Kollektivierungswahn und Moderne

Wer erklärt Phänomene, die aus der Mitte der Gesellschaft erwachsen?
Seismographisch immer wieder die künstlerischen Verarbeiter dieser
Strukturen. In vielen Werken werden gesellschaftliche Fragen aufgegriffen.
Dabei bedienen sich die Künstler sowohl formaler Brüche als auch
inhaltlicher Analysen der menschlichen Aktivitäten. Die Kunst nimmt
ernst, was die philosophischen Denker und die politischen Auguren vorgeben.
So entstanden in der Vergangenheit vernichtende Kritiken der jeweiligen
gesellschaftlichen Entwürfe. Der Künstler wurde zum politischen
Gegenspieler der politisch anmaßenden Kräfte.


Die Reaktionen der Mächtigen ähneln sich durch alle Zeiten: Die politische
Macht und ihre Diener wollen brechen, was ihnen in die Quere
kommt. Deshalb sind politische und wirtschaftliche Zensur ein fast unvergängliches
Muster im Verhältnis von Kunst und Politik.
Die Politik mag – selbst wenn die Machtverhältnisse als Demokratie organisiert
sind – den künstlerischen Spiegel nicht. Unter Diktatoren geht
es natürlich schlichter zu: Wer für sich die Wahrheit deklariert, der kann
nur den Gleichschritt von Geist und Politik kommandieren. Die Kunst gehört
zu den Mächtigen. Diktatoren nehmen sich deren Akteure leidenschaftlich
an. Und verschmähte Liebhaber, die sie notwendigerweise werden,
sind nicht nur häßlich, sondern sie hassen auch. Deshalb suchen sie
das Objekt ihrer Begierde heim und zerstören deren Werke. Doch ohne Kultur fehlt der Bevölkerung die emotionale Verstrickungmit den rationalen Strukturen der Mächtigen. Aus dieser Legitimationskrise
winden sich die Herrscher mit einer Vermassungsstrategie. Deren
Idee ist es, den inneren Mechanismus der Kunst zu zerstören.


Was macht die Kunst aus? Sie findet ihre Bestimmung in der Tatsache,
daß der Rezipient die Deutungshoheit über das, was er liest oder sieht,
behält. Damit ist er selbstbestimmt und entzieht sich kollektiven Vorgaben.
Er wird nicht steuerbar. Jede Manipulation nach einem kollektiven
Strickmuster prallt am individuellen Immunsystem ab. In den seligen
DDR-Zeiten wurde massenhaft der sozialistische Mensch geboren, der
theoretisch gewollt, aber politisch verfolgt wurde: der neue Mensch als
der Totengräber einer sich neu nennenden Diktatur. An dieser Schizophrenie
mußte die DDR zugrundegehen.Dagegen priesen die Dissidenten der DDR und die Siegelbewahrer der
marktwirtschaftlichen Demokratie den kulturellen Prozeß der Moderne.
Vergessend, daß die Moderne in der Kultur als kritischer Reflex auf wirtschaftliche,
wissenschaftliche und politische Interessen entstand. Daß ausder Moderne der Faschismus erwachsen konnte, sollte nicht vergessenwerden. Auch heute ist der kategorische Imperativ »Sei mächtig« das Sinnbildende
in der Außen- und Innenpolitik der Demokratien.


Doch wo die Macht gebraucht wird, um in Konflikten die eigenen Interessen
siegreich durchzusetzen, da wiederholt sich Geschichte. Besonders
in gegenwärtigen Konflikten, die in den bewährten Mustern von Behauptung
und Vernichtung gelöst werden. Deshalb greifen die Mächtigen erneut
zur Vermassungsstrategie. Es geht um die Produktion von gleichmachenden
Deutungsinhalten. Einfache Botschaften und aggressive Ästhetik
verbinden sich zu manipulierenden Werken. Die elektronischen Medien,
gesteuert von der Konsumforschung, haben den Seher und Hörer längst
um die freie Wahl seines Medienverhaltens gebracht. Der Wortanteil im
Hörfunk ist auf einen historischen Tiefpunkt. Im Fernsehen ist das zeitgeistkritische
Magazin ein aussterbendes Format. Dagegen werden Krimiserien
in unzähligen Wiederholungen und Volksmusik programmiert,
im fiktiven Bereich haben die Plagiate Renaissance.


Auch in der Printlandschaft wird der kritische Zeitgeist zerstört. In dieser
Republik kämpft der Spiegel mit BILD um die Rolle des Leitmediums.
Da lacht das Herz jedes Diktators. Selbst der Museumsbesuch wird durch
die Eventkultur aufgehoben, nächtelang wird der geneigte Besucher
durch unzählige Museen geschleust, immer mit dabei: der Picknickkorb. Was nicht zur Vermassung taugt, ist keine Kultur, ist keine Kunst. Angefeuert vom schöngeistigen Feuilleton, wird suggeriert, daß nur der
ein vollwertiger Mensch sei, der sich durch Bestsellerlisten liest und durch
Massenausstellungen schleicht.


Wir erleiden, daß das Menschenbild der Moderne auf dem Altar der
Macht geopfert wird. Für den kritischen Geist bleibt bestenfalls die Nische.
Das Menschenbild der parlamentarischen Diktatur zielt auf den zwangskollektivierten
Menschen und den politisch und wirtschaftlich zensierten
Künstler.