Die Neutralisierung der Ghettos in den USA


Dass Städte der Ort von Klassenkämpfen sind, ist seit den Anfängen der kapitalistischen Industrialisierung klar. Keineswegs zufällig erhob sich die Kommune von Paris in einer der damals höchstentwickelten Volkswirtschaften Europas, wurden Londoner Elendsviertel beseitig, um den politischen Druck der Arbeiterklasse zu schwächen, erfolgte die Oktoberrevolution von 1917 in St. Petersburg, oder wurde Berlin zum Ort der gescheiterten Revolution von 1918 und floh die Reichsregierung aus diesem gefürchteten Unruheherd nach Weimar, kam es in den USA zu Aufruhr und Gewalt in Städten, wie in New York während des amerikanischen Bürgerkrieges oder wie in Detroit bei den Fabrikbesetzungen der Dreißiger Jahre. Wer in diesen Klassenkämpfen wem gegenüberstand, war damals offensichtlich: Hier die Arbeiterklasse, dort die Inhaber der wirtschaftlichen und politischen Macht.

Heute ist die Lage komplizierter. Heute sind die Städte nach Klassenschranken unterteilt. Zu nennen wären:

Die Luxusstadt der Oberschicht. Sie ist meist nicht räumlich definiert, sondern besteht eher aus kleineren (vertikalen oder horizontalen) Zusammenballungen von Einheiten in der Nähe zum innerstädtischen Geschäftszentrum oder in den Außenbezirken, hat private Verwaltungs- und Wachdienste und ist von der übrigen Stadt abgeschottet.  

Eine Zwischenstadt1, die der Mittelschicht, liegt (meist je nach Haushalts- und Familiengröße) entweder nahe dem innenstädtischen Geschäftszentrum, aber jenseits der besseren Viertel (die innerstädtische Mittelschichtstadt), oder aber in den näher gelegenen Vorstädten (die Mittelschichtstadt der Vorstädte), häufig auch in Gestalt abgeschlossener Enklaven.

Eine gentrifizierte Stadt, bewohnt von der Schicht der Freiberufler, Geschäftsführer, Funktionsträger (Besserverdiener), gelegen (in Abhängigkeit von Haushalts- und Familiengröße) in Altbauvierteln in nächster Nähe zum innerstädtischen Geschäftszentrum.

Eine Mieterstadt, entweder in einer Wohnblockstadt, bewohnt von Arbeitern oder Angestellten, gelegen in einem Gürtel heruntergekommener Altbauten um das innerstädtische Geschäftsviertel und/oder in einem Gürtel von einfachen Einfamilienhäuser unmittelbar jenseits der inneren Zwischenstadt der Mittelschicht:

Eine Ghettostadt, bewohnt von den Ausgeschlossenen, den Opfern des post-fordistischen Umbaus der Gesellschaft.

Die Verteilung der Klassen im Raum spiegelt als solche grundlegend deren Rolle in den ökonomischen Produktionsprozessen wider, jedoch überlagert durch Konsumgewohnheiten, sozioökonomischen Status, und in den USA durch Rasse (in Europa vielleicht analog durch Migrantenstatus bzw. ethnische Herkunft). Die Überlagerung von Rasse und Klasse ist typisch für die schärfsten Konflikte in heutigen US-amerikanischen Städten, wobei der Charakter beider Kategorien erheblichen Veränderungen unterliegt. Bei der Konfliktanalyse in heutigen Städten muss „Stadt“ im Kontext der Gesamtgesellschaft und ihrer physischen, sozialen und ökonomischen Organisation oder sogar als Metapher für diese aufgefasst werden, wie dies bei Autoren wie Henri Lefebvre meist der Fall ist.

Eine der Quellen des Widerstands gegen kapitalistische Herrschaft in den USA wird historisch im Kampf der afroamerikanischen Bevölkerung gesehen, wobei im komplexen Geschehen Überlieferungen vom Kampf gegen die Sklaverei, dem Klassenkampf gegen Ausbeutung am Arbeitsplatz und die Bürgerrechtsbewegung gegen fortdauernde Unterdrückung und Ausbeutung miteinander verknüpft sind. Ein Höhepunkt in diesem Kampf war wahrscheinlich eine der letzten Reden Martin Luther Kings, in welcher er den Kampf um politische Gleichberechtigung mit der Notwendigkeit einer gründlichen Kritik der herrschenden politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse der Industriegesellschaft verband:

„Wenn wir über die Frage ’Wo wollen wir hin?’ reden, müssen wir uns ehrlich dem Faktum stellen, dass unsere Bewegung sich daran machen muss, die gesamte amerikanische Gesellschaft umzubauen. Es gibt bei uns vierzig Millionen Arme, und wir müssen uns fragen, Warum gibt es in Amerika vierzig Millionen Arme? Und wenn Ihr Euch das fragt, stellt Ihr die Frage nach dem Wirtschaftssystem, nach einer breiteren Verteilung des Wohlstands. Und wenn Ihr Euch dies fragt, stellt Ihr bereits die kapitalistische Wirtschaft in Zweifel. Ich sage nur, dass wir immer mehr Fragen nach der ganzen Gesellschaft stellen müssen. Wir sind angehalten, dem hungrigen Bettler auf dem Marktplatz des Lebens zu helfen. Aber irgendwann müssen wir einsehen, dass eine Gesellschaft, die Bettler erzeugt, umgebaut werden muss. Das heißt, es müssen Fragen gestellt werden. Und meine Freunde, Ihr seht, wenn Ihr Euch darauf einlasst, werdet Ihr Euch fragen: ‚Wem gehört das Öl?’ Und ihr werdet Euch fragen: ‚Wem gehört das Eisenerz?’ Ihr werdet Euch fragen: ‚Warum müssen Menschen in einer Welt, die zu zwei Dritteln aus Wasser besteht, Wassergebühren bezahlen?’ Genau das ist es, was gefragt werden muss.“2

Die Militanz der afroamerikanischen Gemeinschaft, die sich in den Ghettoaufständen Mitte der sechziger Jahre zeigte, traf die herrschende Klasse der USA ins Mark, und ihre Gegenmaßnahmen nahmen verschiedene ausgefeilte Formen an. Einerseits erweiterte sie bescheidene politische und soziale Bürgerrechte und stellte dürftige Sozialprogramme auf, mit dem „Krieg gegen die Armut“ und Ähnlichem. Andererseits aber verschärfte sie die Gewalt, um jedes Anzeichen von Unruhe zu ersticken, angefangen mit Präsident Nixons Einsatz der Miliz zur Beendigung der Ghettoaufstände, was inzwischen zum maßlos gesteigerten Wegsperren junger Schwarzer bis hin zu dem Zustand geführt hat, dass mehr als 2 Millionen von ihnen unter der Verfügungsgewalt der Strafjustiz stehen. Sowohl die sanfte wie die harte Seite dieser Reaktion zeigen sich in Maßnahmen wie dem Empowerment Zone Programm in den USA, ähnlich dem Programm „Soziale Stadt“ in Deutschland und den Programmen der Europäischen Union zur „Stärkung der sozialen Integration“. In diesen Maßnahmen verbinden sich fortgesetzte Ghettoisierung von Minderheiten mit der Vorbeugung vor Unruhen durch gern mit so genannter „Bekämpfung des Terrors“ begründete Polizeigewalt, die Gewährung bescheidener Sozialleistungen mit der Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme zu Hungerlöhnen und die punktuelle Aufwertung der Ghettos durch lokal begrenzte Gentrifizierung mit besser verdienenden Aufsteigern.

Die Erkenntnis dieser Struktur wächst in den betroffenen sozialen Gruppen, sowohl in sozialen Bewegungen von Minderheiten, zu denen die Mobilisierung von Migranten kommt, als auch in Organisationsbemühungen von Teilen der Arbeiterbewegung um die zu Niedrigstlöhnen Beschäftigten, in denen die Frauen eine führende Rolle spielen. Auf ideologischer Ebene gibt es Bewegung in Richtung auf Bündnisse um den Slogan „Recht auf unsere Stadt“, das zurückgeht auf Henri Lefebvre und Bestandteile der Bewegung der Achtundsechziger. Dabei engagieren sich Gruppen für die Gleichstellung von Schwulen und Lesben, AIDS-Aktivisten, Obdachloseninitiativen, Beschäftigte in pflegenden und häuslichen Dienstleistungen, für die Gleichberechtigung von Migranten und Bündnisse zur Schaffung kommunaler Arbeitsplätze.

Das sind erst kleine Anzeichen eines aufkeimenden Widerstandes, doch sie sind ernst zu nehmen, und erwachsen aus einer Stimmung zunehmender Unzufriedenheit mit dem derzeitigen Stand der Dinge. Radikal formuliert lautet die Aufgabe jetzt, diesen Widerstand zu vertiefen und beharrlich seine Wurzeln zum Klassenwiderspruch zurück zu verfolgen, der untrennbar von der kapitalistischen Gesellschaft ist.  

Erforderlich dafür ist, das Verhältnis zwischen Rasse und Klasse zu verstehen. Das hat sich in den letzten 50 Jahren in den USA verändert. Klassenschranken verlaufen inzwischen auch quer zu Rassenschranken. Die Begriffe Oberschicht, Mittelschicht und Unterschicht werden im gewöhnlichen und auch im akademischen Sprachgebrauch oft benutzt und als Differenzierungsmerkmal wird Einkommen oder gelegentlich Wohlstand verwendet. Doch ist das nicht länger angemessen für das, was wirklich vor sich geht. Der Marxismus ist ein wichtiges Werkzeug zum Verständnis solcher Vorgänge, denn in Anwendung des dialektischen Materialismus sehen wir Armut nicht als Zustand, sondern als Verhältnis, genauer als das zwischen Ausbeuter und Ausgebeutetem. Es zählt letztendlich die Stellung in der Ökonomie, in den Produktionsverhältnissen, sowohl die geregelte als auch die ungeregelte.

Rassismus wird nicht mehr benötigt, um Arbeiter niederzuhalten, denn die Arbeit, die Afroamerikaner früher leisteten, bei der Rassismus herhalten musste, um gewerkschaftliche Organisierung zu verhindern und Gegenwehr zu spalten, hat sich verlagert. Jetzt ist Arbeit für das Gemeinwohl wie Straßenkehren am schlechtesten angesehen und die Sozialgesetzgebung drückt die Menschen dort hinein, ohne Rassismus bemühen zu müssen; im Gegenteil, Rassenzugehörigkeit dient zur Beschwichtigung von Protest. So können schwarze Aufsteiger alteingesessene schwarze Arme müheloser verdrängen als weiße Aufsteiger und zur Begründug der Vorgänge werden sogar schwarze Wissenschafter bemüht. 

Was mit dem größten Schwarzenghetto in den USA passiert ist, dem vielleicht international am besten bekannten Harlem, könnte einen Vorgeschmack auf künftige Entwicklungen geben.

Die Furcht, dass sich Protest und Aufruhr entwickeln, dass reale oder potentielle Gewalt aufkommt, also die Furcht, deretwegen ein großer Teil der Bevölkerung an den Rand gedrängt wurde, besonders in den fortgeschrittenen Formen der Marginalisierung, ist womöglich, wenn auch noch nicht ganz klar, auf unerwartete Weise entschärft worden, und zwar folgendermaßen: 

Einerseits geschah dies mit staatlicher Gewalt, wobei die Politiker ohne Zögern die Nationalgarde zur Niederschlagung der Aufstände der sechziger und siebziger Jahre mobilisierten, wobei die Polizei mit kaum verhüllter Brutalität den Aufruhr um den Fall Rodney King zusammenschlug und wobei inzwischen die Strafjustiz herhalten muss, um Millionen potentiell aufbegehrender Jugendlicher wegzusperren. Ein Teil der Marginalisierten wird jedoch auf andere Weise wirkungsvoll ausgeschlossen, wenn auch teilweise zum Schaden der Herrschenden selbst. Sie werden schlicht physisch ausgesperrt, durch Umfassungsmauern und Stahlgittertore. Dass Armut bestraft wird, was Louis Wacquant treffend als Pönalisierung bezeichnet, geschieht so umfassend, dass es sich auf die Folgen fortgeschrittener Marginalisierung auswirkt. Die arbeitslose Jugend von Harlem ist verhältniswidrig eingesperrt in eine aufgegebene Stadt der Gefängnisse und Gerichte und einer Polizei, die nicht einmal dort stationiert ist.

Zwischen der eben geschilderten Repression und der Auswirkung der im Folgenden noch zu beschreibenden Folgen sozialen Aufstiegs liegt ein sich wandelnder, weithin durch Strategien wie die „Sozialhilfereform“ von 1996 geschaffener und vergrößerter Bevölkerungsanteil der Arbeiterklasse, bei dem sich auch eine Reproletarisierung oder zumindest „Dis-“ Entproletarisierung abspielt. Vielleicht werden manche Randgruppen tatsächlich noch unterdrückt und diskriminiert, doch ihr Ausgeschlossensein hat sich in Ausgebeutetsein verwandelt. Vielleicht hat das System das Mittel gefunden, sich das Arbeitslosenheer direkt zu Löhnen dienstbar zu machen, die nicht zum Leben reichen, wobei häufig ein Lohnarbeitsverhältnis am Arbeitsmarkt vorbei mit öffentlichen Programmen wie „Arbeit statt Sozialhilfe“ wiederhergestellt wird. Vielleicht sind die Kolonnen der Beschäftigten zu Armutslöhnen nicht nur durch Verherrlichung des Marktes, Bekämpfung der Gewerkschaften, Outsourcing und Abschaffung gesetzlicher Schutzbestimmungen von oben, sondern auch von unten durch Einbeziehung vieler bisher Ausgeschlossener in eine entsozialisierte Masse von Arbeitskräften angeschwollen. Vielleicht ist der zur Beschreibung der Arbeit und Ausbeutung der Bewohner von Elendsquartieren in Brasilien benutzte „Mythos der Marginalität“ zumindest im ökonomischen Sinne ein Mythos, ebenso wie für dessen Entsprechung in den USA Vielleicht ist die Methode Wal-Mart3 eine Form „fortgeschrittener Einverleibung“, im Gleichtakt mit „fortgeschrittener Marginalisierung“. Die Mieterstadt ersteht derzeit wieder aus dem, was die bereits aufgegebene Ghettostadt war. 

Und an der Spitze der Klassenhierarchie, oder fast dort, verdrängt die gentrifizierte Stadt der Aufsteiger alteingesessene Einwohner von Harlem. Die Vorzüge von Harlem, direkter Zugang zum innerstädtischen Geschäftszentrum Manhattan bei gleichzeitigem Preisverfall der Immobilien durch jahrzehntelange Vernachlässigung und Rassendiskriminierung machen Harlem äußerst attraktiv für afroamerikanische Rechtsanwälte, Börsenmakler und Geschäftsleute aller Art. Harlems Geschichte, die noch immer weit überwiegend schwarze Bevölkerung im Zentrum und die rassistische Prägung der Weißen machen den Stadtteil zugleich unattraktiv für weiße Aufsteiger, obwohl deren traditionelle Vorhut4, Künstler, Studenten, jugendliche Aussteiger, ebenfalls allmählich zuzieht.

Die Reibungen unter diesen drei Elementen in Harlem treten lebhaft in einer Anzahl aktueller Auseinandersetzungen zutage. Bei einer davon geht es um die Änderung des Bebauungsplans für die 125ste Straße: Die Aufsteiger sind rückhaltlos dafür: Wirtschaftbelebung, bessere Einkaufsmöglichkeiten, ein paar schicke Bürogebäude mit Arbeitsmöglichkeiten, ein wenig touristisches Aufhübschen mit Anschluss an Manhattan, bessere Einbeziehung Harlems nach New York - doch das alles nur für ein begrenztes Segment der Bürger von Harlem. Gegen den geänderten Bebauungsplan sind die Bezieher niedriger Einkommen, die erleben müssen, wie Preise steigen und Mieten erhöht werden, Läden und Dienstleistungen für Besucher entstehen und das lokale Angebot verdrängen, Gewinne aus dem Stadtteil abgezogen werden. Die für Harlems Transformation nötige stärkere Polizeipräsenz heizt die ständige und häufig heftige Konfrontation zwischen jugendlichen Einwohnern und der Polizei an, wobei sich die Reaktion auf Polizeibrutalität in größeren Krawallen in der Stadt entlädt. Harlem bleibt ein Rassenghetto, jedoch eines, das zunehmend nach Klassen gespalten ist. Das Verhältnis zwischen Rassen- und Klassenkämpfen ist komplex, doch die Kämpfe flauen nicht ab.

Das Muster räumlicher Konzentrationen von Migranten in Europa ist vielleicht ganz anders und dem Ghettomuster in den USA vor fünfzig Jahren ähnlicher, wobei hier „Ausländer“ die Rolle haben, die „Schwarze“ damals in den USA hatten. Dieser Punkt wäre es wert, erörtert zu werden.

Der so genannte „Krieg gegen den Terrorismus“ spielt hier ebenfalls eine Rolle, indem einige rassistische Stereotypen zugunsten religiöser und ethnischer verdrängt und die tiefen Verunsicherungen und Ängste ausgebeutet werden, die ein eindimensionales System wachruft und unter einem immer dünneren Firnis öffentlicher Daseinsvorsorge steigert.

Daher sind Konflikte nach Klassen- und Rassenschranken weiterhin typisch für Städte in den USA, doch verschieben und verändern sich die Rollen von Klasse und Rasse. 

Übersetzung: Günter Seib





1 Der amerikanische Begriff „suburban“ wird hier in seiner stereotypischen, aber historisch ungenauen Begriffsbildung als prototypisch für die „Mittelschicht“ gebraucht. Vgl. Minneapolis.doc, suburb.doc. Zur deutschen Diskussion vgl. Thomas Sieverts, Zwischenstadt.

2 „Where Do We Go From Here?“ Annual Report Delivered at the 11th Convention of the Southern Christian Leadership Conference, 16. August 1967 in Atlanta, Georgia

3 Vgl. Louis Wacquant, Urban Outcasts, S. 253.

4 Vgl. Damaris Rose zu Montreal und Neil Smith zur Lower East Side von New York.