Das Elend der WTO

Für eine Neuerfindung des Welthandels

Das multilaterale Handelssystem steckt derzeit in seiner tiefsten Krise seit Jahrzehnten. Die Probleme wiegen so schwer, dass es nach vielen Jahren äußerst mühsamer Verhandlungen inzwischen fast nebensächlich geworden zu sein scheint, ob das Ende der Doha-Runde der Welthandelsorganisation (WTO) bald offiziell verkündet wird oder die Verhandlungen weiter vor sich hindümpeln.

Denn längst geht es nicht mehr "nur" um die Doha-Verhandlungsrunde, sondern es ist die WTO selbst, die zur Disposition steht. Zwar treten nach wie vor Länder der WTO bei, und ihre Streitschlichtungsinstanz trägt laufend Handelskonflikte zwischen Mitgliedsländern aus. Doch die Verhandlungen über eine Weiterentwicklung der Handelsregeln sind durch einen grundlegenden Reformstau gekennzeichnet. Seit ihrer Gründung im Jahr 1994 wurde sie immer wieder von einem Stillstand oder Scheitern der Verhandlungen gebeutelt: Die Ministerkonferenzen in Singapur 1996, Genf 1998 und Hongkong 2005 blieben ohne signifikante Ergebnisse, während die Konferenzen in Seattle 1999, Cancún 2003 und die Gespräche am Sitz der WTO in Genf 2006 und erneut 2007 sogar gänzlich scheiterten. Im Rückblick erscheinen daher gar nicht mehr die Fehlschläge, sondern eher die einmaligen Erfolge, wie etwa der Beginn der gegenwärtigen Verhandlungsrunde in Doha 2001, typisch zu sein.

Die Krise der WTO hat zwei Ursachen: ein Mangel an Vertrauen und eine ideologische Voreingenommenheit. Ein Mangel an Vertrauen besteht deshalb, weil die Länder des Nordens, namentlich die Triade USA, EU, Japan, seit vielen Jahren den Handel mit zweierlei Maß messen: Sie fordern Freihandel mit den Ländern des Süden und beharren gleichzeitig auf Protektionismus und (im Agrarbereich) auf Subventionen für ihre eigene Wirtschaft. Dabei führen sie die Verhandlungen nicht ohne Heuchelei, da sie stets Armutsreduktion, Entwicklungschancen und Wohlstand für alle versprechen.

Die ideologische Voreingenommenheit wiederum zeigt sich daran, dass das übergeordnete Ziel der Verhandlungen immer noch Freihandel und schieres Wirtschaftswachstum lautet. Dabei wird immer deutlicher erkennbar, wie Strategien eines unreflektierten Wirtschaftswachstums immense soziale und ökologische Probleme mit sich bringen, weil sie die Ausbeutung von lokalen Gemeinschaften und natürlicher Umwelt in Kauf nehmen. Erst wenn die WTO aufhört, einer starren Freihandelsideologie zu folgen, und sich stattdessen den tatsächlichen Problemen stellt, wird sie ihre Krise überwinden; erst wenn sie auf multilateraler Ebene Probleme löst, die dem Gemeinwohl dienen und nicht von Staaten im Alleingang angegangen werden können, wird sie wieder einen Konsens der Staatengemeinschaft über ihren Nutzen erreichen.

Im Folgenden möchte ich fünf besonders dringliche Problemlagen beschreiben, aus denen sich Meilensteine für die Neuerfindung einer multilateralen Handelsorganisation ergeben. Ob ein Umbau der WTO in diese Richtung politisch möglich wäre, ist indes offen.
Menschenrechte vor Marktzugang

Bisher haben die WTO (wie zuvor das GATT), binationale und regionale Freihandelsabkommen sowie die internationalen Finanzinstitutionen Internationaler Währungsfonfs (IWF) und Weltbank mit ihren Strukturanpassungsprogrammen allein darauf abgestellt, Handelsbarrieren abzubauen und Märkte zu öffnen. Sie stützen sich dabei auf die ökonomische Theorie, der zufolge Zölle, Quoten und sonstige Marktzugangsbarrieren die Preise auf dem eigenen Markt hoch halten und damit auch ineffiziente Produzenten schützen. Die Liberalisierung des Handels dagegen soll helfen, dass sich auf allen Märkten stets die kostengünstigsten Anbieter durchsetzen. Diese Freihandelsstrategie übersieht, dass jenseits aller ausgeschöpften Effizienzpotentiale ein "Verdrängungshandel"1 einsetzen kann, der den davon betroffenen Menschen ihre Produktions-, wenn nicht gar Lebensgrundlage entzieht.

Am deutlichsten wird dies beim Handel mit Agrarprodukten. In zahlreichen Ländern des Südens haben Billigimporte von Lebensmitteln die inländische Produktion aus Ackerbau und Viehwirtschaft vom Markt gedrängt und bäuerliche Betriebe in den Ruin getrieben. Indonesien beispielsweise hatte vor rund einem Jahrzehnt noch ein gut funktionierendes Agrarwesen, das weitgehend die Selbstversorgung des Landes garantierte. Durch eine Handelsliberalisierung, die dem Land im Zuge der asiatischen Finanzkrise aufgenötigt wurde, stieg die Gesamteinfuhr von Lebensmitteln stark an, bei Sojabohnen sogar um 50 Prozent. Allein im Bereich der Sojaproduktion haben zwei Millionen Menschen den Sojaanbau aufgeben müssen.2

Es erscheint als selbstverständlich, dass eine dem Gemeinwohl verpflichtete Welthandelsorganisation die Menschenrechte schützt und die Armut bekämpft. Tatsächlich erkennt die WTO noch nicht einmal auf dem Papier den Menschenrechtskanon der Vereinten Nationen an, geschweige denn, dass sie sich ihrer aktiven Umsetzung verpflichtet. Regierungen müssen wieder größeren Handlungsspielraum vis-à-vis der bestehenden internationalen Handelsregeln zurückerlangen, so dass sie Zuströme von Produkten, aber auch Dienstleistungen und Direktinvestitionen kontrollieren können, wenn Existenzrechte und Entwicklungspotentiale auf dem Spiel stehen.3 Denn in der rasanten Globalisierung von heute ist die Importsteuerung für Länder zumeist wichtiger als die Exportförderung. Deshalb muss den Ländern wieder mehr Flexibilität in der Anwendung von Zöllen, Quoten sowie preis- und mengenbasierten Schutzmechanismen eingeräumt werden.

Indes muss auf multilateraler Ebene überwacht werden, dass der größere nationale Handlungsspielraum nicht dazu missbraucht wird, Importe ungerechtfertigt zu diskriminieren. Das ist der Schlichtung von Streitfällen in der WTO schon häufig gelungen. Aber nicht erst im Streitfall, sondern im Regelfall wird eine zukunftsfähige Handelsorganisation über begründete nationale Schutzinteressen wachen, anstatt wie bisher bloß den Interessen der Exporteure zum Durchbruch zu verhelfen.
Den Marktzugang nachhaltig qualifizieren

Gegenwärtig werden Handelsströme nur nach ihrem monetären Wert, nicht aber nach ihrer ökologischen und sozialen Qualität bewertet; denn in der ökonomischen Theorie gilt, dass die Qualität eines Produkts oder einer Dienstleistung einzig durch den Preis abgebildet wird. Deswegen gilt in der WTO die Regel der sogenannten like products: Gleichartige Produkte dürfen nicht aufgrund eines unterschiedlichen Produktionsverfahrens diskriminiert werden. So dürfen beispielsweise zwei T-Shirts nicht mit unterschiedlichen Zollsätzen oder Importquoten belegt werden, auch wenn eines von ihnen mit Kinderarbeit oder aus einer Baumwolle hergestellt worden ist, deren industrieller Anbau unter hohem Pestizideinsatz Feldarbeiter und Umwelt vergiftet hat.

Ein solch undifferenzierter Handel leistet einem Standortwettbewerb Vorschub, der allein auf niedrige Produktionskosten abhebt. Unternehmen verlagern ihre Herstellung in Länder, wo Löhne, Ressourcenpreise, Umwelt-, Gesundheits- und Sozialstandards am niedrigsten sind, um die Produkte anschließend auf die kaufkräftigen Märkte der transnationalen Konsumentenklasse zu reimportieren. Dabei ist es für sie ein betriebswirtschaftlicher Erfolg, wenn sie die Kosten beispielsweise für die Aufrechterhaltung von Infrastruktur oder für den Erhalt der Umwelt auf die Allgemeinheit abwälzen, also aus ihren Produktionskosten externalisieren. Solange Handelsströme nur nach ihrem Preis und nicht nach ihrer Qualität differenziert werden, wird die Globalisierung für Unternehmen nicht nur eine Strategie sein, die Kombination von Produktionsfaktoren zu optimieren, sondern immer auch eine Externalisierungsstrategie.

Doch schon die gegenwärtige Praxis der WTO kennt Ausnahmen von der "Like-Product"-Regel: Diamanten aus Bürgerkriegsregionen dürfen ebenso wenig gehandelt werden wie Kühlschränke mit dem die Ozonschicht zerstörenden FCKW. Was heute Ausnahme ist, muss zur Regel werden. In der Tat wird der Handel erst dann zum Motor für Ökologie und Gerechtigkeit, wenn eine Differenzierung der Produkte nach ihren Produktionsmethoden vorgenommen wird. Textilien aus Sweatshops, die Rechte von Frauen verletzten, Fleisch aus Tierzuchtfabriken, die Wachstumshormone einsetzen, oder Strom aus fossil betriebenen Kraftwerken, die die Atmosphäre aufheizen - solange der Handel mit solchen Waren und Dienstleistungen nicht gänzlich unterbunden werden kann, muss er finanziell belastet und dafür der Handel mit sozial und ökologisch nachhaltigen Gütern begünstigt werden.

Es muss Ländern gestattet sein, den Zugang zu ihren Märkten an Qualitätskriterien zu knüpfen. Ein solches System des "Qualifizierten Marktzugangs"4 wird ökologisch und sozial nachhaltig erzeugte Importe aktiv gegenüber konventioneller Ware begünstigen, wenn im eigenen Land die gleichen Standards gelten. Dann kann etwa ein Land, das den nachhaltigen Landbau fördert, den Import von Lebensmitteln aus industrieller Erzeugung mit hohen Zöllen belegen. Ebenso erfordert ein Klimaschutzprogramm, welches die Automobilindustrie zur Produktion spritsparender Autos verpflichtet, dass sparsame Autos günstiger importiert werden dürfen. Auf diese Weise können Länder auswählen, welche Art von Importen ihnen hilft, die eigenen Produktions- und Konsummuster zukunftsfähiger zu machen. Letztlich muss für Exporteure der Zugang zu fremden Märkten als ein Privileg verstanden werden, das man sich erst durch die Einhaltung hoher Sozial- und Umweltstandards verdienen muss. Doch sollte Unternehmen aus Entwicklungsländern in einer Übergangsphase geholfen werden, diese Standards zu erfüllen.
Krisen der Terms of Trade vorbeugen

Während im Jahr 2005 50 Länder, angeführt von Deutschland, China, Russland und Saudi-Arabien, teilweise enorme Handelsbilanz-Überschüsse erwirtschaftet haben, wiesen 114 Länder Handelsbilanz-Defizite aus, die in den USA, Großbritannien, Spanien und der Türkei am höchsten ausfielen. Defizite wie Überschüsse sind strukturell zwar nicht zu vermeiden, und sie können sich durch frei flottierende Wechselkurse über die Jahre auch wieder ausgleichen. Geschieht das nicht, muss der Ausgleich durch entsprechende Maßnahmen angestrebt werden. Länder, die stets mehr exportieren als importieren, erwirtschaften Überschüsse an ausländischen Devisen, während Länder, die stets mehr importieren als exportieren, leicht in einen Devisenmangel geraten. Wenn dann nicht anderweitig Kapital ins Land fließt, etwa über Investitionen, können diese Länder zu Schuldnerstaaten werden.

Gemäß der ökonomischen Theorie folgt einem Devisenmangel zwar eine Abwertung der Währung eines Landes, wodurch Exporte international wettbewerbsfähiger gemacht und dadurch Mehreinnahmen an Devisen erzielt werden können. Doch in der Realität hat dieser Regelkreislauf oft nicht funktioniert - auch deswegen, weil viele Länder sich aufgrund einer existenziellen Importabhängigkeit gezwungen sehen, ihre Währung an den US-Dollar oder den Euro zu binden. Ihnen bleibt nur, sich im Ausland zu verschulden, um ihre Importe bezahlen zu können. Vor allem ärmere Länder haben mit chronisch negativen Handelsbilanzen zu kämpfen; einige von ihnen können nicht einmal ausreichend Devisen für lebenswichtige Importgüter wie Medikamente oder Nahrungsmittel aufbringen. Zudem haben die Finanzkrisen in Mexiko 1994, in mehreren Ländern Asiens 1997/1998, in Argentinien nach 1999 und viele weitere größere und kleinere Finanzkrisen, bei denen ganze Länder ihren wirtschaftlichen Bankrott erklären mussten, vorgeführt, welche verheerenden Folgen ein Handelssystem zeitigen kann, dass keinen Ausgleich der Bilanzen anstrebt.

Schon John Maynard Keynes, der in den 40er Jahren die Verhandlungen zur Gründung der Bretton-Woods-Institutionen leitete, hatte einen Mechanismus vorgeschlagen, bei dem eine international unabhängige Verrechnungsstelle, die International Clearing Union (ICU), einen Handelsbilanzausgleich zwischen den Nationen erwirken sollte.5 Die ICU sollte eine neue Währung einführen, den Bancor, in der alle Im- und Exporte am Weltmarkt zu bezahlen wären. Jedem Land stünde beim Umtausch der eigenen Währung in den Bancor ein gewisser Überziehungskredit zu; wird dieser jedoch überschritten, würde die ICU einen Strafzins für das Land verhängen. Auch Ländern mit Zahlungsbilanzüberschüssen, wie etwa Deutschland, könnte ein Strafzins auferlegt werden, damit sie ihre Überschüsse im Zaum halten; oder Überschüsse ab einer bestimmten Höhe könnten konfisziert und der Finanzierung von Aufgaben des internationalen Gemeinwohls zugeführt werden (Programme zur Armutsreduktion, Finanzierung der UN-Institutionen o.Ä.).

Obwohl KeynesÂ’ Vorschlag heute wie damals phantastisch anmutet, könnten die wachsenden Bilanzdefizite vieler Länder, nicht zuletzt auch der USA, in nicht allzu weiter Ferne zu einer weltwirtschaftlichen Instabilität führen, die einen Ausgleich der Handelsbilanzen auch im Interesse der mächtigen Staaten und der Exportüberschuss-Länder erscheinen lassen wird.
Systemische Vorzugsbehandlung für ärmere Länder

Derzeit gleicht der Weltmarkt einer Fußballliga, in der ein Verein der Kreisliga gegen den vielfachen Meister FC Bayern München antreten müsste - und das auf einem Feld, bei dem die Hobbyfußballer bergauf gegen die Münchener Profis spielen müssen. Im Welthandel spielen tatsächlich starke und schwache Spieler in der gleichen Liga - und die Regeln begünstigen dazu noch die starken Länder, denn diese haben die Regeln so gestaltet, dass doppelte Standards gelten. Zahlreiche Länder des Südens, von Kenia bis Indonesien, von Kamerun bis Chile, wurden gezwungen, ihre Märkte weit zu öffnen für die Industriegüter des Nordens, während die USA, Japan, die EU und andere Industriestaaten weiterhin hohe Zölle auf Agrargüter erheben und obendrein mit massiven Subventionen die eigene landwirtschaftliche Produktion maximieren. Dieser Protektionismus auf dem Agrarmarkt bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Übermacht auf dem Markt für Industriegüter und Dienstleistungen hat in der Vergangenheit viele Länder des Südens zu Verlierern des Welthandels gehören. Eine Studie zur Folgenabschätzung der gegenwärtigen Verhandlungsrunde der WTO in Doha prognostiziert, dass die meisten der am wenigsten entwickelten Länder, insbesondere die Länder Subsahara-Afrikas, mit dem nächsten Liberalisierungsschub im Welthandel erneut zu Verlierern werden, während die größten volkswirtschaftlichen Gewinne von den Industriestaaten und einigen aufstrebenden Schwellenländern eingefahren werden.6

Auch Ökonomen, die der Theorie des Freihandels anhängen, vertreten mittlerweile die Ansicht, dass Entwicklungsländer im Wettbewerb mit wirtschaftlich starken Ländern eine hinreichend lange Übergangsphase benötigen, in der sie sowohl ihre Märkte schützen dürfen als auch von den Industrieländern einseitig einen vergünstigten Marktzugang eingeräumt bekommen.7 Seit Entwicklungsländer in den 60er Jahren dem GATT beigetreten sind, haben sie stets eine Welthandelspolitik gefordert, die ihnen angesichts ihrer ökonomischen Schwäche Startvorteile einräumt. Doch die sogenannte Sonder- und Vorzugsbehandlung, die das gewähren sollte, wurde nie umfassend durchgesetzt, sondern bestand bloß aus partiellen und nur korrigierenden Maßnahmen.

Fairness hingegen wäre erst geboten, wenn die Regeln der WTO schwache Staaten systematisch begünstigen. Dafür muss sich die Sonder- und Vorzugsbehandlung zu einer "systemischen Sonderbehandlung" wandeln, das heißt sie muss ein integrales Strukturmerkmal des Handelsregimes werden.8 So können Länder nach verschiedenen Kriterien - wie Ausmaß der Armut, Pro-Kopf-Einkommen, Anteil am Welthandel usw. - in unterschiedliche Kategorien eingeteilt werden. Ein Land mit mittlerem Einkommen wie Algerien würde dann eine Sonderbehandlung durch die EU erfahren, während es seinerseits Niger gegenüber zur Sonderbehandlung verpflichtet wäre. Eine solche Bestimmung würde nicht nur helfen, die Kluft zwischen Nord und Süd zu verringern, sondern auch dazu beitragen, die rasch wachsenden Ungleichheiten zwischen den Entwicklungs- und Schwellenländern auszugleichen.
Fairen Wettbewerb sichern

Konzentrationsprozesse geschehen auch in nationalen oder lokalen Märkten, wenn die Politik nicht interveniert. Doch je größer der Markt, desto größer wird das Problem. Erst die weltweite Liberalisierung der Finanz- und Gütermärkte seit Ende der 70er Jahre hat einer Konzentration von Unternehmen über Ländergrenzen hinweg Vorschub geleistet, wie sie bis dahin nicht möglich war. Im Ergebnis entstanden einige hundert transnationale Konzerne, deren jährlicher Umsatz das Bruttoinlandsprodukt ganzer Länder in den Schatten stellt. Der Weltkonzern Wal-Mart beispielsweise machte im Jahr 2006 308 Mrd. US-Dollar Umsatz, während das Bruttoinlandsprodukt der 42 hoch verschuldeten Entwicklungsländer (HIPC) zusammen nur 262 Mrd. US-Dollar betrug.

Zum anderen steigt mit der "Zusammenlegung" von nationalen Märkten zu einem gemeinsamen globalen Markt gleichzeitig die Zahl der kleinen Unternehmen und verwundbaren Produzenten gegenüber den Marktriesen. Der weltgrößte Agrarhandelskonzern, das US-Unternehmen Cargill, muss sich das Handelsgeschäft für Weizen, Mais, Geflügel und vielen anderen Produkten nur mit einer Handvoll Konkurrenten teilen. Daher können diese Unternehmen ihre Marktmacht und damit die Abhängigkeit der Millionen Bäuerinnen und Bauern weltweit ausnutzen, um Preise zu manipulieren, Wertschöpfung aus den ländlichen Ökonomien abzuziehen, und Standards zu diktieren, die es insbesondere den kleinen Produzenten unmöglich machen, mitzuhalten.9 Im Bereich der Computerproduktion haben einige wenige transnationale Konzerne, die zusammen nahezu 90 Prozent des Herstellungsmarkts für Laptops kontrollieren, regelmäßig nach nur wenigen Jahren ihre Zulieferer gewechselt, um maximale Profitmargen zu erzielen, während die Zulieferer samt ihrer Arbeiterinnen und Arbeiter in Malaysia, Indonesien oder Mexiko ohnmächtig und arbeitslos zurückblieben.10 Im Welthandel mangelt es offensichtlich nicht nur an Fairness zwischen den Ländern, sondern gerade auch zwischen den Marktakteuren.

Mehr noch: Es gibt auf internationaler Ebene keine unabhängige Institution, die der Monopol- und Kartellbildung auf dem Weltmarkt entgegenwirkte. Die Bildung einer derartigen "Monopolkommission", die internationale Fusionen und Aufkäufe kontrolliert und den unlauteren Wettbewerb sanktioniert, ist dringend geboten.

Ein Welthandelsregime, das sich der Fairness und Nachhaltigkeit verschreibt, wird darüber hinaus eine ausgewogene Verteilung von Gewinnen entlang grenzüberschreitender Wertschöpfungsketten sichern. Dabei kann es von der Fair-Trade-Bewegung lernen. Seit über drei Jahrzehnten zeigt sie, wie grenzüberschreitende Wertschöpfungsketten qualitativ hochwertige Produkte zu fairen Preisen für die Produzenten und mit hohen Sozialstandards im Produktionsprozess hervorbringen können. Warum sollten Fairhandelsverträge nicht für alle Unternehmen zur Bedingung gemacht werden, die am Welthandel teilnehmen möchten?

Es ist offensichtlich, dass die Problemlagen und Herausforderungen in einer globalisierten Welt eine starke multilaterale Handelsorganisation unverzichtbar machen. Denn dieser obliegen Aufgaben, die nicht darin bestehen, Handelsströme zu deregulieren, sondern Handelsströme zu regulieren: Wo Menschenrechte auf dem Spiel stehen, sollte sie nationale Schutzinteressen über das Interesse von Exporteuren stellen; damit der Übergang in die solare Wirtschaft gelingt, sollte sie sozial- und umweltverträgliche Handelsströme begünstigen; um zur Stabilität der Finanz- und Devisenmärkte beizutragen, sollte sie chronische und kumulierte Handelsbilanzdefizite und -überschüsse verhindern; um die Kluft zwischen armen und reichen Nationen zu verringern, sollte sie schwächeren Ländern Vorteile einräumen; und um unlauteren Wettbewerb der starken Marktakteure zu verhindern, sollte sie Kartellbildung und Marktkonzentration überwachen.

Die WTO erfüllt in ihrer gegenwärtigen institutionellen Verfassung nicht die Voraussetzungen für ein solches Rahmenwerk. Insofern wird die Doha-Runde, selbst wenn sie doch noch zu einem Abschluss gebracht werden sollte, in keinem Fall ein Erfolg. Wenn die Verhandlungsrunde indes endgültig scheitert, besteht möglicherweise endlich eine Chance für die grundlegende Reform der Handelsregeln. Sollte dies eintreten, dann könnte es gut sein, dass künftige Historiker im Rückblick das Scheitern der Doha-Runde nicht als Rückschlag betrachten, sondern als Fortschritt.

1 Vgl. Gero Jenner, Die arbeitslose Gesellschaft. Gefährdet Globalisierung den Wohlstand? Frankfurt a.M. 1997, S. 83 ff.
2 Arze Glipo und J. Ignacio, Public Sector Intervention in the Rice Sector in Indonesia: Implications on Food Security and Farmer‘s Livelihoods, in: State Intervention in the Rice Sector in Selected Countries: Implications for the Philippines, Quezon City 2005.
3 Kevin P. Gallagher (Hg.), Putting Development First: The Importance of Policy Space in the WTO and IFIs, London 2005.
4 Hannes Lorenzen, Qualified Market Access. How to include environmental and social conditions in trade agreements. EcoFair Trade Dialogue Discussion Paper No. 5, 2007, www.ecofair-trade.org.
5 Susan George, Zurück zu Keynes in die Zukunft, in: "Le Monde Diplomatique", 1/2007, S. 18 f.
6 Sandra Polaski, Winners and Losers: Impact of the Doha Round on Developing Countries, Washington 2006.
7 Vgl. Joseph Stiglitz und Andrew Charlton, Fair Trade For All: How Trade Can Promote Development, Oxford 2005.
8 Vgl. Wolfgang Sachs und Tilman Santarius, Slow Trade - Sound Farming. Handelsregeln für eine global zukunftsfähige Landwirtschaft, Berlin und Aachen 2007.
9 Sophia Murphy, Concentrated Market Power and Agricultural Trade. EcoFair Trade Dialogue Discussion Papers No. 1, 2006, www.ecofair-trade.org. Vgl. Irene Schipper und Esther de Haan, CSR Issues in the ICT Hardware Manufacturing Sector. SOMO ICT Sector Report, Amsterdam 2005; Andreas Manhart und Rainer Grießhammer, Soziale Auswirkungen der Produktion von Notebooks, Freiburg 2006.