Alles Amerika, oder was?

Im hiesigen Medienbild sind die USA schuld an der Weltfinanzkrise, die inzwischen die Wirtschaft niederdrückt, hunderttausende Arbeitsplätze zerstört und die grauenhafte Not vieler Menschen im Süden der Erde noch weiter verschlimmert. Die meisten europäischen Politiker haben sich den neuen Antiamerikanismus zu eigen gemacht. Finanzminister Peer Steinbrück meinte in seiner Regierungserklärung am 25. September: »Die USA sind der Ursprung der Krise, und sie sind der Schwerpunkt der Krise.« Ursachen in der deutschen und europäischen Politik verneinte er in einem Interview mit der Welt ein halbes Jahr zuvor (am 13. Februar) ausdrücklich. Als ihn die Zeitung fragte »Welchen Anteil hat die deutsche Politik daran, daß die US-Finanzkrise gerade die öffentlich-rechtlichen Landesbanken in Deutschland so stark betrifft?«, antwortete er: »Was reden Sie denn da für einen Unsinn? Was soll die Bundesregierung dafür können, wenn einige Manager ihre Risiken nicht richtig einschätzen können? Den Schuh zieh ich mir für die Bundesregierung nicht an.«

Es gibt auch für mich keinen Zweifel, daß die Politik, die zum jetzigen Desaster geführt hat, in den USA begonnen wurde. Aber abgesehen davon, daß ihre Ideologen reihenweise den schwedischen Ökonomie-Nobelpreis erhielten und in Europa ihre Nachbeter an den Wirtschaftslehrstühlen der Universitäten und in den Medien fanden, sind doch einige mehr als wesentliche Ergänzungen an jenem Bild erforderlich, daß Merkel, Steinbrück und ihre europäischen Kollegen von sich zeichnen.

Erstens ist die tiefste und auch in der Linken wenig diskutierte Ursache des jetzigen Zusammenbruchs nicht die Profitgier einiger Bank- und Fondsmanager, ihr »wahnsinniges Streben nach immer höherer Rendite« (noch einmal Steinbrück), die tiefste Ursache ist auch nicht die Deregulierung der Finanzmärkte, sondern die Politik der massiven Umverteilung von unten nach oben, auch und gerade in Europa. Sie hat in den vergangenen drei Jahrzehnten gigantische finanzielle Mittel in wenigen Händen angehäuft und gleichzeitig die Massenkaufkraft beschädigt. Der Effekt war ein doppelter: Oben war unendlich mehr Geld (liquides Kapital) vorhanden, als sinnvoll in der realen Wirtschaft investiert werden konnte (die täglichen internationalen Finanzströme beispielsweise übertrafen die internationalen Handelsströme um etwa das Hundertfache), unten war immer weniger Geld für den Konsum da, damit eine zusätzliche Grenze für binnenwirtschaftliches Wachstum entstanden. In den USA wurde die Lohnquote von 1975 bis 2006 von 70,4 auf 66,3 Prozent gedrückt, in der EU-15 von 76,3 auf 66,2 und in Japan von 80,1 auf 64,5 Prozent. Während sich 1980 das weltweite Bruttosozialprodukt und die Finanzströme noch weitgehend deckten (10,1 zu 12 Billionen US-Dollar), übertrafen die Finanzmittel 2006 das Bruttosozialprodukt um fast das Vierfache (48,3 zu 167 Billionen). Die US-Regierung und gleichermaßen, zum Teil sogar noch stärker, die westeuropäischen Regierungen schufen diesem Kapitalüberfluß daher neue Märkte: im Finanzbereich selbst, nicht zuletzt durch einen Casinokapitalismus, durch Privatisierung öffentlicher Unternehmen und Dienstleistungen, durch aggressiven Freihandelskapitalismus.

Allein durch die fortschreitende Privatisierung der Altersvorsorge flossen den Pensionsfonds, einer der größten Quellen für die Spekulationen durch Banken und andere Akteure, bis 2006 22,6 Billionen (!) US-Dollar zu (1992: 4,8 Billionen). Erst durch diese Politik, durch diese politisch organisierten Verwertungsbedingungen hat sich auch die Gier der Manager, Aktien- und Fondsbesitzer entladen können. Karl Marx zitierte im Kapital den britischen Ökonomen P. J. Dunning: »Das Kapital hat einen horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens.«

Nach zweihundert Jahren Kapitalismus hätte man doch wenigstens das lernen können. Wer nachhaltig erreichen will, daß Finanzdienstleistungen wieder an reale Ökonomie, Produktion und Arbeitsplätze gekoppelt werden, muß daher vor allem für gerechte Verteilung und Umverteilung von oben nach unten und die Wiedergewinnung des öffentlichen Eigentums sorgen. Davon ist bisher weder in den USA noch in Europa die Rede, obwohl man kein Marxist sein muß, um zu wissen, daß die Quelle allen gesellschaftlichen Reichtums nicht das Geld, sondern die menschliche Arbeit und die Natur sind.

Zweitens gab es eine sehr aktive deutsche und europäische Politik zur Liberalisierung der Finanzmärkte. Sie begann mit der »Einheitlichen Europäischen Akte« 1987, mit der der europäische Binnenmarkt zunehmend von politischer Regulierung und gemeinsamen Regeln befreit wurde. Die Verträge von Maastricht führten 1992 einen radikalen Monetarismus ein, der anders als das deutsche »Stabilitätsgesetz« von 1967 nicht mehr die gleichzeitige Orientierung an Geldwertstabilität, Wachstum und Vollbeschäftigung, sondern nur noch monetaristische Ziele definiert.

Die Europäische Zentralbank, eine der mächtigsten Institutionen der EU, wurde jeder politischen und makroökonomischen Kontrolle entzogen. Anders als die US-Zentralbank wurde sogar jede Form von öffentlicher Transparenz verweigert, werden nicht einmal die Protokolle ihrer Sitzungen veröffentlicht. 1999 beschloß die EU-Kommission den Plan für Finanzdienstleistungen mit vierzig Liberalisierungsmaßnahmen, den die europäischen Regierungen (darunter »Rot-Grün« in Deutschland) mit der »Lissabonstrategie« ab 2000 umsetzten. Deren erklärtes und vielzitiertes Ziel, die EU mit einem durchschnittlichen Wachstum von drei Prozent bis 2010 zur dynamischsten Wirtschaftsregion der Welt zu machen, sind von Anfang an von seriösen Analytikern als illusionär eingeschätzt worden und längst grandios gescheitert. Die eigentlichen Ziele, Sozialabbau und Deregulierung sowie die Schaffung eines europäischen Finanzmarktes, sind allerdings mit Nachdruck realisiert worden und haben maßgeblich zur jetzigen Krise beigetragen. Charakteristisch dafür ist die Europäische Betriebsrentenrichtlinie von 2001, mit der nicht nur die gesetzliche und soziale Altersversorgung ausgehöhlt wurde, sondern die Beiträge von Betriebsrentensystemen dem Finanzmarkt unterworfen wurden und bis zu siebzig Prozent in Aktien, darunter ausdrücklich auf Risikokapitalmärkten, und mindestens dreißig Prozent in Fremdwährungen angelegt werden sollten. Eine so existentielle Frage wie die Altersvorsorge wurde damit mit den Stimmen der Konservativen, Liberalen und Sozialdemokraten im Europäischen Parlament zum Spielball der Finanzspekulationen gemacht. Für die Sicherheit und Höhe der Betriebsrenten wurde keine Garantie beschlossen, sondern lediglich eine »Option« eingeräumt. In dieser alles andere als vollständigen Aufzählung sei schließlich auch darauf hingewiesen, daß »Rot-Grün« in Deutschland 2004 auch die Hedgefonds zuließ.

Drittens: Zwar waren es tatsächlich im besonderen die USA, die durch ihre Finanz- und imperiale Kriegspolitik eine Verschuldungswirtschaft mit gigantischer innerer und äußerer Verschuldung aufbauten (die USA benötigen eine tägliche Kapitalzufuhr von zwei bis vier Milliarden USDollar zur Deckung ihrer Außendefizite; die innere Verschuldung liegt gegenwärtig bei 14 Billionen US-Dollar), die EU verhielt sich dazu und zur Deregulierung und Intransparenz der internationalen Finanzmärkte jedoch passiv, ihre gelegentliche Kritik in der G8-Gruppe und anderen Foren blieb schwach und wirkungslos, an der Deregulierung der Finanzmärkte nahm sie, wie geschildert, sogar aktiv teil. Die Möglichkeiten der europäischen Gemeinschaftswährung und der Entwicklung eines europäischen Finanzmarktes, Alternativen der Kontrolle und Transparenz gegen die USA zu praktizieren und durchzusetzen, wurden nicht genutzt. Offensichtlich wollte man den Wettbewerb mit den USA nach deren Spielregeln austragen. Auf diesem Wege wurden die europäischen Volkswirtschaften, Rentenein- und Steuerzahler zudem zum Financier der USamerikanischen Defizitwirtschaft und -politik gemacht.

Die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise hat viele andere internationale, europäische und deutsche Seiten. Sie ist vor allem Ausdruck für die Erschöpfung und das Scheitern der neoliberalen (marktradikalen) Politik, die seit Mitte der siebziger Jahre ideologisch und politisch durchgesetzt wurde, und ihrer Konsequenz eines finanzgeleiteten freien Kapitalismus. In dieser Hinsicht kann die Krise auch eine Chance sein, sowie im Chinesischen die Schriftzeichen für Krise und Chance die gleichen sind. Sie kann dies sein, wenn der Irrweg von Deregulierung, Privatisierung und Umverteilung nach oben gestoppt wird. Die Maßnahmepakete der Regierungen in den USA und in europäischen Staaten reichen dafür bei weitem nicht aus. Ihre Wirksamkeit ist ohnehin offen und bisher äußerst gering, sie kommen zu spät. Die Konzepte sind widersprüchlich und waren auf dem kürzlichen Finanzgipfel nur durch aussagearme Formelkompromisse und allgemeine Absichtserklärungen kaschiert worden. Während Billionen Dollar und Euro in beispielloser Schnelligkeit für die Finanzsysteme lockergemacht wurden, nimmt man sich offensichtlich sehr viel Zeit für die dringenden politischen Veränderungen, wohl in der Hoffnung, sie nicht vornehmen zu müssen und überläßt die Realwirtschaft, die Arbeitsplätze, die soziale Existenz von Millionen Menschen und die Binnenkaufkraft weiter der Krise.

Trotz der enormen weltwirtschaftlichen und finanzpolitischen Rolle der USA muß mit Lösungen nicht auf sie gewartet werden. Vor allem die

europäischen Spielräume sind groß – und in Deutschland gäbe es genügend zusätzlichen nationalen Handlungsbedarf und -möglichkeiten, auf die ich hier nicht eingehe. Erforderlich sind in der EU insbesondere die Beendigung der Lissabonstrategie, des Lohnkosten- und Unternehmenssteuerwettbewerbs der Mitgliedsländer, des Sozialabbaus, der Deregulierung und Privatisierung und der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums nach oben. Unzureichend ist die beabsichtigte stärkere Kontrolle des Casino-Kapitalismus. Das Casino gehört nach Monte Carlo oder in andere Städte, die darauf Wert legen, nicht in die Finanzmärkte und an die Börsen. Leerverkäufe, Kreditverbriefungen und Hedgefonds können und müssen europaweit verboten, Steuerbefreiungen und -vergünstigungen für Finanzspekulationen gestrichen werden.

Die EU-Staaten können auch ohne die USA eine Devisen- und Börsenumsatzsteuer einführen. Beträchtliche politische Möglichkeiten der EU gibt es, zur Auszehrung der Steueroasen (davon einige in Europa) und zur Stabilisierung der Devisenkurse beizutragen, um diese Spekulationen mit ihren gefährlichen volkswirtschaftlichen Folgen zu begrenzen. Die Privatisierung der Altersvorsorge muß gestoppt, die Europäische Betriebsrentenrichtlinie grundlegend geändert werden. Die großen Privatbanken, die offensichtlich in den kreditpolitischen Generalstreik getreten sind und ihre wirtschaftspolitische Rolle nicht mehr erfüllen, und die Versicherungskonzerne gehören unter staatliche Kontrolle oder in direkte staatliche Hand. Nicht zuletzt wären starke europäische und nationale Konjunkturprogramme erforderlich, mit denen die Massenkaufkraft und der Binnenmarkt gestärkt, die Unsicherheit der Lohnabhängigen, Arbeitslosen und Rentnerinnen und Rentner verringert würden, regionale Wirtschaftskreisläufe, ortsfeste klein- und mittelständische Unternehmen und der dringende ökologische Umbau, zum Beispiel der Autoindustrie, der Energiewirtschaft und des Bauwesens, gefördert würden, statt die jetzige Krise zur Rücknahme der umweltpolitischen Ziele zu nutzen, wie es die EU-Kommission und die Regierungen tun.

Also, fangen wir hier an, bei den Sparkassen, die den Handwerkern und kleinen Kreditnehmern das Leben schwermachen, bei den Privatbanken und Versicherungskonzernen, in Deutschland und in der EU, diese Politik zu ändern, mit wirklichen sozialen, demokratischen, ökologischen, wirtschaftlichen Alternativen. Steinbrück hatte am 25. September auch gesagt: »Niemand sollte sich täuschen: Die Welt wird nicht wieder so werden wie vor der Krise.« Doch niemand sollte sich täuschen: Wenn man die Steinbrücks, Merkels, Bushs und Ackermänner läßt, wird die Welt wieder so wie vor der Krise. Das wäre die Welt vor der nächsten sozial zerstörerischen Krise.