Kolumbien: Traumjob Soldat?

Jugendliche zwischen Militärs und Guerilla

In Kolumbien rekrutieren bewaffnete Gruppen immer häufiger Kinder und Jugendliche. Humanitäre Organisationen kämpfen seit Jahren für die Rechte der Jüngsten, organisieren Schutzprogramme und versuchen Weichen für einen Ausweg aus der Gewalt zu stellen.

Knappe 90 Kilometer Luftlinie und satte 2.000 Höhenmeter liegen zwischen Kolumbiens Hauptstadt Bogotá und dem 400.000 Einwohner großen Villavicencio. Angeblich soll die Anfahrt auf der preisgekrönten „Autopista al Llano“ gerade mal anderthalb Stunden dauern. Doch dank regelmäßiger Erdrutsche, Bauarbeiten und Konvois von Öltankwagen braucht man oft dreimal so lange. Zumindest an der Straßensperre der Armee geht es zügig voran. Außerdem ist dieser Stopp ja nur zum eigenen Besten, „für die Sicherheit Kolumbiens“, wie ein Banner den wartenden Autofahrern mitteilt. Über dem Schriftzug wachen drei zu allem entschlossene Soldatenkonterfeis. Die Tarnfarbe ist dicker aufgetragen als in einem schlechten Vietnamfilm.
Die Uniformierten an der Straßensperre dagegen wirken wenig bedrohlich, selbst dann, wenn sie versuchen böse zu gucken. Sie sehen einfach zu jung aus für diesen Job, sind sicher nicht viel älter als 18 Jahre. Ernst mustern sie die beiden weißen Geländewagen des Amts für Humanitäre Hilfe der Europäischen Kommission (ECHO) und der Diakonie Katastrophenhilfe. Ein halbes Dutzend JournalistInnen schaut ausdruckslos von den Rücksitzen aus zurück. Dann werden wir durchgewunken, hinab in die Feuchtsavanne der Region Meta, die noch bis vor kurzem zu den wichtigsten Kokaanbaugebieten Kolumbiens gehörte.
Knapp die Hälfte der Menschen hier lebt in der Provinzmetropole Villavicencio, dem künftigen „Zweitwohnsitz der Oberschicht aus Bogotá“. So zumindest wünscht sich das die Lokalzeitung Llano 7 Días die deshalb seitenweise für einen Ausbau der Autobahn wirbt. Der übrige Inhalt des Blatts kreist um sportliche Spitzenleistungen, Familiendramen und halbherzige Korruptionsvorwürfe. Irgendwo dazwischen die Überschrift „Guerilleros in eigenem Minenfeld verwundet“. Bei einer der Verwundeten soll es sich um ein 15-jähriges Mädchen handeln, die jetzt im Militärhospital von Villavicencio liegt. Dann werden weitere Verwundete (3) und vom Militär getötete Guerilleros der FARC (3) aufgeführt – alles verfasst im Duktus der lokalen Fußballergebnisse.
„Immerhin ist ihnen das junge Mädchen überhaupt eine Nachricht wert“, sagt José Luis Campos, Gründer der Nichtregierungsorganisation (NRO) Benposta in Kolumbien, Partnerorganisation von ECHO und der Diakonie. „Noch bis vor kurzem wurde so gut wie gar nicht über die 11.000 Kinder und Jugendlichen informiert, die permanent in den bewaffneten Konflikt Kolumbiens verwickelt sind. Dabei ist die Situation so schlimm wie seit drei Jahren nicht mehr.“ Torjubel unterbricht Campos, er blickt hinüber zum Fußballfeld, wo ein paar Jungen bereits den nächsten Angriff laufen. Die meisten von ihnen kommen aus den Dörfern Metas und sind hier in Villavicencio, um zumindest für ein Jahr vom Krieg zu verschnaufen. In der seit 1982 bestehenden Kinderkommune von Benposta leben heute 63 Kinder und Jugendliche, die vom Dienst bei paramilitärischen Gruppen oder der Guerilla geflüchtet sind oder ihr Zuhause verließen, bevor sie von den bewaffneten Gruppen gewaltsam rekrutiert werden konnten. 400 weitere Kinder und Jugendliche besuchen den regulären Schul- und Förderunterricht in der von Benposta unterhaltenen Schule.
Wir schauen uns auf dem grünen Areal ein bisschen um. Die Schulräume der Kinderkommune sind am späten Nachmittag bereits leer. Reges Treiben herrscht dafür im Speisesaal, wo die jungen BewohnerInnen gerade kochen und Tische decken. „Für uns ist wichtig, dass die Kinder und Jugendlichen das Leben in der Kommune größtenteils selbst organisieren“, spricht uns eine Frau an, die sich als Carmen, Leiterin der Einrichtung vorstellt. „Wir regeln hauptsächlich Schulbetrieb, Workshops, psychologische Betreuung und kümmern uns um die Verwaltung. Die Kinderkommune ist alles, bloß kein Heim für arme Kinder.“
Drei solcher pädagogischen Einrichtungen unterhält Benposta inzwischen in den verschiedenen Regionen Kolumbiens. Befreiungstheologische Ideen treffen sich mit denen einer kollektiven Erziehung, nach Vorbild des russischen Pädagogen Anton Makarenko. Tischgebet und Selbstverwaltung sind an der Tagesordnung. „Sich selbst einzubringen und in zivilen Strukturen auszudrücken fällt vielen anfangs sehr schwer, die unter kriegsähnlichen Bedingungen aufgewachsen sind oder eine zeitlang die Befehlstrukturen der bewaffneten Gruppen gelebt haben“, erzählt Campos beim Abendessen. „Alle die hier sind, haben viel zu früh eine viel zu große Portion Wirklichkeit abbekommen. Frag doch einfach mal jemanden.“
In der nächsten Stunde werden wir, erst zaghaft, dann offen heraus mit Wirklichkeit überschüttet. „Mein Dorf wurde zwei Jahre lang von der FARC kontrolliert und wenn man fünfzehn wurde, entschied die Guerilla ob man mitkommen musste oder nicht“, erzählt ein Junge. „Bei uns wurden schon Kinder ab neun Jahren mitgenommen“, fällt ihm ein älteres Mädchen ins Wort und fügt hinzu: „Meine Eltern leben noch im Dorf und manchmal, wenn sie hier in der Stadt sind, erzählen sie mir, wer von meinen rekrutierten Freunden noch lebt und wer nicht. Viele halten nicht mal die ersten Monate durch.“
In den ländlichen Gemeinden Metas ist es vor allem die von den Militärschlägen der Regierung stark geschwächte FARC-Guerilla, welche Kinder als InformantInnen, Drogenkuriere und MinensucherInnen rekrutiert. Mädchen werden zu Köchinnen und Putzfrauen gemacht, oft zu Sex mit den Kämpfern gezwungen. Doch auch die in den Siedlungen operierenden Paramilitärs sollen solche Praktiken anwenden, erzählt ein anderes Mädchen. Und nicht immer stecke reiner Zwang hinter dem Beitritt zu einer bewaffneten Gruppe. „Eine Freundin, die heute auch in der Kinderkommune ist, erhoffte sich mehr Geld und Freiheit von ihrem Beitritt zu den Paras. Ein junger Kämpfer riet ihr, lieber wieder auszusteigen, denn ein besseres Leben würde sie so nicht finden“, beginnt sie ihren Bericht. „Als sie einem Kommandanten der Paras davon erzählte, erschossen sie anschließend den jungen Kämpfer vor ihren Augen und ließen sie sein Grab schaufeln.“
Am nächsten Tag fahren wir weiter aufs Land. Bis zum Amtsantritt von Álvaro Uribe im Jahr 2002 war die gesamte Gegend eine neutrale Zone für Verhandlungen zwischen Regierung und Guerilla. Die FARC nutzte die Zone jedoch auch für den massiven Anbau von Kokakulturen. Dann eroberten zunächst paramilitärische Gruppen und Militärs die Dörfer und Felder zurück und drängten die Guerilla in die nahen Bergketten ab. Anfang dieses Jahres setzten dann Sprühflugzeuge und Brandrodungen den Kokapflanzungen ein Ende. Seitdem leben viele ehemalige Kokabauern hier vom Anbau von Yams und Bananen für den Eigenbedarf, manchmal auch vom Fischfang und vereinzelten Hilfslieferungen der Regierung.
Am Fenster ziehen jetzt endlose Weideflächen und frische Pflanzungen von kniehohen Ölpalmenstecklingen vorbei. Auch François Duboc, Regionalleiter von ECHO im Bereich Information in Lateinamerika und der Karibik macht Photos. Er ist gespannt darauf zu sehen, wie die Kooperationsprojekte in den Dörfern laufen. „Die Kinderkommunen von Benposta sind nur ein Teil des umfassenden Schutzprogramms, an dem wir und die Diakonie Katastrophenhilfe uns beteiligen“, erzählt Duboc. „Gemeinsam werden wir aber auch in ländlichen Gegenden aktiv, wo der kolumbianische Staat bisher wenig tut.“
Keine leichte Mission, denn die anhaltende Präsenz bewaffneter Gruppen in der Region hat die sozialen Strukturen in den Dörfern aufgelöst, Angst und Misstrauen geschürt. Wöchentliche Nachbarschaftstreffen in den Dörfern anzuregen, offen über Probleme zu reden ist deshalb ein wichtiger erster Schritt. Nur so ist es auch möglich Einblick in konkrete Gefahrensituationen der Kinder und Jugendlichen zu bekommen und zu reagieren. „In jedem Fall sind unsere Projekte aber auf einen kurzen Zeitraum ausgelegt. Früher oder später muss diese Arbeit von kolumbianischen Institutionen übernommen werden“, sagt François. Gerade deshalb ist er auf das anstehende Treffen mit dem Stadtrat der Gemeinde Vista Hermosa gespannt. Die Straßensperre am Ortseingang ist bereits in Sicht.
Noch vor der Ankunft in Vista Hermosa werden wir gewarnt unsere Fragen vorsichtig zu formulieren, weil nicht so ganz klar sei, ob der Bürgermeister ein ehemaliger Kommandant der Paramilitärs ist oder nicht. Im Gespräch erweist sich Hector Montoya dann jedenfalls als sehr umgänglich. Ja, er kenne das Problem der Zwangsrekrutierungen, es sei jedoch sehr schwer etwas zu tun. „Die Leute haben über Jahre nichts anderes getan als Koka anzubauen. Alternativen zu schaffen wird Zeit brauchen. Und die Jugendlichen, die hier die Schule besuchen oder eine Ausbildung machen, müssen später auch wirklich eine Jobaussicht haben, sonst bringen Bildungsprogramme wenig“, sagt Montoya. An gutem Willen scheint es nicht zu fehlen, wohl aber an finanzieller Unterstützung aus Bogotá.
Je länger das Treffen mit dem Stadtrat anhält, umso schwieriger stellt sich die Situation in der Gemeinde dar. Der personero Alejenadro Valdéz, Zuständiger der lokalen Ombudsstelle, erzählt davon, dass die paramilitärischen Gruppen, die offiziell als aufgelöst gelten, unter neuem Namen weiterhin aktiv seien. „Die Rekrutierungen von Kindern und die Geschäfte gehen weiter. Heute versuchen diese Gruppen ein Monopol im Bereich der Ölpalmenkulturen aufzubauen“, meint Valdéz und fügt hinzu: „Die staatlichen Subventionen für nachwachsende Kraftstoffe bringen deshalb wenig, wir brauchen Produktionsinitiativen für die Kleinbauern und -bäuerinnen sowie jugendliche UnternehmerInnen.“
Die örtliche Psychologin Angela Paz wiederum versucht den Blick auf das ländliche Familienleben zu richten, das sie als wenig idyllisch beschreibt. „Insbesondere als Mädchen hier aufzuwachsen ist nicht leicht. Missbrauch innerhalb der Familien kommt häufig vor und ab dem siebten Lebensjahr werden Mädchen auf eine untergeordnete Rolle als Frau vorbereitet“, sagt Paz und resümiert bitter: „Ein Para oder Guerillero erscheint so affektiv betrachtet oft auch als ein Retter.“
Nicht weniger als all diese komplexen Probleme zu lösen, erwarten auch viele der Bewohner Vista Hermosas auf einem anschließenden Nachbarschaftstreffen von den anwesenden Hilfsorganisationen. Schulen, eine Molkerei, ein Kühlhaus, Zugang zu lokalen Märkten, Ausbildungsplätze und ein Ende der Kämpfe: all das zu schaffen traut man ihnen zu. Marta Elena Zapata von der Diakonie Katastrophenhilfe sitzt in der letzten Reihe und macht Notizen. „Die Erwartungshaltung ist riesig, aber unser Arbeitsbereich ist eben nicht Entwicklungshilfe sondern ein schnelles Eingreifen in Notsituationen“, sagt Zapata. „Das zeichnet unsere Arbeit mit gefährdeten Jugendlichen ja auch aus. Und daran halten wir fest. Gerade deshalb weil in diesem Land immer mehr Familien auf der Flucht sind, um ihre Kinder zu schützen.“
Darüber hinaus stehen die Initiatoren des Schutzprogramms für inzwischen über 3.000 Kinder und Jugendliche in ständigem Kontakt mit entwicklungspolitischen Organisationen. Und man sucht emsig nach neuen Partnern, denn das Budget von ECHO beispielsweise wird im kommenden Jahr um ein Sechstel gekürzt werden. Positiv sei deshalb, dass man, was die Entwicklung von Schutzprogrammen angeht, als Experten wahrgenommen wird. „Ab Ende dieses Jahres beispielsweise werden wir ein zweijähriges Kooperationsprojekt mit der Kanadischen Agentur für Internationale Entwicklung beginnen“, freut sich Zapata. „Auf diese Weise werden wir mit 80 weiteren Kindern im Meta arbeiten können.“
Beim Abschied fragen wir die Kinder und Jugendlichen nach ihren späteren Berufswünschen. „Sänger wäre nicht schlecht“, kreischt ein Junge. „Fußballstar“, ein anderer. „Nein, Architektin oder Designerin, das ist ein guter Job“, meint ein Mädchen. Und dann immer wieder Karrierewünsche wie Forensikerin, Kriminologe, Polizistin und Soldat. „Ich gehe zur Schule, weil ich mit 18 in die Polizeiakademie eintreten will“, sagt eine 13-jährige entschlossen. „Dann kann ich meine Familie und unser Land vor dem Krieg beschützen.“
Auf dem Rückweg nach Bogotá konfrontieren wir José Luis Campos mit den gesammelten Berufswünschen. „Ja, das ist ein echtes Problem“, meint Campos. „Leider wird im Fernsehen der Soldat als eine Art Prototyp von Bürger verkauft, mit hehren Werten und Verpflichtungen fürs Vaterland.“ Und außerdem herrsche in Kolumbien Wehrpflicht, Ersatzdienst ausgeschlossen. Einen dauerhaften Ausstieg der kolumbianischen Jugend aus dem bewaffneten Konflikt könne ohnehin nur eines garantieren: ein Ende der Kämpfe und die Rückkehr der Konfliktparteien an den Verhandlungstisch. Dann fährt Campos fort, von Hinweisen zu sprechen, dass auch das Militär Jugendliche als Informanten und Botenjungen beschäftige, dass auch Soldaten in der Grundausbildung bereits in Kampfeinsätze geschickt werden. Und dann stoppt unser Wagen. Straßensperre. Zwei jugendliche Augenpaare mustern uns unterm gelben Scheinwerferlicht. Ich versuche mich in einem Lächeln, die Gesichter unter den Militärmützen lächeln zurück, geben das Zeichen zur Weiterfahrt.

// Nils Brock

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