Die Politik des Hungers

Themenschwerpunktseditorial

Produktionssteigerung, Grüne Revolution, Saatgutverbesserung, Brot für die Welt, Ökolandbau in den Tropen, Ernährungssouveränität: Die Konzepte gegen den Hunger sind so widersprüchlich wie die Interessen ihrer jeweiligen AkteurInnen. Dabei haben sie alle dazu beigetragen, dass fast doppelt so viel Nahrung produziert wird, wie für die Abschaffung des Hungers nötig wäre. Trotzdem ist der Hunger in der Welt ein Leiden, das rund ein Sechstel der Weltbevölkerung betrifft. Wo liegt das Problem?

Über dreißig Jahre ist es her, dass die Gründer des Institute for Food and Development Policy in San Francisco, Frances Moore Lappé und Joseph Collins, in ihrem Bestseller mit den »Legenden über den Hunger« aufräumten. Eine davon war, knapper werdende Nahrungsmittel könnten eine wachsende Weltbevölkerung nicht mehr hinreichend ernähren. Lappé und Collins bewiesen, dass der Hunger nicht das Resultat defizitärer Landwirtschaft in den Ländern des Südens war.

 

Mittlerweile sind die Getreidespeicher so leer wie seit Jahrzehnten nicht mehr, und die Nahrungsmittelhilfe fiel auf das größte Tief seit Beginn der 1960er Jahre. Auch in Ländern wie Paraguay oder Indien, die Getreide exportieren, kann sich die Bevölkerung nicht ausreichend ernähren. Laut Statistik von Oktober 2008 steht 33 von 82 Ländern eine ernste Ernährungskrise bevor. 923 Millionen Menschen leiden Hunger, 969 Millionen leben von weniger als einem Dollar am Tag. Die Halbierung von Armut und Hunger bis zum Jahre 2015, wie es der Welternährungsgipfel in Rom vor zwölf Jahren beschloss, scheint spätestens seit der Finanzkrise utopisch.

Dennoch: Lappé und Collins hatten sich keineswegs geirrt. Ernährungskrisen sind nur in Ausnahmefällen das Ergebnis eines Angebotsdefizits. Selbst klassische Armutsregionen wie die häufig überschwemmten Ebenen Bangladeschs oder die von Dürre erfasste Sahelzone produzierten sogar während der Hungerkatastrophen der 1970er und 1980er Jahre ausreichend Nahrungsmittel. Der Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen lieferte die wissenschaftliche Erklärung für den Hunger: Fehlende Zugangsrechte zu vorhandenen Produktions- oder Nahrungsmitteln oder mangelnde Möglichkeiten ihres Erwerbs führten in Indien zu Hungertoten, während Rekordernten eingefahren wurden. Die Einsicht, dass weder die moderne Agrarwirtschaft noch der globale Handel ihrer Produkte Hungersnöte verhindern, wurde dann mit Peter Kriegs Film »Septemberweizen« (1980) zu einer tragenden Säule internationalistischer Solidarität.

Danach war es um die globale Landwirtschaft lange still. Wie Vorboten der jüngsten Hungerrevolten haben erst in den letzen zwei Jahren die Dokumentarfilme »Unser täglich Brot« und »We feed the world« die Agrarlandschaft erneut unter die Lupe genommen. Im Sommer 2008 war es dann soweit: In über dreißig Ländern wurde Widerstand gegen die Mächtigen insbesondere dort laut, wo die Lebensmittelpreise rasant in die Höhe kletterten. In den meisten Fällen griffen die Eliten zu Gewalt, als die Armen zum Protest mobilisierten. Einige Länder, die auf Nahrungsimporte angewiesen sind, ergriffen Maßnahmen, die zuvor im Zuge der Liberalisierung der Agrarmärkte systematisch geächtet worden waren: Marokko subventionierte Mehl, als die Preiserhöhung der Bäcker in politische Proteste mündete. Im Senegal versprach Präsident Wade, Nahrungsmittel und Güter des täglichen Grundbedarfs zu subventionieren. Indien drosselte vorübergehend die Ausfuhr von Reis, Argentinien und Russland erhoben Liefergrenzen und Exportzölle, was den weltweiten Preisanstieg aber eher noch beschleunigte. Während die Dogmen des Freihandels sonst gerne und häufig mit staatlicher Gewalt durchgesetzt werden, sorgten Brotrevolten in Bangladesch dafür, dass Sicherheitskräfte kostenlos Reis verteilten.

Derlei nationale Krisenbewältigungsstrategien sind angesichts der Macht des global verregelten Agrarsystem kaum von Dauer. Die von der internationalen Hilfsgemeinschaft freigesetzten Gelder sind einerseits lächerliche Summen, andererseits stärken sie die Struktur der Agrarregime, die außer Produktionssteigerungen keine Rezepte kennen wollen (siehe S. 24 in diesem Themenschwerpunkt). Während die Biotechnologie auf ein Revival ihres Rezeptes hofft, die Krise mit den Segnungen der Labors in den Griff zu bekommen (S. 26), schafft die Agrarpolitik den Rahmen dafür, besonders die zahlungskräftigen KonsumentInnen versorgen zu können. Supermarktketten wie Carrefour und Tesco hoffen, ihren Aktionsradius erheblich vergrößern zu können (S. 31), während öffentliche Systeme zur Sicherung der Ernährung nicht zur Debatte stehen.

 

Die Gründe für den Hunger sind komplex. Als Krisenursachen kommen nicht allein Agrartreibstoffe oder Spekulation mit Agrarrohstoffen in Frage (S.32 und 35). Das Agrarabkommen der Welthandelsorganisation globalisierte das Dogma der Marktöffnung, während Weltbank und IWF durch den erzwungenen Abbau von Zöllen und Einfuhrschranken Ernährungsunsicherheit insbesondere bei denjenigen verursachten, die selber auf dem Feld ackern oder in der Verarbeitung rackern (S. 28). Grundsteine für die Politik des Hungers legte das Triumvirat aus agroindustrieller Produktionsweise, politisch-rechtlicher Absicherung des privatisierten Zugriffs auf Wissen, Land und Saatgut sowie der gewalttätigen Durchsetzung agroindustrieller Interessen. Derweil leiden alternative Konzepte und kritische Ansätze zunehmend an der Schwäche, sich an Details der komplexen Ausbeutungsstrukturen zu verzetteln (S. 21).

 

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