Eine Empörung geht um in Deutschland


Eine Empörung geht um in Deutschland, die Empörung über Martin
Walser. Das ist nicht neu. Walser wird langsam zum Fettnapftreter der
Nation. Und entwickelt dabei eine feinsinnige Neigung zur Satire zweiter
Ordnung – also der Art von Witz, den der Autor desselben weder beabsichtigt
noch bemerkt. Nun ist solcher Witz nicht immer lustig. Und so
erhält Martin Walser, der zum Jubiläum der Bayerischen Akademie der
Schönen Künste wider den Zeitgeist zu reden meinte, Schelte aus allen
politischen Windrichtungen. Das wird Walser nicht verwundern – es bestätigt
ihm ja den Impetus seiner Rede.


Keine Moral, die nicht ihre eigene Heuchelei hervorbringt, konstatiert
er. Und verweist neben anderen, durchaus auch pikanten Beispielen, auf
die mediale Empörung über die Korruptionsfälle im Hause Siemens.
Walser argumentiert, daß es doch bekannt sei, daß alle großen internationalen
Konzerne ihre Aufträge nur durch Bestechung hereinbekämen.
Und stellt mit Blick auf Frankreich fest, daß dort nicht der moralisch erregte
Zeitgeist den Ausschlag gäbe – wie in Deutschland –, sondern das
wirtschaftliche Interesse, der wirtschaftliche Erfolg.


Nun weiß ich nicht, wie Walser auf die Idee gekommen ist, daß in
Deutschland ein »moralisch erregter Zeitgeist« gegen das wirtschaftliche
Interesse der Konzerne stehe. Interessanter ist allemal, mit welch gleicher
Intention von links bis konservativ nun Walser mit angestrengt aufgebautem
Unverständnis und empörtem Kopfschütteln begegnet wird. Diese
Einheitsfront ist nur auf den ersten Blick verblüffend. Denn Walser hat ja
nicht etwa der Überwindung der warenförmigen Reproduktionsweise dasWort geredet, sondern nur der Anerkennung der damit zwangsläufig verbundenen
Gegebenheiten. Und Korruption gehört nun einmal zum Großen
Geschäft, zum Konkurrenzgebaren, das der Zwang zur Verwertung
des Wertes hervorbringt wie die Gewitterwolke den Regen.


Allerdings – und daher die Empörung des »Zeitgeistes«, der doch noch
immer der Geist der herrschenden Verhältnisse war und ist – hat Walser
damit ausgesprochen, was nicht ausgesprochen werden soll und darf.
Korruption und Steuerhinterziehung (wenn man erwischt wird) wie auch
Spekulation (wenn sie schiefgeht) sollen – und so ist ja auch bundesdeutsche
Rechtssprechung gestrickt – immer nur im bösen Handeln einzelner
Schurken zu suchen sein: Hartz, Zumwinkel, jetzt von Pierer, die
Auflistung ließe sich beliebig verlängern. Wie auch an der Freisetzung
von lebendiger Arbeit immer nur »raffgierige Unternehmer« schuld sein
sollen. So wird der Zorn der von Einkommensverlusten und Sozialkürzungen
Geplagten weggelenkt von den gesellschaftlichen Verhältnissen als
eigentliche Ursache ihrer immer prekärer werdenden Lebensbedingungen
hin auf »gewissenlose Manager«, auf »Nieten in Nadelstreifen«, wie
auch immer – auf das »Verschulden« einzelner. Nun sind die »Charaktermasken
« des Kapitals (Marx) nicht immer liebenswerte Zeitgenossen
– das ist mein Handwerker aber auch nicht immer –, daß aber die Folgen
einer nur der Kapitallogik gehorchenden Gesellschaft lediglich auf
die Skrupellosigkeit einzelner Kapitaleigner oder -verwalter zurückzuführen
sein sollen, ist ein frommes Märchen, das von allen immer wieder
gern gehört wird, die diese Verhältnisse so verinnerlicht haben, daß
sie gar nicht mehr auf die Idee kommen, das Leben könne auch anders
als in Wertform organisiert sein. Was vor Zeiten, als persönliche Abhängigkeiten
die Herrschaftsverhältnisse bestimmten, der gute König richten
sollte, sollen heute, da alles und jeder nur noch dem abstrakten Wert verpflichtet
ist, gute Gesetze und vernünftige Manager richten. Märchen
waren immer beliebter als unbequeme Wahrheiten.


Die Konservativen kreiden Walser an, daß er den künstlichen Nebelschleier
lüftet, für den ab und an ein paar Wirtschaftspromis, die sich
erwischen ließen, in der Opferschale der Rechtsstaatlichkeit verraucht
werden müssen. Auf diversen, sich »links« verstehenden Websites, wird
Walser als Rechtfertiger der Korruption »des Systems« abgestraft. Und in
sogenannter linker Politik wird an Modellen gebastelt, die sich als Alternative
verstehen – nein, nicht zum Kapitalismus, sondern nur zu dessen
Spielart namens Neoliberalismus, und dann hat sich’s auch schon mit
der Alternative – und die im wesentlichen darin besteht, daß bei »vernünftigen
« Gesetzen und »vernünftiger« Handhabung der Wirtschaft aus der
allumfassenden Unvernunft doch etwas »Vernünftiges« zu machen sei, natürlich
ohne Ganoven vom Schlage eines Ackermann & Co.

In dieser seltsamen Einheit finden sich linke wie rechte Kritiker Walsers.
Was nur bedeutet, daß die einen wie die anderen die Konstitution
der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht durchschauen und sie auch nicht
geändert wissen, sondern – je nach politischer Fasson – entweder »vernünftiger
« oder »cleverer« gehandhabt sehen wollen.
Dabei ist das »System Siemens« gleichermaßen die Vernunft wie die
Cleverness eben der Verhältnisse, die Siemens großgemacht haben und
die Siemens befördert in ureigenstem Interesse.


Walser hat dafür plädiert, die bestehenden Verhältnisse nicht durch
eine verlogene Moral zu verklären, sondern als das anzuerkennen, was
sie sind. Daß er sie nicht kritisiert – weder immanent noch aufhebend –,
kann man ihm ankreiden, aber da steht er ja in der deutschen Intelligenzija
nun alles andere als allein da. Und wenn ihm die Kunst des
Geldverdienens gleich erscheint wie die Kunst, Musik oder Literatur zu
schaffen, hat er von den Verhältnissen immer noch mehr verstanden als
diejenigen, die behaupten, sie mit »vernünftigen Konzepten verbessern«
zu können oder diejenigen, die auf dichteren Nebel setzen, um sie zu erhalten.
Walser prügeln, könnte heißen, den Sack zu schlagen, wenn man
den Esel meint. Das Bild stimmt nur nicht, denn die den Knüppel schwingen,
wissen nicht einmal, daß sie den gleichen Esel reiten wie Martin
Walser. Das ist der eigentliche Witz, auch wenn er alles andere als komisch
ist.