Philipp Probst ruft die militanten und kreativen Kämpfe der revolutionären Gewerkschaft der Industrial Workers of the World
zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Erinnerung. Die Organisierung
überwiegend weiblicher, migrantischer, ungelernter ArbeiterInnen ist
heute noch ein inspirierendes Beispiel klassenkämpferischer
Gewerkschaftspraxis.
Amerika scheint ein Land ohne Klassenauseinandersetzungen und
kämpfende Arbeiterinnen und Arbeiter zu sein; das Klischee des
amerikanischen Arbeiters als weiß, männlich, patriotisch, zumindest ein
bisschen christlich-fundamental und im Grunde reaktionär hält sich
hartnäckig. Die Proteste migrantischer ArbeiterInnen 2006, worker centers,
die Organizing-Versuche neuer Gewerkschaftsbewegungen und „wilde“
Streiks zeichnen hingegen ein anderes Bild der amerikanischen
ArbeiterInnenklasse.
Dass viele dieser Entwicklungen nicht völlig neuartig sind, ist
allerdings in der Geschichte der US-amerikanischen
ArbeiterInnenbewegung verschüttet worden. Bereits die revolutionäre
Gewerkschaft der Industrial Workers of the World
(IWW), eine der herausstechendsten Organisationen der Kämpfe Anfang des
20. Jahrhunderts, versuchte, Kampf- und Organisationsformen
ungelernter, überwiegend weiblicher und migrantischer ArbeiterInnen
aufzugreifen. Von der Sensibilität der „Wobblies“ für Veränderungen in
der Zusammensetzung der ArbeiterInnenklasse und ihrer
klassenkämpferischen Einstellung kann auch die heutige Debatte zur
Neuausrichtung der Gewerkschaftsbewegung lernen.
In der Phase der industriellen Umstrukturierung der amerikanischen
Wirtschaft war die IWW die erste gewerkschaftliche Organisation, die
die Auswirkungen des Taylorismus auf die ArbeiterInnenklasse erkannte.
Ihr Anspruch, die Spaltungen zwischen den ArbeiterInnen zu überwinden
und alle in einer großen Gewerkschaft zu organisieren, war wegweisend
für die spätere amerikanische Gewerkschaftsbewegung. Das Ziel der IWW
war eine neue, bessere Gesellschaft und der Massenstreiks das
entscheidende Mittel, diese zu erreichen.
Die „Industrial Workers of the World”
Am 27. Juni 1905 eröffnete „Big Bill“ Haywood in Chicago den
Gründungskonvent der IWW unter großem Beifall: „Dies ist der
kontinentale Kongress der ArbeiterInnenklasse. Wir sind hier, um die
ArbeiterInnen dieses Landes zu einer ArbeiterInnenbewegung
zusammenzuschließen, deren Ziel die Befreiung der ArbeiterInnenklasse
von der kapitalistischen Sklaverei ist“.1 Der Saal war voll mit Delegierten aus dem ganzen Land: AnarchistInnen und SozialistInnen, der linke Flügel der Socialist Party, Frauen und Männer, Schwarze und Weiße, die kämpferischen Bergleute der Western Federation of Miners,
„Radikale, RebellInnen und RevolutionärInnen, die ‚stiff-necked
irreconcilables’ im Krieg mit der kapitalistischen Gesellschaft“.2
Sie sahen die Organisation als Mittel, den Kapitalismus zu stürzen und
durch „eine neue soziale Ordnung“ zu ersetzen, als eine Organisation,
die „geformt, basiert und gegründet ist im Klassenkampf“ und
kompromisslos gegen die von anderen Gewerkschaften betonte
Klassenkooperation stand. „Die Idee des Klassenkonflikts war … die
Ausgangsbasis der IWW“3
und anstelle des „konservativen Mottos ‚Ein fairer Tageslohn für einen
fairen Arbeitstag‘“ stand die Forderung nach der Abschaffung des ganzen
Lohnsystems.4
Der Slogan „One Big Union“ brachte auf den Punkt, was die IWW sein
wollte. Entgegen der ausgrenzenden Politik etablierter Gewerkschaften
wie der American Federation of Labor (AFL), die nur weiße, gelernte Arbeiter aufnahmen, sollte die IWW nicht nur gelernte und ungelernte (skilled and unskilled labor)
umfassen, sondern auch Frauen und die große Zahl migrantischer Arbeiter
und Arbeiterinnen. „Was wir diesmal aufbauen wollen, ist eine
ArbeiterInnenorganisation, die ihre Türen weit für alle öffnen wird,
die ihren Unterhalt entweder durch ihre Muskeln oder ihr Gehirn
verdienen.“5
Vorgeschichte: Pullman 1894
Der Streik der American Railway Union in Pullman unter
Führung des Sozialisten Eugene V. Debs war ein entscheidender Moment in
der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung und die Gründe für dessen
Niederlage prägten die nachfolgenden Jahre und die Politik der IWW
grundlegend.
Ende des 19. Jahrhunderts war Amerika Schauplatz rasanter
Industrialisierung und Mechanisierung der Produktionstechniken und
heftiger Streikbewegungen. 1892 konnte in Homestead der Streik der
damals stärksten Teilgewerkschaft, der Amalgamated Association of Iron and Steel Workers,
gegen das Carnegie Unternehmen nur durch die Gewalt von Privatarmee und
Regierungstruppen gebrochen werden. Der Arbeitskampf endete mit der
Zerschlagung der Amalgamated Association. Die Zerschlagung
„der mächtigsten Gewerkschaft der Vereinigten Staaten durch eine
Privatarmee, die Staatsmiliz und die Carnegie-Gesellschaft zwang die
Arbeiter zum Umdenken. Es galt, neue Lösungen auf dem Boden einer
weitreichenden Solidarität der Lohnabhängigen zu finden.“6
Ähnliche Erfahrungen machten im gleichen Jahr die ArbeiterInnen von New
Orleans, die einen Generalstreik ausgerufen hatten, in dem sich
schwarze und weiße ArbeiterInnen solidarisierten. Kurzfristig wurde die
rassistische Segregation unter den ArbeiterInnen überwunden und das
Potential gemeinsamer Kämpfe aufgezeigt. Aufgrund der Gefahr einer
Solidarisierung schwarzer und weißer ArbeiterInnen verschärften
Unternehmer und Regierung rassistische Segregationsstrategien sowie die
Durchsetzung der Jim Crow-Gesetze.7
Die Streikwelle des Jahres 1894 – es streikten 750.000 ArbeiterInnen,
mehr als jemals zuvor – gipfelte schließlich in den
Auseinandersetzungen in Pullman. George Pullman, Besitzer des
Waggonherstellerunternehmens Pullman Palace Car Company,
gehörte im Grunde die ganze Stadt: Häuser, Wohnungen und Straßen. Der
Frust über fallende Löhne bei gleich bleibenden Mieten, die direkt vom
Lohn abgezogen wurden, führte zum Streik. Ein Arbeiter fasste die
Stimmung zusammen: „Wir bekommen zu wenig Geld zum Leben, warum sollten
wir also arbeiten?“8 In diesen Auseinandersetzungen war die American Railway Union (ARU,
eine Teilgewerkschaft der AFL), in der Eugene Debs eine führende Rolle
innehatte, entscheidend. Der Streik in den Pullmanwerken weitete sich
rasch aus. Solidaritätsstreiks und ein Boykott der Weichensteller
führten dazu, dass bald alle Linien nach Chicago brach lagen.
Die Solidaritätsstreiks wurden vor allem durch eine Strategie der ARU
möglich, die im Gegensatz zur AFL-Dachgewerkschaft, die die
Facharbeiter nach „Zünften“ oder „Handwerk“, d.h. einer
Teilgewerkschaft für Weichensteller, einer für Drucker, etc.9 organisierte, darauf abzielte, möglichst allumfassend die ArbeiterInnen der Industrien zu organisieren.
Die ARU nahm damit schon in Ansätzen vorweg, was die IWW später unter Industrial Unionism
verstand. Debs fasste zusammen: „Die Arbeiter müssen sich vereinigen.
Die Trennungslinien müssen nach und nach überwunden werden und alle
unter dem siegreichen Banner der Arbeit zusammenkommen, zusammen
marschieren, zusammen wählen und zusammen kämpfen. Dann ist die Zeit
nicht mehr fern, in der die Arbeiter die Früchte ihrer Arbeit selbst
besitzen und genießen werden.“10
Der Kampf gegen die Eisenbahnergesellschaften war erfolgreich. Diese
standen trotz medialer Hetze gegen die Streikenden und Privatarmee mit
dem Rücken zur Wand und sahen die letzte Möglichkeit darin, die
Regierungstruppen einzuschalten, damit sich der Streik nicht über das
ganze Land ausbreitet. Der bis dahin bewusst friedliche Streik11
eskalierte und es kam zu gewaltsamen Ausbrüchen und
bürgerkriegsähnlichen Zuständen von Sacramento bis New Mexico. An der
Spitze der Gegenwehr der ArbeiterInnen standen vor allem „Emigranten,
Arbeitslose und unqualifizierte Arbeiter – also die am brutalsten
ausgebeutete Klasse des Proletariats.“12
Debs wurde verhaftet und der Streik stand an der Kippe. Die
Gewerkschaft der ZigarrendreherInnen forderte einen Generalstreik. Die
AFL sprach sich jedoch gegen Solidaritätsstreiks aus und stellte sich
grundsätzlich gegen das umfassende gewerkschaftliche Konzept der ARU.
Sie beschloss eine symbolische 1000-Dollar Spende für Debs’
Verteidigung, ordnete den lokalen AFL-Zweigen an, wieder zur Arbeit
zurückzukehren, und nahm damit dem Streik den Wind aus den Segeln. Die
Eisenbahner zogen ihre Lehren aus dem Verlauf des Streiks: „Er hat
gezeigt, dass die Arbeiter gemeinsam kämpfen müssen, dass keine
Einzelgewerkschaft Erfolg haben kann … Die gesamte Presse war gegen
uns, die Richter, die öffentlichen Vertreter des Staates, der Staat
selber – ja sogar die alten Arbeitervereine“.13
Die alten Gewerkschaften hatten jedoch weder die Auswirkungen der
Umstrukturierungen im Zuge der Industrialisierung auf die
ArbeiterInnenklasse begriffen, noch waren sie gewillt, eine ernsthafte
Konfrontation mit der kapitalistischen Klasse einzugehen. Laut Eugene
Debs musste deshalb eine „revolutionäre ArbeiterInnenorganisation“
aufgebaut werden, die „den Klassenkampf ausdrücken muss. Sie muss die
Klassenlinien sehen. Sie muss, selbstverständlich, klassenbewusst sein.
Sie muss vollständig kompromisslos sein. Sie muss eine Organisation der
ArbeiterInnen an der Basis selbst sein.“14
Der alte Gewerkschaftstyp der AFL habe „nicht nur seinen Nutzen
verloren …, sondern ist reaktionär geworden, nichts als ein Hilfsmittel
der kapitalistischen Klasse“.15
Die Lehren der Kämpfe des späten 19. Jahrhunderts wurden von der IWW
aufgenommen. Diese machte es sich sowohl zur Aufgabe, die neue
Zusammensetzung der ArbeiterInnenklasse, wie auch die Umstrukturierung
der kapitalistischen Wirtschaft im Zuge der Industrialisierung und der
von Taylor eingeführten ‚wissenschaftlichen Betriebsführung’ zu
analysieren. Diese neue Klassenzusammensetzung, die sowohl Ergebnis der
technischen Umstrukturierung wie auch des Widerstands dagegen war,
stand im Zentrum der theoretischen und praktischen Aktivitäten der IWW.16
Wissenschaftliche Betriebsführung
Im Zuge der Industrialisierung des amerikanischen Kapitalismus
verschwanden die alten Formen der Produktion, die Formen der
individuellen Produktion durch gelernte Arbeiter. Neue Technologien und
die Einführung der „wissenschaftlichen Betriebsführung“ gaben den
Unternehmern mehr Kontrolle über den Arbeitsprozess. Mit dieser
technischen Umstrukturierung schwand auch die Macht der
Fachgewerkschaft der AFL.
Diese lag vor allem darin, dass sie das Produktionsausmaß, also die
produzierte Stückzahl und das Arbeitstempo mitbestimmen konnte. Die
„wissenschaftliche Betriebsführung“ des Taylorismus zielte darauf ab,
die Kontrolle über den Arbeitsprozess beim Management zu konzentrieren.
Ziel war es die Zeit herauszufinden, die tatsächlich für die Produktion
gebraucht wird und damit gegen das „systematische Bremsen“17 vorzugehen.
Ein Gewerkschaftsführer beschrieb 1887 die Auswirkungen: „Die Glocke,
die den müden, unterbezahlten Arbeiter aus seiner bitter nötigen Ruhe
reißt, verhöhnt ihn mit jedem Schlag. Die Maschinerie, die seine
Fähigkeiten und seine Zeit für ihn selbst wertloser macht, wertvoller
aber für seinen Herrn, wird zum verhassten Folterinstrument; ihr
monotones Geräusch summt im Takt mit seinem Stöhnen und Fluchen. Die
Fabrik, das Bergwerk, die Gießerei und der Lokomotivschuppen stehen da
wie Giganten, bereit, sein Innerstes zu verschlingen.“18
Die erworbenen Fähigkeiten und das Wissen der Facharbeiter wurden in
der mechanisierten Massenproduktion auf die Ebene des Managements
verlagert. Arbeit wurde damit zur rein ausführenden Tätigkeit ohne
Einsicht in die Zusammenhänge des Arbeitsprozesses. Das Ergebnis war
eine radikale Trennung von Denken und Tun, Hand- und Kopfarbeit,
Kontrolle und Ausführung. Zusätzlich höhlte die Entwertung der
Facharbeit die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften gegenüber den
Unternehmern weitgehend aus. Hatten diese bis dahin Ausbildungswege
reguliert und damit das Angebot an Facharbeitskräften monopolisiert,
reduzierte die tayloristische Betriebsorganisation die Nachfrage nach
Facharbeitern auf ein Mindestmaß. Das Projekt der wissenschaftlichen
Betriebsführung zielte damit auf drei Punkte ab: „die Brechung der
Macht und faktischen Kontrolle der organisierten Facharbeiter über den
Produktionsprozess, die Enteignung ihrer Kenntnisse und deren
Einverleibung in neue Planungs- und Kontrollinstanzen des Management,
und schließlich die Atomisierung der Arbeitsverrichtungen in
kalkulierbare Segmente“, die die „Poren der Arbeitszeit“ eliminieren
sollte.19
In Folge ihres Machtverlustes konzentrierte sich die AFL auf die
Bedrohung des Lohn- und Leistungsniveaus und die Forderung eines
gerechten Lohns für eine gerechte Arbeit. Die Ursache der Lohnsenkungen
wurde aber nicht in den Umstrukturierungen der Produktionsprozesse
verortet, sondern im vermeintlichen Lohndruck durch eingewanderte
billige Arbeitskräfte. Damit war der Weg geebnet für eine rassistische
Politik der AFL.20 Tatsächlich dienten ImmigrantInnen aus vielen Teilen der Welt den Unternehmen als ungelernte Arbeitskräfte21;
das Vorhandensein eines „doppelten Arbeitsmarktes“ ließ sie jedoch erst
gar nicht in Konkurrenz zu gelernten Facharbeitern treten. Die
Konzentration der AFL auf die Facharbeiter und der Versuch, deren
privilegierte Position innerhalb der ArbeiterInnenklasse zu schützen,
verstellte ihnen nicht nur den Blick auf die Veränderungen der
Zusammensetzung der ArbeiterInnenklasse, sondern führte auch dazu, dass
die wachsende Gruppe ungelernter, migrantischer ArbeiterInnen als
Bedrohung ihrer eigenen Stellung betrachtet wurde. Die Aussagen des
AFL-Führers Samuel Gompers über die IWW als „Schimmelpilz auf der
Arbeiterbewegung“ und die ungelernten und angelernten ArbeiterInnen als
„Pöbel“ zeugten von der Verachtung für diese neuen Schichten.
Neuzusammensetzung der ArbeiterInnenklasse
Die Politik des Industrial Unionism und der One Big Union
waren Antwortversuche der IWW auf die Auswirkungen des Taylorismus. Die
IWW sah ihre Aufgabe darin, aus der veränderten Zusammensetzung der
ArbeiterInnenklasse und den neuen Bedingungen für Widerstand Schlüsse
zu ziehen, sowohl die Art der Organisierung als auch der Kampfformen
betreffend. Denn die ArbeiterInnenklasse bestand nicht nur aus weißen,
gelernten Arbeitern, sondern auch aus ungelernten ArbeiterInnen,
Frauen, WanderarbeiterInnen, Schwarzen, ImmigrantInnen aus Irland,
Polen, Schweden und vielen weiteren Ländern Europas. Die Wobblies
erkannten dies: „Das Industriesystem bezieht alle Faktoren ein: die
Arbeiterin, der Ungelernte, der Wanderarbeiter, der Handlanger sind
alle integraler Bestandteil der Industrie, in der sie jeweils
beschäftigt sind. Sie sind keineswegs lumpenproletarische Wracks,
sondern sie sind reale und notwendige Elemente in der Zusammensetzung
der Arbeiterklasse“.22
Der steigende Anteil ungelernter Arbeitskräfte führte nicht nur zur
Entwertung der Facharbeit, sondern ermöglichte es den Unternehmern
auch, Arbeitssuchende, die in Massen in die Industrien drängten,
gegeneinander auszuspielen und Streikbrecher gegen streikende
ArbeiterInnen einzusetzen. Durch unterschiedliche Lohnniveaus und
interne Disziplinierung konnte die Konkurrenz zwischen den
ArbeiterInnen ausgenutzt werden, die zusätzlich entlang
geschlechtsspezifischer Trennlinien als auch nach Hautfarbe oder
Herkunft gespalten waren. Die Einbeziehung eines Teils der gelernten
Facharbeiter als Vorarbeiter oder in Managementstrukturen spaltete
diese wiederum untereinander.
Demgegenüber strebten die Unternehmer eine koordinierte Politik
gegenüber den ArbeiterInnen an. Seien es offene Konfrontation oder
subtilere Methoden, ihr Erfolg hing „von der Blindheit und den inneren
Zwistigkeiten der Arbeiterklasse“ ab.23 Gerade wegen ihres Ziels der One Big Union
war es für die Wobblies essentiell, „das Kräfteverhältnis zwischen
Kapital und Arbeit aus der Perspektive einer gespaltenen in sich selbst
konkurrierenden und ständig neu zusammengesetzten Arbeiterschaft zu
sehen“ und die Kampf- und Organisationsformen der spezifischen
Situation anzupassen. Es ging dabei nicht darum dem „Arbeiter [zu]
sagen was richtig und was falsch [ist], sondern die aktuellen
Bedingungen zu analysieren.“24
Der Streik in McKees Rock verdeutlicht die Strategie der IWW, nicht nur
auf die Kernbelegschaft zu setzen, sondern, Frauen, Arbeitslose und
ArbeiterInnen anderer Industriezweige in die Streiks mit einzubeziehen.
Über den Massenstreik sollten die inneren Spaltungen überwunden werden.
Zugleich zeigt das Beispiel, wie von Unternehmern versucht wurde, die
Spaltungen auszunutzen, und die privilegierten Facharbeiter erfolgreich
auf deren Seite gezogen werden konnten.
McKees Rock
Der Streik begann, als am 12. Juli 1909 ausländische ArbeiterInnen aus Protest gegen Lohnkürzungen im Konzern Pressed Steel die Arbeit niederlegten und daraufhin entlassen wurden.25
Drei Tage später hatten alle ausländischen ArbeiterInnen die Arbeit
niedergelegt und sich einige der einheimischen ArbeiterInnen
angeschlossen, sodass die gesamte Fabrik geschlossen werden musste. Ein
Streikkomitee amerikanischer Facharbeiter, genannt die Big Six,
setzte sich an die Spitze des Streiks, organisierte Spenden und
Lebensmittel, setzte sich aber nicht aktiv für den Streik ein. Von den
Unternehmern wurden alle Mittel aufgeboten. Nach Polizei und
Nationalgarde wurden die „Pennsylvania Cossacks“ geholt, eine
berüchtigte Spezialtruppe, die die Aufgabe hatte, Streikbrecher (scabs)
einzuschleusen und die Fabrikwohnungen zu räumen. Mit der Konfrontation
wurde auch die Frage von gewaltsamen Gegenmaßnahmen akut. Sowohl der
Widerstand gegen die Wohnungsräumungen, der hauptsächlich von Frauen
getragen wurde, als auch dringender Handlungsbedarf gegen scabs,
machten schnelle und militante Entscheidungen notwenig. Die Big Six
jedoch setzten auf Geduld. Sie sprachen sich strikt gegen alle
Widerstandsmaßnahmen und für freiwillige Räumungen und Verhandlungen
mit dem Management aus. Die Passivität der Big Six veranlasste die
Streikenden, sich neu zu organisieren, und Kontakt zu den IWW
aufzunehmen. Unter der Führung der IWW wurde ein neues Komitee
gegründet und regelmäßig Versammlungen organisiert, auf denen
Forderungen formuliert, Streiktaktiken beschlossen und Übersetzungen
besorgt wurden. Die Gefahr durch scabs wurde durch Truppen von
ArbeiterInnen, die Streikbrecher aufspürten und aus den Fabriken
warfen, abzuwehren versucht. Als viel wichtiger erwies sich aber die
Solidaritätsarbeit und der Versuch der IWW, Frauen, Kinder und
Arbeitslose in die Streikaktivitäten mit einzubeziehen. Die
Solidaritätsarbeit zeigte bald Wirkung und Eisenbahner weigerten sich,
Streikbrecher nach McKees Rock zu transportieren. Während sich 2.000
bis 3.000 Arbeitslose dem Streik anschlossen und damit den Druck der
„industriellen Reservearmee“ minderten, verteidigten Frauen die
Werkwohnungen.
Nach gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Streikenden
versuchten die Big Six und die Regierung, die Kontrolle wieder zu
übernehmen. Ein Kompromiss wurde verhandelt, die Zugeständnisse aber
nie eingelöst. Die militante Stimmung blieb aufrecht und am nächsten
Tag streikten 2.500 ArbeiterInnen, ohne den Arbeitsplatz zu verlassen.
Mit dieser neuen Methode des sit in wurden substantielle Lohnerhöhungen
erkämpft. Ein weiterer Streikversuch von 4.500 ArbeiterInnen wurde
jedoch durch die Facharbeitergewerkschaft, mit der das Unternehmen
bereitwillig in Verhandlungen trat, verhindert, indem sie unter
Polizeischutz mit tausend Streikbrechern in die Fabrik einzog.26
Die Unternehmen reagierten mit Vorbeugungsmaßnahmen gegen erneute
„Ausländeraufstände“. Eine „Amerikanisierungskampagne“ mit einem
Abendschulprogramm für Unterricht in englischer Sprache und in
amerikanischer Staatsbürgerkunde wurde eingerichtet. „Was hier
unterrichtet wurde, erfährt man aus einem zeitgenössischen Textbuch:
‚Ich höre die Fünf-Minuten Sirene. Es ist Zeit, in die Fabrik zu gehen.
Ich nehme am Eingang meine Stempelkarte und stecke sie in meiner
Abteilung ein. Ich ziehe mich um und mache mich zum Arbeiten fertig.
Die Startsirene bläst. Ich esse mein Mittagessen. Es ist verboten,
vorher zu essen. Die Sirene bläst fünf Minuten vor Arbeitsbeginn. Ich
mache mich für die Arbeit fertig. Ich arbeite, bis die Sirene wieder
bläst. Ich lasse meinen Arbeitsplatz sauber zurück. Ich lege alle meine
Sachen in mein Schließfach. Ich gehe nach Hause.’“27
Da die Strategie der Unternehmer auf die Integration von Facharbeitern
in Managementstrukturen abzielte, war für die IWW klar, dass es
vergeblich war, auf eine selbstverständliche oder durch moralische
Appelle bewirkte Klasseneinheit im Sinne einer One Big Union
zu hoffen. Sie konzentrierte sich deshalb noch stärker auf die
ungelernten ArbeiterInnen. Das bedeutete nicht, dass das Projekt der One Big Union
aufgegeben wurde; durch die Organisierung der Masse der ungelernten
ArbeiterInnen sollten die Facharbeiter in Massenbewegungen und
Massenstreiks mitgerissen werden.
Kämpfende und singende ArbeiterInnen
Trotz der Niederlage war der Streik bei McKees Rock der Startschuss
für eine Phase von Kämpfen, die „zu den gewaltsamsten der
nordamerikanischen Arbeitergeschichte gehört.“28 Dem Streik von McKees Rock folgten Aufstände in der Waffenfabrik Bethlehem Steel
1910, bei dem 7.000 hauptsächlich ungarische und polnische
ArbeiterInnen für den acht-Stunden-Tag kämpften. Trotz des Versuchs der
AFL die herbeigerufene IWW fernzuhalten, breitete sich der Streik auf
die angrenzenden Kohleabbaugebiete aus. In Philadelphia kam es 1909 zu
gewaltsamen Aktionen gegen Streikbrecher und 1910 zu einem
Generalstreik von über 146.000 ArbeiterInnen, ausgelöst durch einen
Streik von Textilarbeiterinnen. Inspiriert vom Internationalen
Frauentag brachen 1909 zehntausende Näherinnen in New York einen
Aufstand los, der sich gegen „sweatshop“-Bedingungen und die
regelmäßigen sexuellen Belästigungen durch Vorarbeiter richtete. „Wo
immer Arbeiter sich versammelten, wurde heftig über den Generalstreik
diskutiert“. Streiks slawischer Stahlarbeiter in Hammond, jüdischer und
italienischer Näherinnen in New York und slawischer Bergarbeiter in
Avelia waren alle Teil der Streikwelle, getragen hauptsächlich von
unorganisierten und ungelernten, häufig weiblichen ArbeiterInnen in und
außerhalb der Fabrik. „[Ihre] Militanz, der unmittelbare Angriff auf
die neue Organisation der Arbeit und die ‚direkte Aktion’ –
Widerstands- und Organisationsformen ohne oder gegen die Gewerkschaften
– wurden zu Charakteristika der Kämpfe in den Jahren seit 1909 bis hin
zu ihrem Höhepunkt in der Nachkriegszeit.“29
Die etablierten AFL-Teilgewerkschaften konnten den Massen an
ungelernten ArbeiterInnen keine Perspektive bieten. Ein alter
AFL-Gewerkschafter schreibt über die Ungelernten verächtlich, dass sie
„heute in die Gewerkschaft eintreten und morgen schon streiken wollen“.330
Tatsächlich entsprach die kompromisslerische Politik der AFL nicht der
Lebensrealität und den Interessen dieses Teils der ArbeiterInnenklasse.
Durch den ständigen Wechsel von Arbeitsplätzen war es für die
Ungelernten und WanderarbeiterInnen wenig verlockend, auf lange
Verhandlungen zu setzen. In manchen Branchen bewegten sich MigrantInnen
durch die Unternehmen „wie durch Drehtüren.“31
Die Konzentration auf die Masse der un- oder angelernten ArbeiterInnen
ließ die IWW auch auf neue Widerstands- und Organisationsformen setzen.
So entsprangen die free speech fights
dem Protest der ArbeiterInnen gegen die Praxis des „Jobkaufs“, bei dem
sie sich die Arbeitsplätze um ca. fünf Dollar kaufen mussten. Die free
speech fights fingen dort an, wo sich die Massen versammelten: nicht am
Arbeitsplatz, sondern in den Städten. Die IWW organisierten
Straßenversammlungen, um die ArbeiterInnen aufzurufen das Betteln um
Arbeit zu verweigern. „Don’t buy Jobs! Read the Industrial Worker!“ Die soapboxer,
Menschen die sich auf Seifenkisten stellten um Reden zu halten,
versuchten die WanderarbeiterInnen davon zu überzeugen, sich zu
organisieren. Dabei hatten die Wobblies die Heilsarmee und andere
religiöse Sekten gegen sich, die den ArbeiterInnen Geduld und die
Verheißungen des Paradieses predigten, wenn sie nur brav wären. Die
Wobblies nutzten die Melodien der Heilsarmeekapellen und sangen ihre
eigenen Texte darüber. So heißt es in einem Lied des berühmten Wobbly
und Sänger Joe Hill, dass sie den versprochenen „pie in the sky“ schon
auf Erden haben wollen.
Nachdem die Unternehmer 1909 ein Rede- und Versammlungsverbot durchgesetzt hatten, ging die Polizei hart gegen die soapboxer vor.
Dem Verbot folgten Aufrufe in den Zeitungen der IWW, die tausende
Menschen mobilisierten, bis die Behörden gezwungen waren, das Verbot
aufzuheben. Als Kommunikationsnetz zwischen den MigrantInnen wurden die free speech fights zu einem wichtigen Widerstandsmittel. So konnte die Rezession von 1910-12 zwar die erste Streikwelle dämpfen aber nicht die free speech fights,
da diese zur Kampfform der Arbeitslosen, zum Widerstandsmittel der
WanderarbeiterInnen und zum Mittel der Solidarisierung zwischen
Arbeitslosen und ArbeiterInnen wurden. Die Slogans und Lieder der
Wobblies waren weithin bekannt und Tausende nannten das rote
IWW-Liederbuch ihr Eigen.32
Ein weiterer Versuch, die WanderabeiterInnen zu organisieren, waren die
job delegates, mobile WanderarbeiterInnen-Wobblies, die MigrantInnen am
Arbeitsplatz organisierten. Der Kern der mächtigen Agricultural Workers Organizaion der IWW entstand aus diesen Bemühungen.
Die free speech fights
zeigen besonders deutlich, wie die IWW ihre Organisierungsmethoden an
die spezifische Situation unterschiedlicher Gruppen von ArbeiterInnen
anzupassen vermochte. WanderarbeiterInnen, die ohne festen Wohnsitz und
längeres Beschäftigungsverhältnis schwer organisierbar waren, wurden
dort angesprochen, wo sie sich versammelten. Mit Hilfe der job delegates
gelang es der IWW, die besonderen Probleme der WanderarbeiterInnen –
etwa Polizeikontrollen, Diebe in den von ihnen benützten Zügen oder die
Willkür der Arbeitgeber – nicht nur anzusprechen, sondern Lösungen zu
finden, wie die militante, kollektive Abwehr von Dieben und Polizei.
Die Taktiken der IWW wurden immer vielfältiger: Neben Generalstreiks
wurde der quickie eingeführt, bei dem direkt am Arbeitsplatz für kurze
Zeit gestreikt wurde. Ein Wobbly erklärte: „Die Arbeit niederlegen und
hungern ist verrückt, wenn man am Arbeitsplatz streiken kann und essen.“33
Das Kampfmittel der Sabotage richtete sich gegen die Rationalisierungs-
und Effizienzwelle im Zuge der „wissenschaftlichen Betriebsführung“ und
wurde ein immer wichtigerer Teil der IWW-Strategie. Dabei ging es um
„den bewussten Entzug von Effizienz“, den Versuch, zumindest teilweise
die Kontrolle über das Arbeitstempo zurückzugewinnen. So pries „Big
Bill“ Haywood die Sabotage in Betrieben: „Ich kenne nichts was euch so
viel Befriedigung bringen wird und dem Boss so viel Ärger wie ein
bisschen Sabotage am richtigen Ort und zur richtigen Zeit. Findet
heraus, was es bedeutet. Es wird euch nicht schaden, aber sehr wohl dem
Boss.“34
Die IWW zeigte, „dass die Wanderarbeiter, Frauen, Schwarzen und
Ausländer keineswegs unorganisierbar und unterwürfig, passiv oder
zurückgeblieben waren, was vielfach als Rechfertigung ihrer
Diskriminierung innerhalb der offiziellen Arbeiterbewegung behauptet
wurde, und dass im Gegenteil der Zusammenhalt und Massencharakter ihrer
Kämpfe die entscheidende Bedrohung für das kapitalistische Projekt
darstellte“.35
Bread and Roses
Die Solidarisierung zwischen ArbeiterInnen und Arbeitslosen war
bedeutend für einen erneuten Aufschwung von Arbeitskämpfen, der 1912
begann. Die Arbeiterinnen in den Textilfabriken in den USA waren
derselben Umstrukturierung unterworfen, wie in anderen
Industriezweigen. Die Arbeiterinnen mussten mehrere Webstühle – auch devils genannt – gleichzeitig bedienen, viele waren entlassen und die Löhne gesenkt worden.
Schon 1909 war es deshalb in New York zum „Aufstand der 20.000“
gekommen. Die Stimmung brachte eine junge Arbeiterin auf einer
Versammlung auf den Punkt: „Ich bin eine Arbeiterin, eine von denen,
die gegen unerträgliche Bedingungen streiken. Ich bin es müde,
Sprechern zuzuhören, die allgemeine Reden halten. Wir sind hier, um zu
entscheiden, ob wir streiken sollen oder nicht. Ich beantrage, dass ein
Generalstreik erklärt wird – sofort.“36
Im Jahr 1912 kam es schließlich in Lawrence zum Generalstreik. Die IWW
hatte in den Monaten davor „Organizers“ in die Textilfabriken
geschickt, um die Arbeiterinnen gegen die „speed ups“ und untragbaren
Arbeitsbedingungen zu organisieren. Ein Organizer meinte: „Wir sprachen
Marxismus, wie wir ihn verstanden – Klassenkampf, Ausbeutung der
ArbeiterInnen, der Staat und die Streitkräfte der Regierung, die gegen
die ArbeiterInnen waren.“37
An einem Zahltag im Jänner kam es dann zum Aufstand. Polnische
Arbeiterinnen hatten nach Lohnkürzungen die Arbeit niedergelegt.
Gruppen italienischer ArbeiterInnen verbreiteten die Aktion in anderen
Abteilungen und Betrieben, und am nächsten Tag waren die wichtigsten
Textilfabriken in der Stadt stillgelegt.
Die Basisarbeit der IWW hatte ihnen das Vertrauen der Streikenden
gesichert und OrganisatorInnen des McKees-Streiks wurden zusätzlich
herbeigerufen. Man hatte aus dessen partieller Niederlage gelernt und
so wurde von Beginn an ein eigenes Streikkomitee der Wobblies
eingesetzt und die AFL herausgehalten. Am Höhepunkt des Streiks hatten
250.000 ArbeiterInnen aus 24 unterschiedlichen Nationen die Arbeit
niedergelegt. Frauen nahmen eine führende Rolle in den Streiks ein.
Gurley Finn, Streikführerin und Wobbly, erklärte, dass „der IWW
vorgeworfen wird, dass sie Frauen an die Front schickt. Die Wahrheit
ist, die IWW hält die Frauen nicht zurück, und sie kommen von selbst
nach vorn.“38
Das getragene Banner „We want bread and roses too“ gab dem Streik
seinen Namen. Der Slogan stand für eine Radikalisierung der
Forderungen, die sich nicht mehr nur auf ein Subsistenzminimum
beschränkten, sondern ein Leben in Würde beanspruchten. „Der Streik war
berühmt für die Anwendung erprobter und neuer Taktiken:
Streikpostenketten, massenhafte und mobile Streikposten, die den
gesamten Wohnbezirk um die Fabrik erfassten.“39 Von der United Textile Workers
Gewerkschaft, die der Führung der AFL angehörte, wurde der Streik als
„anarchistisch“ und „revolutionär“ bezeichnet, doch wie ein Reporter
die Situation beschrieb, war es „der Geist der ArbeiterInnen, der
gefährlich war. Sie marschierten und sangen immer.“40 Es war kein gewöhnlicher Streik, schrieb ein Zeitgenosse sieben Jahre später, „sondern eine soziale Revolution im Kleinen.“41
Die Unternehmer gaben den meisten Forderungen der Streikenden nach und
die „Lawrence Revolution“ war Ausgangspunkt einer großen Streikwelle.
Von der „1000 Meilen langen Streikkette“, die von der Agricultural Workers Organization
(AWO) der IWW organisiert wurde, und den erfolgreichen Abwehrschlachten
der AWO gegen Schläger und Polizei, über die Streiks 1915 in den
Raffinerien Rockefellers und den Aufständen schwarzer ArbeiterInnen im
Süden, bis zum großen Streik der Holzfäller und Sägewerkarbeiter, der
die Einführung des Acht-Stunden-Tags erzwang, war die IWW in einer
führenden Rolle. Der Arbeitskräftemängel auf Grund des
Wirtschaftsaufschwungs im Ersten Weltkrieg stärkte die Position der
ArbeiterInnen gegenüber den Unternehmern zusätzlich. Das veranlasste
Unternehmen und Regierung, ihre bis dahin gewerkschaftsfeindliche
Politik zu ändern. Sie versuchten, company unions
einzuführen, oder mit Hilfe von kleinen Zugeständnissen an die AFL und
die Anerkennung von schon existierenden Teilgewerkschaften
ArbeiterInnen von Streiks abzuhalten.
Streikjahr 1919
Die hohe Inflation und die seit 1914 massiv angestiegenen
Lebenserhaltungskosten bei halbierten Reallöhnen sorgten für Unruhe
unter den ArbeiterInnen, die bald in Wut und Militanz umschlug. In
Seattle löste ein Aufstand von Hafenarbeitern einen Generalstreik von
60.000 ArbeiterInnen aus, als über 116 lokale Gewerkschaften in
Solidaritätsstreiks traten. Ganz Seattle war in der Hand der
ArbeiterInnen. Die IWW organisierte zusammen mit dem Metal Trades Council
(Metallarbeiterverein, der formal der AFL angeschlossen war) nach dem
Modell der russischen Revolution einen Soldaten-, Matrosen-, und
ArbeiterInnenrat, der dafür verantwortlich sein sollte, dass
unverzichtbare Dienstleistungen aufrecht erhalten werden. So
organisierten die MüllarbeiterInnen die Reinigung der Stadt, während
sich Brot- und MilchlieferantInnen um die Lebensmittelversorgung
kümmerten. Polizei und Armee gingen gegen die Streikenden vor. Dabei
konnten sie auf die Rückendeckung der nationalen AFL-Führung zählen,
die Druck auf die lokalen Verbände ausübte – gerade zu der Zeit, als
die Dauer des Streiks und die Abgeschnittenheit der Stadt enorm auf den
ArbeiterInnen lastete. Schließlich musste der Streik abgebrochen
werden. Trotzdem war die Stimmung im Land kämpferisch, nicht zuletzt
aufgrund der internationalen Ereignisse: The Nation schrieb
im Oktober 1919, dass „[d]ie bedeutendste Tatsache der Gegenwart die
beispiellose Revolte der Massen [ist]. Ihre Folgen sind unberechenbar
und für den Augenblick bedrohlich; doch gleichzeitig hat sie eine
ungeheure Hoffnung in die Welt gesetzt. Es ist eine weltweite Bewegung,
die durch den Krieg beschleunigt wurde. In Russland wurde der Zar
entthront. Seit zwei Jahren steht Lenin an der Spitze des Volkes.
Korea, Indien, Ägypten und Irland befinden sich in entschlossenem
Widerstand gegen die politische Tyrannei. England erlebt einen
Eisenbahnerstreik, der gegen den Widerstand der Gewerkschaftsführung
durchgesetzt wurde. In Seattle und San Francisco weigern sich die
Schauerleute [Hafenarbeiter], Waffen oder Nachschub zu befördern, die
gegen die sowjetische Regierung eingesetzt werden sollen. Streikende
Kumpels in Illinois haben in einer einstimmig verabschiedeten
Resolution ihre Staatsregierung dazu aufgefordert, ‚zur Hölle zu
gehen‘“.42
Der Höhepunkt und gleichzeitige Wendepunkt war ein Streik der
StahlarbeiterInnen im September 1919. Nachdem das Unternehmen US Steel
die Anerkennung der Gewerkschaft verweigerte, legten 400.000
ArbeiterInnen in 50 Städten die Arbeit nieder und hielten drei Monate
den Angriffen stand. Die Niederlage dieses Streiks war ein Schlag gegen
die gesamte ArbeiterInnenbewegung. Die noch immer stattfindenden wilden
Streiks wurden mit immer härteren Mitteln bekämpft und die Repression
richtete sich besonders gegen Radikale, wie IWW-Mitglieder. Im Kampf
gegen die „rote Gefahr“ (red scare) wurden RevolutionärInnen aller
Gruppierungen verfolgt, in den Untergrund getrieben und hingerichtet.
Die Repressionswelle war gekoppelt an die politische Integration
etablierter Gewerkschaften. Der Wirtschaftsaufschwung in den 1920ern
ermöglichte im Zuge des American Plan
Wohlfahrts- und Sozialprogramme, die mit patriotischer Propaganda
einhergingen. So gelang es der Regierung, sich die Loyalität der
ArbeiterInnenklasse zu sichern. Die Einführung von employee representation
(ArbeitnehmerInnenrepräsentation), welche die Form „gelber
Gewerkschaften“ oder betriebsratsähnliche Formen annehmen konnte,
sollte selbstständige Organisierung und Radikalität innerhalb der
ArbeiterInnenklasse verhindern.
Sowohl die Niederlagen der großen Streiks als auch die
„Sozialstaatspolitik“ waren also dafür verantwortlich, dass nur mehr
Kämpfe von isolierten Gruppen von ArbeiterInnen stattfanden. „Über eine
Dekade“, so Mike Davis, „mussten die Unternehmen keine militante
Gewerkschaftsarbeit fürchten“.43
Die endgültige Wende
Erst in den dreißiger Jahren kam es wieder zu einem Aufschwung der
Kämpfe. Der Höhepunkt der IWW war zu diesem Zeitpunkt schon vorbei. Der
Verlust vieler AktivistInnen während der Repressionswelle und eine
Spaltung zwischen AnarchistInnen und KommunistInnen schwächte die
Organisation zusätzlich. Ein großer Teil der Wobblies ging zur
Communist Party und bildete den Kern der ArbeiterInnenkämpfe der
1930er. Der neu gegründete Congress of Industrial Organizations (CIO) übernahm einige inhaltliche Forderungen der IWW. So propagierte der CIO das Programm des Industrial Unionism
und war in seiner Gründungsphase an zahlreichen „wilden Sitzstreiks“
beteiligt. Doch im Gegensatz zur revolutionären IWW war die Politik des
CIO von Beginn an auf Klassenkooperation ausgerichtet und von dem
Widerspruch gekennzeichnet, einerseits unter Druck der streikwilligen
ArbeiterInnen und militanten BasisgewerkschafterInnen Streiks zu
initiieren, andererseits „wurden die ArbeiterInnen vieler möglicher
Errungenschaften beraubt, weil die Regierung der Demokraten unter
Rückendeckung der CIO-Führung intervenierte.“ Die meisten Streiks
endeten in der Anerkennung der Gewerkschaften, die meistens im Paket
mit einer Streikverbotsklausel kam. So betonte ein
CIO-Gewerkschaftsführer, dass zum Erreichen der gewerkschaftlichen
Anerkennung Streiks nützlich sind; sobald diese aber erreicht wäre,
sollte die Konzentration des CIO auf Verhandlungen liegen, um so das
Beste für den/die ArbeiterIn herauszuholen. „Ein Kontrakt mit der
C.I.O.“ ist dann, laut CIO-Gründer John L. Lewis, „ein adäquater Schutz
vor Sitzstreiks oder jeder anderen Streikaktion.“44
Die Niederlagen der Streikbewegung und die Integration der
Gewerkschaftsbürokratie in Klassenkooperation müssen als Wendepunkt in
der US-amerikanischen Gewerkschaftsgeschichte gesehen werden. Obwohl
„wilde“ Streiks noch einige Jahre lang üblich waren, war das Projekt
einer die Kämpfe verbindenden Gewerkschaft langfristig gescheitert.45
Niedergang
Die Gründe für den Niedergang der IWW sind vielfältig: Einerseits hatte
die brutale Repression im Zuge der Kampagne gegen die „rote Gefahr“ und
zusätzlich Spaltungen im Laufe ihrer Geschichte die Organisation
geschwächt und die IWW viele ihrer wichtigsten AktivistInnen verloren.
Doch es war nicht die Repression alleine. Der Versuch beides zu sein,
Gewerkschaft für alle ArbeiterInnen und revolutionäre Organisation,
scheiterte am Widerspruch, als Gewerkschaft rein ökonomische Verbesserung für alle ArbeiterInnen innerhalb des Systems zu erkämpfen und gleichzeitig als revolutionäre Organisation einen politischen Kampf um weitreichende gesellschaftliche Veränderungen zu führen.46
Dies bedingte, dass es die IWW selten schaffte, längerfristige
Strukturen aufzubauen und ihre Mitgliederzahl zu erhöhen, obwohl sie so
eine wichtige Rolle im Vorwärtstreiben vieler Streikaktionen und
Bewegungen gespielt hatte.
Die Integration der etablierten Gewerkschaften, die Bindung von
ArbeiterInnen an Unternehmen durch bessere Gesundheitsversorgung,
niedrigere Lebensmittelpreise, Erholungszentren, Urlaub etc., und die
im Zuge des Wirtschaftsaufschwungs möglichen Zugeständnisse der
Regierungsparteien, schafften es letztlich, die ArbeiterInnenklasse in
das kapitalistische Projekt der Effizienzsteigerung und
„wissenschaftlichen Betriebsführung“ einzubinden. Die Konzentration der
IWW auf ökonomische Kämpfe und ihre Ablehnung politischer Kämpfe, der
Auseinandersetzung mit politischen Ideologien oder Wahlen, hatten sie
übersehen lassen, wie Teile der ArbeiterInnenklasse zumindest bis zur
Krise der dreißiger Jahre ins Boot geholt wurden.
Inspiration
Trotzdem, die Politik und Geschichte der IWW ist heute noch Inspiration für militante AktivistInnen. Ihr Blick auf die Heterogenität der ArbeiterInnenklasse, auf jene Teile der Klasse, die nicht Kernbelegschaft und Facharbeiter waren, hatte es ihr ermöglicht, jene zu organisieren, die als unorganisierbar galten. Zentral war dabei immer, die besondere Situation und die Bedingungen, unter denen die ArbeiterInnen streikten oder Widerstand leisten mussten, zu analysieren und angemessene Kampf- und Organisationsformen daraus abzuleiten: über die free speech fights und das soapboxing, bis zu neuen Streikmethoden, wie den sit ins und dem quickie. Durch die genaue Analyse der Klassenzusammensetzung, der inneren Spaltungen und unterschiedlichen Interessen, schafften sie es, Strategien zu entwickeln, die diese Spaltungen aufhoben. Heutige Entwicklungen, wie Prekarisierung und unsichere Beschäftigungsverhältnisse, machen es notwendig, an diesem Punkt an die Politik und Widerstandskultur der IWW anzuschließen.
Anmerkungen
1 Zitiert in Davis, Mike: Happy Birthday Bill, in Socialist Review 2006
2 Cannon, James P.: The IWW, 1955. Online: http://www.marxists.org/archive/cannon/works/1955/iww.htm
3 Cannon, James P.: a.a.O.
4 , William: One Big Union. 1911 online: http://www.marxists.org/history/usa/unions/iww/1911/trautmannobu.htm
5 Ebd.
6 Brecher, Jeremy: Streiks und Arbeiterrevolten. Amerikanische Arbeiterbewegung 1877-1970, Frankkfurt/M. 1975: 65.
7
Mit Jim Crow bezeichnet man in der Umgangssprache die Gesetze, auf
denen zwischen 1876 und 1964 das System der „Rassentrennung“ in den USA
beruhte.
8 Brecher, Jeremy: a.a.O.
9
Die Teilgewerkschaften sollten in ihrer jeweiligen “Zunft” ein
Arbeitsmonopol aufrechterhalten und damit das Angebot an
Facharbeitskräften niedrig halten. Dadurch konnten sie eine
Verhandlungsmacht gegenüber den Unternehmern aufbauen. Mit Entstehung
der Massenproduktion ging diese aber verloren (siehe später)
10 Brecher, Jeremy: a.a.O: 83-93
11 Debs hatte die Streikenden aufgefordert die Gesetze nicht zu brechen, um der Repression zu entgehen.
12 Brecher, Jeremy: a.a.O.
13 Ebd.: 92.
15 Debs, Eugene: Revolutionary Unionism. Speech at Chicago, November 25, 1905 online: http://www.marxists.org/archive/debs/works/1905/revunion.htm
16
Vgl. Bock, Gisela: Die andere Arbeiterbewegung in den USA von 1909 –
1922. Die I.W.W. The Industrial Workers of the World, München, 1976.
17 Taylor zitiert in Bock, Gisela, a.a.O.
18 Bock, Gisela: a.a.O.: 18.
19 Bock, Gisela: a.a.O.:18-23.
20
Es muss gesagt werden, dass sich die Politik der AFL nicht automatisch
in eine konservative Richtung entwickelte. Innerhalb der AFL kämpften
Teile für radikalere Politik, wie die Forderung nach „collective
ownership“ der Produktionsmittel. Die Heterogenität innerhalb der AFL
zeigte sich auch in einigen kämpferischen Teilgewerkschafte, wie zum
Beispiel den United Mine Workers of Armerica, die sich gegen die
rassistische Politik der AFL stellte und viele Tendenzen in Richtung
„industrial unionism“ aufwiesen. Schlussendlich setzte sich aber der
konservative Flügel rund um Samuel Gompers durch.
21
Zwischen 1840 und 1924 kamen 35 Millionen ImmigrantInnen nach Amerika
und veränderten damit auch das Gesicht der ArbeiterInnenklasse in
Amerika
22 Bock, Gisela: a.a.O.
23 Ebd.
24 Ebd.
25
„Die Mehrzahl der Arbeiter, deren Anlernzeit bei Pressed Steel im
Durchschnitt unter einem Monat lag, musste nicht nur ihre Arbeitskraft
gegen einen elenden Lohn von 8-12 Dollar pro Woche verkaufen, sondern
der Arbeitsplatz selbst und das Recht ihn zu behalten, mussten ständig
durch Zahlungen an Vermittlungsagenten und Aufseher erkauft werden –
eine Praxis, die in vielen Wirtschaftsbereichen der U.S.A üblich war.“
Bock, Gisela, a.a.O.: 8.
26 Bock, Gisela: 7- 17.
27 Ebd.: 13.
28 Ebd.: 7.
29 Ebd.: 13-14.
30 Ebd.
31 Ebd.
32 Ebd.
33 Bock, Gisela: a.a.O.
34 Ebd.
35 Ebd.
36 Ebd.: 42
37 Sharon: Subterranean Fire. A History of Working-Class Radicalism in the United States. Chicago, 2006.
38 Ebd.
39 Bock, Gisela: a.a.O.: 53
40 Cannon, James P.: a.a.O
41 Bock, Gisela: a.a.O., 52
42 Brecher, Jeremy: a.a.O.: 95
43 Zit. in Trudell, Megan: The Hidden History of US radicalism. In International Socialist Journal 111, 2006
44 Brecher, Jeremy: 183
45
Es kann in diesem Artikel nicht genauer auf die Situation in den
1930ern eingegangen werden, aber siehe Sharon, Smith: a.a.O. und über
die Streikbewegungen bis in die 70er Jahre Brenner, Jeremy, a.a.O.
46 Smith, Sharon: a.a.O.