Die Politisierung der Trauer

Mehr als fünf Jahre nach den Aufstandsereignissen in jenem argentinischen Dezember 2001 stellen wir fest, wie sehr sich unsere Interpretationen und seelischen Verfasstheiten durch jenes Ereignis veränderten. Für viele von uns begleitete ein Gefühl der Trauer eine
bestimmte Phase dieses verschlungenen Werdens. Dieser Text versucht einen Moment
der Aufarbeitung „jener Trauer“ zu bergen, und zwar in doppelter Absicht:
Einerseits wollen wir zeigen, dass die Berufung auf einen offenen Prozess mit
der Überwindung der Vorstellungen von „Sieg und Niederlage“ einhergeht, die dem
vorhergegangenen Politisierungszyklus angehören, der durch die Übernahme der
Staatsmacht als letztem emanzipatorischen Horizont gekennzeichnet ist.
Andererseits möchten wir von einer Vorgehensweise berichten, die es uns in einem
bestimmten Moment ermöglichte, ein intime Empfindung von Personen und Gruppen
„öffentlich zu machen“ und dergestalt unseren Einsatz im derzeitigen
historischen Prozess wiederzufinden. Die Streuung dieses Textes ist ein
wichtiges Moment in der Herstellung einer solchen Öffentlichkeit.

Die Trauer folgte auf das Ereignis: Im
Anschluss an das politische Freudenfest – aus Sprachen, Bildern und Bewegungen –
stellte sich eine reaktive und zerstreuende Dynamik ein. Damit ging jenes Moment
einher, das später als Verringerung der durch das Ereignis ins Spiel gebrachten
Fähigkeiten zur Öffnung und Innovation erlebt wurde. Auf die Erfahrung der
sozialen Erfindung (die immer auch die Erfindung von Zeit impliziert) folgte ein
Moment der Normalisierung. Das „Ende des Fests“ wurde ausgerufen und die gelebte
„Ausnahme“ mit einem Ablaufdatum versehen. Nach Spinoza besteht Trauer in einem
Getrenntsein von unseren Mächten, von dem, was wir vermögen. Unter uns nahm die
politische Trauer oftmals die Form von Unvermögen und Melancholie an, und zwar
angesichts der wachsenden Distanz zwischen jenem sozialen Experiment und der
politischen Vorstellungskraft, die zu seiner Entfaltung fähig war.

Als Losung beinhaltet die Politisierung der
Trauer einen Versuch von Widerständigkeit: Die erneute Verständigung darüber,
was in jenem kollektiven Experiment in einer neuen Dynamik des Öffentlichen
aufblitzte, denn, weit davon entfernt, entwichen oder unterbrochen zu sein,
liegt der damals offene Prozess den Mustern, die im gegenwärtigen Argentinien
anzutreffen sind, als Dilemma zugrunde. In diesem Kontext und unter dieser
Losung traf sich daher - immer montags, im Verlauf von mehreren Wochen Ende des
Jahres 2005 - ein vielfältiger Zusammenschluss von Kollektiven, die in den
letzten Jahren in Argentinien die gelebte Erfahrung politischer Transversalität
miteinander geteilt hatten: Grupo de Arte Callejero (GAC, Gruppe für
Straßenkunst), die mit Bildungsfragen beschäftigte Gemeinschaft Creciendo Juntos
(Gemeinsam Wachsen), das Movimiento de Trabajadores Desocupados (MTD, Bewegung
der Arbeitslosen) der Stadtteile Solano und Guernica, das
Kommunikationskollektiv lavaca sowie das Colectivo Situaciones.

Die Neugier unserer
compañeros des
auf Moskau und Petersburg verteilten Zeitungskollektivs „Chto Delat“ (Was
tun?) führte dazu, dass wir den Aufzeichnungen dieser
vor mehr als einem Jahr stattgefundenen Treffen, erneut begegneten. Wir
extrahierten zunächst eine Reihe von Mechanismen zur Verallgemeinerung der
Trauer und setzten diese in einen Zusammenhang mit den sie organisierenden
Kräften (I. Die politische Trauer); daraufhin untersuchten wir die Eigenschaften
einer Neuzusammensetzung, die der Trauer widerstehen kann (II. Die Politisierung
der Trauer). Die Niederschrift dieses Textes erzählt das damals Diskutierte
unweigerlich aus unserer eigenen Perspektive, was - ebenso unvermeidbar -
impliziert, dass die Erzählung in der Hitze einer nach wie vor andauernden
Dynamik erfolgt.

I. Die politische Trauer

1. Die Logik der SpezialistInnen gewinnt die
Oberhand: „Wenn du Politik machst, mach Politik; wenn du dich der Kunst
widmest, sollst du keine Politik machen, denn in der Kunst gehen wir mit
Bildsprache und Ästhetik um und können darüber befinden, was Kunst ist und was
nicht.“ Dieselbe Art von Grenze wird seitens der Sozialwissenschaften sowie der
Philosophie gezogen: Es muss unterschieden werden, wer zur Begriffsschöpfung und
zum legitimen Gebrauch sozialer Forschung befähigt ist und wer sich der
„politischen Propaganda“ hingibt. Die SpezialistIn arbeitet mit
Kategorisierungen, die zur Folge haben, das Produzierte „abzusondern“ und zu
entkontextualisieren, um es der geschlossenen Sprache eines scheinbar autonomen
und besonderen „Feldes“ unterzuordnen. Auf diese Weise gelingt den Kategorien
der SpezialistInnen, nach einer Zeit der „Unordnung“, die Wiederherstellung und
Wiedererweckung von Klassifikationen, die sich - und darauf setzen sie - niemals
vollständig auflösen. Die SpezialistIn fordert eine Distanzierung von der
gelebten Erfahrung, denn gerade in dieser Abwendung kommt ihre eigene „kritische
Fähigkeit“ zum Vorschein. Die von ihr realisierte Analyse sieht von den
politischen Handlungen ab, die den Anstoß zu einem Werk, einer Parole oder einer
Bewegung gaben. Der Effekt läuft auf eine Entpolitisierung hinaus.

Weiters gibt es die PolitikexpertInnen, die die
Unordnung in einem entgegengesetzten Sinn organisieren: „Hast du keine bestimmte
Machtstrategie, dann ist die Politik wohl nicht ‚dein Ding‘, sondern eher
‚sozialer Aktivismus‘, Fürsorge, Journalismus, Gegenkultur usw.“ Auf diese Weise
wird die in jeder Schöpfung politischer Figuren vorausgesetzte Hybridisierung
absichtlich mit einem Kostümfest verwechselt, nach dem dann die alten
klassifizierenden Mächte neuerlich Uniformen verteilen.

Dennoch setzt die Hybridisierung eine gewisse
Unumkehrbarkeit voraus: Ein soziales Tun, das eine untergeordnete Eingliederung
ins Spiel der neuen Regierungsformen ebenso wenig akzeptiert wie seine Reduktion
auf ein bloßes Studienobjekt; eine Art von mikropolitischer Untersuchung, die
sich der Umwandlung in eine Doktrin widersetzt; eine Ausdrucksform der Straßen
und Gassen, die einen neuen modischen Kanon aufblitzen lässt; oder auch
Kommunikationsformen, die sich nicht in Richtung einer erneuerten Knechtschaft
in den großen Medien regulieren lassen.

2. Wiederholung ohne Differenz. Die
Schlüssel der (ausdrucksstarken und organisatorischen) Produktivität, die sich
in einem Moment kreativer Erregung (wie jener, den wir im Jahr 2001 kennen
lernten) erahnen ließ, macht „Zusammenschlüsse“ zwischen Personen und Gruppen
ebenso möglich wie Sprachvermischungen, in denen die UrheberInnenschaft dessen,
was zutage tritt, weit weniger wichtig ist als die Frage, an welchem Punkt sich
die Energien verfestigen. Selbst wenn diese Effekte tausend und einmal wieder
erlebt werden können, halten sie doch ihrer Wiederholung außerhalb der
sinnstiftenden Situationen nicht stand, ohne sich in eine Formel zu verwandeln.
Die Trauer entspringt der Erkenntnis dieser Entwurzelung, als Politik
perfektioniert sie sich aber erst dann, wenn die bloße Wiederholung sich in
einer zur Anwendung bereiten Formel verdichtet und behauptet. Was in diesem
Automatismus der Formel erstarrt, ist unsere eigene Fähigkeit zur Verzeitlichung
des Prozesses. Wenn die Schöpfung der Zeit auf dem Eröffnen von Möglichkeiten
beruht, dann verhindert die politische Trauer im Allgemeinen die Verarbeitung
des Erlebten als gegenwärtige und zukünftige Möglichkeit. Das lebendige
Vergangene erstarrt, da seine Verarbeitung als politische Erinnerung
unterbrochen wird. Die Melancholie lähmt uns, weil sie jede virtuose Verbindung
zwischen dem erlebten Vergangenen und der Gegenwart als Möglichkeit blockiert.
Was in einem bestimmten Moment noch Erfindung war, wird mithin als Modell und
Vorschrift entstellt.

3. Die Dauer als Gültigkeitskriterium.
Die Jahre 2001 bis 2003 wurden von der Frage begleitet, wie sich die Gruppen und
Bewegungen miteinander in Beziehung setzten, welche Art von gemeinsamen Aufgaben
durch einen Zusammenschluss möglich wurden sowie welche Aufgabenstellungen
derartig flexible Bündnisse unterbanden. In jeder Gruppe bzw. in jedem
(künstlerischen, politischen oder sozialen) Kollektiv ging die Fragestellung aus
den Praxen hervor, die sich jenseits dieser Gruppen bzw. Kollektive, in einem
gemeinsamen Außen entfalteten. Ein zentraler Gedanke zur Ermächtigung dieser
Begegnungen bildete die Idee der „dritten Gruppe“: Gruppierungen aufgrund von
Aufgabenstellungen, die nicht nur die Differenzen zwischen den Gruppen
verringerten, sondern diese zugleich in regelrechten Bild-, Wort- und
Organisationslaboratorien miteinander verknüpften. In ihrem Streben nach
Vereinfachung kommt die Trauer zu dem Schluss, dass die zeitliche Begrenztheit
des Experimentierens ausreicht, um es in seiner Bedeutung herabzuwürdigen und
jenes erahnte „gemeinsame Außen“ ebenso verschwinden zu lassen wie die
Verfahren, die dazu bestimmt waren, diesem Außen eine Form zu geben. Dies löst
zugleich den tieferen Sinn des Prozesses auf.

4.  Geringschätzung der Sozialisierung der
Produktion: „Ein Werk ist nicht das Erbe der ProduzentIn.“ „Jede/r kann
Bilder oder Konzepte, Affekte oder Kampfformen, Kommunikationsmittel oder
Ausdrucksweisen hervorbringen.“ Diese Aussagen machten Sinn, solange durch eine
Art unpersönliche kollektive Produktion Verfahren in Umlauf gebracht und
Erfahrungen eines Schaffens sozialisiert werden konnten. Eine Logik der
„Ansteckung“ durchdringt in bestimmten Momenten die Kampfformen ebenso wie die
Ebene der Bilder und Untersuchungen, da sie die Kontrolle, welche die
Unternehmen und ihre Marken im Reich der Zeichen entfalten, in Frage stellt. Die
normalisierende Reaktion stellte sich im Anschluss daran ein, um diese virale
Ausbreitung über eine Rekodifizierung der zirkulierenden Bedeutungen zu bändigen
und dergestalt erneut die Befehlsgewalt über sie zu erlangen.

Der Normalisierung auf dieser Ebene standen
verschiedene Prozeduren zur Seite:

Die Sinnentleerung kollektiver Losungen mittels
ihrer Literalisierung (gewaltsame Verkürzung ihrer Virtualitäten), wie
beispielsweise im Falle des „Que se vayan todos“ (Alle sollen abhauen) vom
Dezember 2001;

die Unterstellung eines verborgenen Sinns,
Ergebnis der „Manipulation“, als gewohnheitsmäßige Lesart der Phänomene
kollektiver Kreativität („Hinter einer jeden autonomen und horizontalen Tendenz
verbirgt sich nur eine List der Macht ...“ oder auch: Jede „scheinbar spontane“
Mobilisierung findet ihre „geheime Wahrheit“ in den Machtformen, die sie im
Schatten „orchestrieren“);

die gängigsten Vorurteile eines „reaktiven
Ökonomismus“, die in tausenden Phrasen dieser Art ihren Ausdruck finden: „Die
Piqueteros wollen nur Geld, ohne dafür zu arbeiten“; „die Mittelschicht geht nur
dann auf die Straße, wenn ihr in den Geldbeutel gegriffen wird“ sowie all die
anderen Formen, das subjektive Spiel auf die Finanzkrise zu reduzieren;

das Unterschätzen der kreativen Hybridisierung,
die durchwegs als Mangel an Feldspezifika verstanden wird und nicht als
erfindungsreiche Verfasstheit der Figuren und Verfahren;

die mechanische Identifikation der „Mikro-“
Ebene mit dem „Kleinen“, ein apriorisches Urteil, demzufolge die konkreten
Formen der Revolte mit einem vorgängigen, lokalen, außerordentlichen Moment
gleichgesetzt werden, das abgesondert von einer (größeren) „Makro-“ Wirklichkeit
existiert und entsprechend den Richtlinien verwaltet werden muss, die der
kapitalistischen Hegemonie und ihren Systemen der Überkodifizierung entspringen.

5. Die Vereinnahmungsapparate. Das
klassische Dilemma hinsichtlich der Institutionen - sich mit ihnen einlassen
oder sich entziehen? - wurde in gewisser Weise zum Zeitpunkt der größten
sozialen Tatkraft überwunden. Die Mittel, die die Kollektive und Bewegungen den
Institutionen abnötigten, gaben weder den „Sinn“ ihrer Verwendung noch ihres
Funktionierens vor. Sie wurden sogar im Gegenteil zum Getriebe einer anderen
Maschine, die der Art und Weise, sich mit jenen Institutionen in Beziehung zu
setzen, einen anderen Sinn verlieh, ohne jedoch einfältig zu sein, und
dergestalt praktisch unter Beweis stellte, wie jene Dynamik von einem
Kräfteverhältnis abhing. Das Auftauchen all dieser außerinstitutionellen
Verfahren, das mit dem Moment der größten Präsenz und Wortgewalt der Bewegungen
in der öffentlichen Sphäre zusammenfiel, zielte auf eine radikale
Demokratisierung der Beziehung zwischen den kreativen Dynamiken und den
Institutionen, dem Sinngehalt und den Mitteln. Die Institutionen, die eine
Verständigung über die Bedeutung jener Neuheiten anstrebten, gingen zumeist
nicht über eine teilweise Erneuerung hinaus: Nicht, weil sie die von Bewegungen
und Kollektiven ins Spiel gebrachten Prozeduren ignorierten, sondern weil sie
die umstrukturierenden Folgen der institutionellen Dynamik vergaßen, die
derartige Instanzen verursachten; nicht, weil sie danach trachteten, den
Absichten der Bewegungen einen entgegengesetzten Sinn zu verleihen, sondern weil
sie die den Bewegungen eigene Ebene unterschätzten als den Ort, an dem die mit
der Sinnproduktion einhergehenden Probleme aufgeworfen werden. 

6. Die Autonomie als Korsett. Bis zu
einem gewissen Moment war die Autonomie beinahe gleichbedeutend mit der
Transversalität zwischen den Kollektiven, Bewegungen und Personen. Diese
positive Resonanz bot ein Entwicklungsterrain für einen instituierenden Dialog
abseits des Kapitalkonsenses und der alternativen „Herren“ der Parteiapparate.
Aber wenn die Autonomie zur Doktrin wird, verliert sie ihre Empfindsamkeit
gegenüber der Transversalität, aus der sie sich speist und der sie ihre
wirkliche Macht schuldet. Wenn sich die Autonomie in eine Moral und/oder eine
eingeschränkte politische Linie verwandelt, erstickt sie in einer engen
Partikularität und verliert ihre Fähigkeit zur Öffnung und Innovation. Den
autonomen Gruppen und Bewegungen erscheint die Trauer als drohende Kooptierung
oder als Ende der Suchbewegung. Sie empfinden sie außerdem als Schuldvorwurf
wegen dem, was sie nicht taten, wozu sie „nicht fähig waren“, oder als genau
jenes paradoxe Werden der Normalisierung, das als eine Konsequenz ein bestimmtes
Maß an Ressentiment mit sich bringt.

7. Plötzlich im Rampenlicht. Die
Performanz der Massen, Voraussetzung für jenes Aufblitzen der Gegenmacht in
Argentinien Ende 2001, wurde begleitet von einer schonungslosen Veränderung der
Landkarte relevanter AkteurInnen aber auch der Parameter für das Verständnis und
den Umgang mit diesem neuen sozialen Protagonismus. Die (vielleicht
unvermeidbare) Spektakularisierung produziert das Spektakel: Sie instituiert
Stars und etabliert anerkannte Stimmen. Das Konsumverhältnis mit den „heißen“
Konfliktzonen führte zu einen erbarmungslosen Stimmungswandel, im Zuge dessen
die Kollektive und Bewegungen zuerst beobachtet, beklatscht, begleitet und
ausgezeichnet wurden, um sodann unerwartet ignoriert, ja sogar verachtet zu
werden, was für gewöhnlich mit einer Mischung aus extremer Einsamkeit,
Enttäuschung und Schuldbewusstsein erlebt wurde. 

II. Die Politisierung der Trauer

Die Trauer zu politisieren bedeutet, entgegen
möglicher anderer Interpretationen, nicht, „von“ ihr zu sprechen und sie zu
bedenken, sondern von ihrer Realität auszugehen: sich „in“ und „gegen“ die
Trauer zu verhalten. Eine Politik „in“ der Trauer darf nicht als traurige
Politik verstanden werden. Als genaues Gegenteil einer Politik der falschen
Feierlichkeit, die tatsächlich elend und im Wesentlichen melancholisch ist,
strebt die Politisierung der Trauer danach, dieser die Freude an der
Politisierung entgegenzuhalten: Eine Einübung in die Wiederaneignung und
Neuinterpretation des bis dato Erreichten als Prozess und nicht als bloße
Faktizität, die sich uns auferlegt. Der Gehalt dieser Suchbewegung lässt sich in
einigen Punkten darlegen:

1. Eine neue Intimität, die eine
Neukombination zwischen spontanerer und unmittelbarerer Handlung ebenso aufrecht
zu erhalten vermag wie Projekte, die nach einer größeren Nachhaltigkeit in der
Zeit und einem vorsichtigeren Alltag verlangen, in dem ein Hören und
Gehört-Werden selbst dann noch möglich sein soll, wenn die Zufälligkeiten der
Wahrnehmung noch schwankender werden. Es handelt sich darum, mehr Souveränität
über die Dimensionen des täglichen und kollektiven Lebens zu erlangen, um so, in
Ruhe, eine Erneuerung im Zusammenwirken zeitlicher und existenzieller Ebenen zu
erarbeiten.

2. Hervorbringung des Ereignisses angesichts
der Erinnerung als Macht. Das mit Vermögen beladene Vergangene ist ein für
die verschiedensten Interpretationen offenes Terrain. Es geht nicht darum, sich
mit der Vergangenheit zu rühmen und in Erwartung einer buchstäblichen
Wiederholung zu verharren, vielmehr gilt es, das Vergangene als Inspirations-
und Wissensquelle auf der stetigen Suche nach neuen Öffnungen zu erarbeiten. Der
Prozess läuft nicht auf Niederlagen und Siege hinaus, aber dennoch ist es
möglich, dass wir erstarrt und von seiner Dynamik entfernt bleiben. Einstmals
erfolgreiche Formen und Formeln widerlegen zu lernen, darf kein Phänomen im
Bereich der Reue oder Heuchelei sein. Im Gegenteil: Uns von der Art und Weise
„loszumachen“, in der wir an der Melancholie festhalten, kann nur im Rahmen
einer neuerlichen Hinwendung zum Prozess fruchtbringend sein, der uns auch
abverlangt, unsere Empfindsamkeit und Intuition hinsichtlich der Möglichkeiten
wachzurufen. Eine bestimmte Form loszulassen, kann demnach nur bedeuten, alle
Formen als Möglichkeiten zurückzugewinnen, sich mit einem richtigen politischen
Erinnerungsvermögen zu wappnen.

3. Keine Opferhaltungen. Sich der Trauer
zu stellen, erlaubt Formulierungen, die in der vormaligen „Niederlage“
verschlossen blieben: Schloss uns die Niederlage über einen langen Zeitraum (den
des „Triumphs der anderen“, der KapitalistInnen und UnterdrückerInnen) aus dem
Spiel aus, so verweist die - bescheidenere - Trauer nur auf unsere momentane
Entkoppelung in einem dynamischen Prozess, der jedoch keineswegs als lang
währende, periodisch (durch Krisen der Herrschaft) unterbrochene
(Stabilisierungs-) Phase verstanden werden muss, sondern vielmehr als ein
kontinuierlicher, immer wieder vom politischen Kampf durchkreuzter und
durchkreuzbarer Prozess. Dass Macht traurig macht, liegt auf der Hand! Aber
gerade darum verweigert die Politik im Prozess den Gehorsam und kehrt zum
eigenen Vermögen zurück (so gering es auch sein mag). Bedeutet die Trauer vor
allem eine Unterbrechung des Prozesses, dann genügt eine Opferhaltung nicht, da
sie nur eine andere Form ist, sich in der Trauer einzurichten. Die Trauer ist
nicht nur eine Politik der Macht, sondern - und vor allem - der Umstand, in dem
die Machtpolitiken Macht erlangen.

4. Die Macht der Enthaltung. Bestätigt
sich die Macht des Tuns in der demokratischen Souveränität, die wir darin
aktualisieren können, dann kann die Umsicht der Politisierung der Trauer
vielleicht als ein „Sich-Enthalten“ verstanden werden, in dem die Ruhe und die
scheinbare Passivität ihren aktiven und subjektiven Gehalt radikal bewahren. Ein
„Ich möchte lieber nicht“, das nicht aufgeht in der bloßen Entsagung
rückläufiger Kräfte, die über die Welt hereinzubrechen drohen, sondern - im
Gegenteil - als Form der Besonnenheit begriffen werden muss, die darauf beruht,
nicht aufzuhören, sich Zeit, Worte und eigene Konturen zu geben. Eine
grundsätzliche Bereitschaft, ungeachtet jeder Prophezeiung und jedes „trotz
allem“. Kein Sich-Seinlassen, sondern das völlige Gegenteil: Eine scheinbare
Unveränderlichkeit, die es uns erspart, mitgerissen oder einfach bezwungen zu
werden und demzufolge ein aufmerksames und flinkes Denken verlangt.

5. Neue öffentliche Räume. Die
öffentliche Existenz instituiert sich unausweichlich in der Form, in der wir in
Erscheinung treten und ein Erscheinen, das Fragen stellt, ist ein radikal
politisches Erscheinen. Und selbst dort, in den Erscheinungen, genügt die
Unterscheidung zwischen selbstgefälligen Fragen und jenen anderen, die
tatsächlich danach trachten, die Dynamiken der Prozesse zu erfassen. Die
Institution öffentlicher Räume, in denen wir, willens auf den Situationsgehalt
zu hören, mit unseren wirklichen Fragen in Erscheinung treten, verlangt keine
außergewöhnlichen Bedingungen, aber doch eine nichtstaatliche Institution des
Kollektiven. Es handelt sich in jedem Fall um das, was die Mujeres Creando
(Schöpferische Frauen) „konkrete Politiken“ nennen und in deren Dynamiken wir
uns im letzten Jahr wiederfinden konnten. Die Schaffung des nichtstaatlichen
Öffentlichen, eine Untersuchung der Formen seiner Institution sind konkrete
Möglichkeiten, nicht in der Zuweisung von Orten gefangen zu bleiben, die uns die
Normalisierung auferlegen möchte.

6. Die erneute Herstellung des Kollektiven.
Das Kollektive als Prämisse und nicht als Sinn oder Ziel: Das heißt, nicht nur
als Fortdauern einer bestimmten Interventionsform, geeignet  für einen Zeitraum,
sondern auch als jener „Rest“, der einer Anstrengung von erneutem Zuhören und
Übersetzen entspringt. Das Kollektive nicht nur als Koordinierung von
Aktivitäten und Parolen, sondern auch als vorsichtige Voraussetzung zur
Entfaltung einer neuen Wahrnehmung, ganz ohne apriorische Schemata hinsichtlich
der Formen der Gruppenbildung selbst. Das Kollektive als politische
Produktionsebene, als Entwicklung der Kooperation und zugleich als
wechselseitiges Geleit in der Erfahrung. Es geht nicht um Gruppenformeln,
sondern darum, Schlüsselbegriffe und Fragen zu erarbeiten, in Situationen zu
intervenieren und schließlich das Kollektive selbst wieder hervorzubringen. Das
Gemeinschaftlich-Kollektive stellt immer eine Herausforderung zur Öffnung auf
die Welt dar. Nicht bloß eine Anschauung des „Außen“, in den Begriffen der
klassischen Topologie von Innen und Außen, die zwischen einem
„gemeinschaftlichen Innen“ und einem „äußerlichen Außen“ unterscheiden würde,
sondern vielmehr als KomplizInnenschaft in jenem Abenteuer, das darin besteht,
sich in eine situationsbezogene Zwischenphase in der Welt zu verwandeln.
Kollektive nicht nur als Agitationsgruppen (oder ihr Widerpart, als
Selbsthilfegruppen), sondern als lebendige Instanzen der Erarbeitung. Das
Kollektive ist also auch kein Aktivismus des Sichbewegens, sondern vielmehr eine
neue Kraft zur Partizipation im Prozess, und zwar durch mannigfaltige und
variable Tonarten.

III. Die Transformation des Augenblicks und die
„Anerkennung“ denken

Zum Schluss eine Hypothese: Die aktuelle
Dynamik schafft Platz für das, was wir eine „neue Regierbarkeit“ nennen könnten
(neue Legitimationsmechanismen der Eliten, aber auch Innovationen in der Art und
Weise, das Verhältnis zwischen Regierung und Bewegungen, zwischen
internationaler Politik und „Innen-“ Politik zu verstehen; eine neue Auffassung
von regionaler Integration und globalem Multilateralismus). Die Trauer
fortzusetzen, kommt einer Isolierung in dieser neuen Phase des Prozesses gleich.

Als „Übersetzung“ des Ereignisses gewährt die
„neue Regierbarkeit“ den instituierenden Dynamiken Anerkennung und eröffnet
nicht erträumte Spielräume in der dem reinen und harten Neoliberalismus
vorgängigen Phase. Dennoch erweist sich diese Anerkennung als formal und
beschränkt; ja, manchmal sogar nur als taktische List, um die alten Strukturen
und Konzeptionen zu erhalten. Die Ambivalenz der gegenwärtigen Situation drückt
sich darin aus, dass die kollektiven instituierenden Dynamiken zwar anerkannt
werden, gleichzeitig jedoch eine Anstrengung zu ihrer Kontrolle und
Neuorientierung unternommen wird. Weder bleibt Raum für ein „Erfolgsgefühl“
wegen Ersterem, noch für ein Gefühl des „Scheiterns“ wegen Zweiterem. Mit der
Drift von der politischen Trauer zur Politisierung der Trauer suchen wir nach
Möglichkeiten, diese Dilemmas aufzugreifen, die sich uns auftun angesichts des
immer gegenwärtigen Risikos, dass wir uns in fixen und daher illusorischen
Binaritäten verlieren, die als Sieg/Niederlage, Erfolg/Misserfolg in Erscheinung
treten. Paolo Virno fasste das, womit wir heute konfrontiert sind,
folgendermaßen zusammen: Jenseits des verderblichen Oszillierens zwischen
Kooptierung und Marginalisierung setzt die Möglichkeit einer „neuen Reife“ ein.

Buenos Aires, 13. Februar 2007

Übersetzt von Birgit Mennel in Zusammenarbeit
mit Tom Waibel und Stefan Nowotny, deren zahlreiche Kommentare, Anregungen und
Überarbeitungsvorschläge diese Übersetzung möglich und auch lehrreich ;-))
gemacht haben.