die optimistischsten Prognosen gehen davon aus, dass der Tiefpunkt Mitte 2009 erreicht sein wird, andere halten ein Abrutschen in eine länger anhaltende Depression für wahrscheinlich.


Trotz des Rückgangs des gesamtwirtschaftlichen Arbeitsvolumens werden die Unternehmer kaum auf neue Vorstöße verzichten, die Arbeitszeit – ohne Lohnausgleich – zu verlängern. Im Gegenteil: Die Erhöhung der Mehrwert- oder, was dasselbe ist, nur von der anderen Seite betrachtet - die Senkung der Lohnrate, ist das nächstliegende Mittel zur Ankurbelung des soeben zum Erliegen gekommenen Motors der kapitalistischen Akkumulation.

Ideologische Vorbereitung

Die ideologische Vorbereitung beginnt im Vergleich zu früheren Krisenzyklen bemerkenswert leise, was daran liegen mag, dass Unternehmertum und Großkapital der Schreck diesmal tief in die Glieder gefahren ist. Sie beginnt momentan gewissermaßen im Windschatten der Debatten um Finanzmarktregulierung, Konjunkturprogramme und Staatsbürgschaften. Im November veröffentliche eine Unternehmensberatung namens Proudfoot Consulting eine so genannte »Globale Produktivitätsstudie«, die in den Medien breit aufgegriffen wurde.

Was sich gewaltig anhört, beruht nach Angaben der lancierenden Agentur »auf einer Umfrage unter mehr als 1200 Führungskräften weltweit und mehr als 3000 Unternehmensanalysen der Proudfoot-Berater« und ist offenkundig nicht viel mehr als eine PR-Kampagne. Der Erhebung zufolge »vertrödeln« Angestellte in deutschen Unternehmen mehr als ein Drittel ihrer Arbeitszeit (34,3 Prozent) mit »unproduktiven Tätigkeiten«. Führungskräfte vertun lediglich 18,5 Prozent, also nur einen statt zwei Tage pro Woche.

Die Agentur macht Unterschiede nach Branchen aus. An die Produktivität deutscher Manager reichen nur die Angestellten im Einzelhandel heran (19,4 Prozent unproduktive Zeit), am meisten Arbeitszeit vergeuden laut Studie Deutschlands Bergleute (43,7 Prozent). Spätestens hier muss man sich fragen, ob das Ein- und Ausfahren in bzw. aus einer Grube nach Definition solcher Unternehmensberater Arbeit oder »Zeitverschwendung« ist. Die Fragestellung ist keineswegs abstrus: Eine juristische Fachzeitschrift in den USA machte im November darauf aufmerksam, das derzeit mehrere Sammelklagen von Angestellten verschiedener Telekommunikationsfirmen (darunter AT&T) und Versicherungen anhängig seien, mit denen sich die Mitarbeiter gegen die offenbar gängige Praxis der Unternehmen zur Wehr setzen, das Hoch- und Runterfahren des PCs nicht zur Arbeitszeit zu zählen.

Volkswirtschaftliche Dimension

In Erwartung der Dinge, die im Zuge der sich entfaltenden Krise in dieser Angelegenheit noch auf uns zukommen könnten, ist es hilfreich, sich die volkswirtschaftliche Dimension unbezahlter Mehrarbeit zu vergegenwärtigen, wie sie heute und seit Jahren schon in der Bundesrepublik Deutschland geleistet wird. Dies ist nicht ganz einfach und nur näherungsweise möglich, denn unbezahlte Überstunden werden nicht flächendeckend und systematisch erfasst – weder in den Unternehmen, noch von den Gewerkschaften, noch vom Statistischen Bundesamt in Wiesbaden.

Sowohl das gewerkschaftsnahe Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, als auch das staatliche, aber eher wirtschaftsfreundliche Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) kommen jedoch – mit unterschiedlichen Methoden - zu ähnlichen Resultaten. So schätzt der Arbeitszeitexperte Hartmut Seifert vom WSI, gestützt auf Daten aus umfangreichen Betriebsrätebefragungen, dass jeder abhängig Beschäftigte in Deutschland im Schnitt wöchentlich eine Stunde unbezahlte Mehrarbeit leistet.

Das DIW kommt – nach Erhebungen aus dem Sozio-ökonomischen Panel, der umfangreichsten repräsentativen Längsschnittstudie der Bundesrepublik – auf eine mittlere unbezahlte Mehrarbeitszeit von rund 50 Minuten je Woche. Unter Abzug von Urlaubs- und Krankheitszeiten kann man demnach, konservativ geschätzt, davon ausgehen, das jeder abhängig Beschäftigte im Jahr 45 unbezahlte Überstunden leistet. Rechnet man die 2,2 Urlaubstage hinzu, die deutsche Arbeitnehmer nach WSI-Erhebungen alljährlich verfallen lassen, kommt man insgesamt auf – wiederum konservativ abgerundet – 60 Stunden im Jahr.

Laut volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung des Statistischen Bundesamtes lag die Bruttowertschöpfung je Erwerbstätigenstunde im Jahr 2007 bei durchschnittlich 42,50 Euro. Im selben Jahr registrierten die Statistiker 35,9 Millionen abhängig Beschäftigte. Jeder von ihnen hat 2007 also im Schnitt »zusätzliche« Werte im Äquivalent von 2550 Euro geschaffen, ohne dafür irgendeine Gegenleistung zu erhalten. Was für den einzelnen ein kompletter Monatslohn ist, entspricht, volkswirtschaftlich betrachtet, einer Summe von 91,5 Milliarden Euro, die sich die Arbeitgeber praktisch unentgeltlich aneignen konnten.

Einer Publikation des DIW zufolge hat sich die Ausweitung unbezahlter Mehrarbeit seit der Umsetzung der Hartz-Reformen unter der rot-grünen Bundesregierung signifikant beschleunigt.


Gewerkschaftliche Gegenstrategie


Ein besonders interessantes, weil weit verbreitetes und offenbar planmäßig organisiertes Vorgehen bei derart widerrechtlicher Aneignung geleisteter Arbeit wurde im Sommer 2008 bekannt: Das massenhafte Unterlaufen des gesetzlichen Mindestlohnes für Bauarbeiter in der Bundeshauptstadt Berlin. Hier wurden in großem Maßstab Arbeitszeiten durch die Unternehmer falsch abgerechnet, um den für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag zu umgehen.


Der Sozialkasse des Berliner Baugewerbes – einer Solidareinrichtung der Branche - war aufgefallen, dass in rund 40 Prozent der Bauunternehmen in  Berlin offiziell nur drei Viertel der tariflichen Arbeitszeit gearbeitet wurde – so zumindest ging es aus den Meldeunterlagen der Unternehmen hervor. Nun kommt Teilzeitarbeit im Baugewerbe praktisch so gut wie nicht vor. Für die Industriegewerkschaft Bauen, Agrar, Umwelt (IG BAU) handelte es sich um einen klaren Fall von Lohnbetrug. »Jeder, der etwas von der Sache versteht, weiß, dass ein halbwegs komplexes Bauvorhaben mit Teilzeitbeschäftigten nicht zu bewältigen ist«, erklärte der Regionalleiter der IG BAU in Berlin und Brandenburg, Rainer Knerler.

Das Prinzip ist denkbar einfach: Ein Beschäftigter arbeitet tatsächlich um die 40 Stunden in der Woche, ist aber offiziell teilzeitbeschäftigt und bekommt nur 30 Stunden bezahlt – die allerdings korrekt entsprechend dem gültigen Mindestlohn. Derzeit sind das in Berlin, das zum Tarifgebiet West gehört, 12,50 Euro für Facharbeiter und 10,40 Euro für Bauhelfer. Ein Arbeiter, der sich – unter dem Druck drohender Erwerbslosigkeit – auf derartige Deals einlässt, wird auf diese Weise schnell um 500 Euro im Monat geprellt.


Diese – wahrscheinlich auch in anderen Bundesländern übliche Praxis -  konnte in Berlin nur deshalb auffliegen, weil die IG BAU dort vor zwei Jahren einen Tarifvertrag durchgesetzt hatte, der die Unternehmen verpflichtet, monatlich die geleisteten Arbeitsstunden an die Sozialkasse zu melden. Zwar hatte die Gewerkschaft »schon lange vermutet, dass es Unternehmen gibt, die bei der Arbeitszeit schummeln, um den Mindestlohn zu umgehen«, wie Knerler damals erklärte, aber nur durch die neuartige, vorgeschriebene Plausibilitätsprüfung kam sie an belastbare Zahlen.

Der »Tarifvertrag über zusätzliche Angaben im arbeitnehmerbezogenen Meldeverfahren im Berliner Baugewerbe« gilt seit Anfang 2007. Das damit installierte Kontrollsystem ist bislang deutschlandweit einzigartig und könnte Modellcharakter auch für andere Länder oder den Bund haben, um das Aushebeln der Baumindestlöhne zu verhindern. Möglicherweise könnte eine ähnliche Regelung auch als Instrument zur Kontrolle eines künftigen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohnes dienen.

Allerdings stößt auch die weitgehende Berliner Regelung angesichts der momentanen Rechtslage schnell an Grenzen – die Sanktionsmöglichkeiten der Arbeitnehmer sind allzu beschränkt. Viel mehr als der zuständigen Kontrollbehörde Hinweise auf Unternehmen zu geben, in denen es offensichtlich wiederholt zu Mindestlohnverstößen kommt, kann die Gewerkschaft nicht tun. Zwar hat die IG BAU - u. a. nach dem Betriebsverfassungsgesetz – ein, in der Praxis immer wieder umstrittenes, Zugangsrecht zu Baustellen. Trupps von Gewerkschaftern stoßen bei solchen Ortsterminen in Gesprächen mit den Kollegen häufig auf Fälle, in denen der Mindestlohn nicht gezahlt wird. Von umfassenden Kontrollrechten, wie sie Gewerkschaften in den skandinavischen Ländern haben, sind die deutschen Arbeitnehmerverbände jedoch weit entfernt.

Ob die staatlichen Kontrollbehörden überhaupt aktiv werden, liegt letztlich in deren Ermessen. Oft fehlen, ähnlich wie bei den Kontrollbehörden des Arbeits-, Gesundheits- und Verbraucherschutzes, schlicht die Kapazitäten. Die »Finanzkontrolle Schwarzarbeit« (FKS), eine Untergliederung der Bundeszollverwaltung, ist offenkundig überlastet.

inem Bericht des Bundesrechnungshofes aus dem Jahr 2006 zufolge können deren Mitarbeiter vielfach ihren Kontrollpflichten nicht nachkommen, weil sie mit Verwaltungsaufgaben beschäftigt sind. Demnach wurde die Zielvorgabe des Arbeitsgebietes Prävention, »zu mindestens 50 Prozent der Arbeitszeit Außendienst zu leisten und mit den behördlichen Streifenfahrzeugen Präsenz zu zeigen«, im Berichtszeitraum »deutlich verfehlt«.

Jörn Boewe in BIG Business Crime 01/2009