Marx und die Perspektiven des Gegenwartskapitalismus

Fast scheint es so, als ob die kapitalistische Gesellschaftsformation erst heute jene „reine“ Form angenommen hat, die Marx in seinen ökonomischen Studien theoretisch verdichtet hat.

125 Jahre nach seinem Ableben besitzen die ökonomischen Analysen von Marx eine dramatische Aktualität. Fast scheint es so, als ob die kapitalistische Gesellschaftsformation erst heute jene „reine“ Form angenommen hat, die Marx in seinen ökonomischen Studien theoretisch verdichtet hat. Ein aggressives Ausbeutungs- und Vereinnahmungsstreben, das zeitweilig durch den Druck der Arbeiterbewegung und den korrigierenden Einfluss des sozialistischen Blocks abgeschwächt werden konnte, ist wieder realitätsprägend geworden. Um den Vorrang der Profitmaximierung vor allen sozialen und kulturellen Gesichtspunkten zu gewährleisten wird versucht, die von der Arbeiterbewegung erkämpften Errungenschaften rückgängig zu machen. Das Bild eines hegemonial gewordenen Kapitalismus besitzt klare, wenn auch wenig erfreuliche Konturen: Die Welt ist ungerechter und unfriedlicher geworden. Die kollektiven Zukunftsperspektiven sind ebenso ernüchternd, wie die individuellen Aussichten von Unsicherheit geprägt sind. Erfahrungen, die in den letzten Jahrzehnten nur die Menschen einer sogenannten Peripherie machen mussten, wiederholen sich nun für große Bevölkerungsgruppen in den entwickelten Zonen des Kapitalismus: Prekäre Arbeits- und Existenzbedingungen, Massenarbeitslosigkeit und soziale Ausgrenzungen verfestigen sich. Selbst eigentlich Unfassbares spielt sich vor aller Augen ab: Trotz einer ungebrochenen Reichtumsvermehrung haben zunehmende Bevölkerungsgruppen nur das Notwendigste zum Leben. Wie eine ansteckende Krankheit breiten sich Armut und Bedürftigkeit aus. 18 Prozent der Bundesbürger leben momentan unter der Armutsgrenze. Die Gruppe der Gefährdeten, die jederzeit sozial abstürzen können, ist noch einmal so groß. Für nicht wenige reicht es noch nicht einmal für eine warme Mahlzeit am Tag. Die kostenlosen Lebensmittel von Selbsthilfeorganisationen und die Angebote von Suppenküchen nehmen in der Bundesrepublik Hunderttausende von Menschen in Anspruch. Alleine in einer reichen Stadt wie München werden wöchentlich auf diese Weise 16 000 Menschen versorgt.

Marxismus als Sozialwissenschaft

Dass durch diese Entwicklungen sich zentrale Aussagen von Marx über den Charakter des Kapitalismus alltäglich bestätigen, ist übrigens nicht Ausdruck prophetischer Fähigkeiten, sondern der Beweis der Subtilität seiner Gesellschaftstheorie ebenso, wie auch der zähen Überlebenskraft der von ihm analysierten bürgerlichen Gesellschaft, die durch das paradoxe Entwicklungsprinzip geprägt ist, dass – wie Marx es formuliert hat – mit der Steigerung des gesellschaftlichen Reichtums auch die Bedürftigkeit der Arbeitenden zunimmt. Ökonomische Progression wird zur Ausgrenzungsmaschine, weil mit den steigenden Unternehmensgewinnen das Kapitalvolumen wächst, das in arbeitsplatzvernichtende Rationalisierungsmaßnahmen (alternativ auch betriebliche Zusammenschlüsse und Übernahmen mit negativen Arbeitsplatzeffekten) investiert werden kann. Es wird durch die verschärfte Ausbeutung die in Gang gesetzte Umverteilungsdynamik noch weiter beschleunigt, noch mehr Kapital in den Händen Weniger konzentriert und der Arbeitsplatzabbau durch Rationalisierung weiter forciert. Für einige Jahrzehnte nach dem 2. Weltkrieg schien das Gesetz einer „relativen Verelendung“ für die Arbeiterklasse in den Metropolenländern, wenn nicht ausgehebelt, so doch zumindest abgemildert gewesen zu sein. Dass durch marktradikale Veränderungen die kapitalistischen Bewegungsprinzipien nun wieder ihre „unregulierte“ Wirkungskraft entfalten können, lässt weitreichende Schlussfolgerungen auf den von Marx erkannten Charakter sozialer und ökonomischer Gesetze zu: Sie besitzen eine objektive Tendenz, ihre unmittelbare Wirkungsweise hängt jedoch von den konkreten Kräfteverhältnissen ab. So können Widerstandsaktionen der Arbeiterklasse ökonomische Entwicklungstendenzen abmildern, partiell sogar umlenken – oder eben, wie gegenwärtig, durch den Machtzuwachs des Kapitals, neue Prägekraft erhalten. Durch dieses Verständnis gesellschaftlicher Gesetze wird in plastischer Weise deutlich, in welch umfassendem Sinne die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie als Sozialwissenschaft konzipiert ist: Gesellschaftliche Zusammenhänge werden nicht nur ökonomisch analysiert, sondern auch ihre kulturellen, politischen und geistigen Vermittlungsformen immer mit im Blick behalten. Das Fundament Marxscher Gesellschaftskritik sind profilierte Vorstellungen über menschliche Lebensansprüche und Selbstverwirklichungsbedürfnisse. Seinem Denken ist die Maxime vorausgesetzt, „dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen“ ist. Daraus folgt der „kategorische Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Marx). Weil hartnäckige Gerüchte im Umlauf sind, die eine humanistische Selbstvergewisserung beim „reifen Marx“ als nicht mehr gegeben ansehen, soll nur auf jenen Satz aus dem „Kapital“ verwiesen werden, in dem die Frage gestellt wird, welche Gesellschaftsformation die der „menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen“ zu schaffen in der Lage ist. Erst durch diesen radikalen Theoriehorizont („Radikal sein, heiß die Sache bei der Wurzel fassen; die Wurzel für den Menschen aber ist der Mensch selbst“, heißt es bei Marx), also seiner menschenzentrierten Grundorientierung, begründet der Marxismus seine kritische Interpretationskompetenz, ist ihm überhaupt erst ein kompromissloses Verständnis des inhumanen Charakters der herrschenden sozialen Organisationsprinzipien ermöglicht. Nehmen wir die Arbeitslosigkeit als ein skandalöses Beispiel unter vielen: Es hat sich ja mittlerweile herumgesprochen, welch destruktive Konsequenzen sie für die Betroffen hat, dass sie psychisches Leid verursacht, den Menschen soziale Sicherheit raubt und ihr Selbstbewusstsein zerstört. Nicht nur die emotionale Widerstandskraft der Ausgegrenzten wird beschädigt, sondern auch ihre Gesundheit unterhöhlt: Bei Langzeitarbeitslosen beispielsweise ist die Sterblichkeitsrate 4 bis 5 Mal höher als bei beschäftigten Lohnabhängigen in den gleichen Altersgruppen.  

Negative Vergesellschaftung

Wird in umfassenden Sinne des Marxschen Analyseanspruchs nach den Hauptmerkmalen des gegenwärtigen Kapitalismus gefragt, so ist vor allen Dingen eine soziale Abwärtsbewegung, ein Sog nach unten zu benennen, der immer breitere Schichten erfasst. Diese Entwicklung ist das Resultat einer einseitigen Aufkündigung des „Klassenkompromisses“, die – wie der amerikanische Großspekulant Warren Buffet es genannt hat – Intensivierung des Kampfes gegen die Arbeiterklasse, in dem seine, also die Kapitalistenklasse, die Oberhand gewonnen hat. Der sichtbarste Ausdruck dieses Konfrontationskurses ist die Zunahme der sozialen Gegensätze, die Konzentration des gesellschaftlichen Reichtums in den Händen des herrschenden Blocks und die Zunahme der Bedürftigkeit in vielen Gesellschaftsbereichen. Verbunden mit diesem Klassenkampf von Oben ist die Neugliederung des klassengesellschaftlichen Gefüges: Es findet in Folge der neoliberalen Konterrevolution gegenwärtig eine Umgestaltung statt, bei der sich die Konturen eines dreigeteilten Gesellschaftskörpers herauskristallisieren. Einem gutsituierten knappen Bevölkerungsdrittel (das auch die herrschende Klasse und ihre Funktionseliten umfasst) und einem weiteren Drittel mit phasenweise auskömmlichen Lebens- und Arbeitsverhältnissen, das jedoch permanent von sozialer Zurückstufung bedroht ist, steht ein Restdrittel gegenüber, welches zur ökonomischen Dispositionsmasse degradiert ist und kaum noch Chancen besitzt, den Zonen der Bedürftigkeit und existenzieller Unsicherheit jemals entkommen zu können. Diesen Prozessen von Vermögenszuwächsen auf der einen und der Verarmung großer Bevölkerungsteile auf der anderen Seite liegt die Konzentration und Zentralisation des Kapitals im globalen Maßstab zugrunde. Eng damit verbunden ist eine Tendenz zu totaler Funktionalisierung des Menschen. Denn parallel zur Verabsolutierung und Totalisierung der profitwirtschaftlichen Sphären findet eine verwertungsorientierte „Formatierung“ der Menschen, ihre mentale und psychische (Selbst-)Instrumentalisierung statt. Wer unter den schwierig gewordenen Existenzbedingungen mithalten will, muss sich bedingungslos den herrschenden Disziplinmustern und einer lebensfeindlichen Zweckrationalität des „Marktes“ unterwerfen. Die Zahl, die dem beständigen Leistungsdruck nicht gewachsen ist, wächst rasch. Schon in den 90er Jahren litten fast 11 Prozent der BRD-Bürger an depressiven Störungen. Unübersehbar geworden sind auch die Anzeichen zivilisatorischer Rückentwicklungen: Geredet wird von Wissensgesellschaft, aber in der Bundesrepublik verfügen 20 Prozent der Schulabgänger kaum über elementare Rechen- und Lesefähigkeiten. Nicht nur die sogenannte Massenkultur ist von vordergründigen Effekten und insgesamt einem Hang zur Verdrängung der krisenhaften Existenzbedingungen geprägt. Kultureller „Standard“ ist ein resignatives Gegenwartsbewusstsein und die kollektive Unfähigkeit, gesellschaftliche Alternativen überhaupt noch wahrzunehmen. Nicht zuletzt durch die Kommerzialisierungsstrategien in den massenkulturellen Bereichen ist Phantasielosigkeit und Unwissenheit über die elementaren gesellschaftlichen Fragen zur verbreiteten „Norm“ geworden. Der Entwicklungstrend wird von den Zuständen in der kapitalistischen Hegemonialmacht vorgezeichnet: Fast zwei Drittel der Abgänger von US-amerikanischen Highschools können einen Leitartikel in einer beliebigen Zeitung nicht verstehen. Kaum 30 Prozent der US-Bürger besitzen auch nur elementare Kenntnisse über den Zusammenhang von Wirtschaftsmacht und ihren Lebensverhältnissen; dieses Unwissen kompensieren sie jedoch zu 70 Prozent mit dem Glauben an die Existenz von Engeln oder zu 50 Prozent mit der Überzeugung, dass es UFOs gäbe.  

Kapitalismusanalyse und Zivilisationskritik

Die Selbstzerstörungs-, Verelendungs-, aber auch sozio-kulturellen Verfallstendenzen lassen es ratsam erscheinen, Kapitalismuskritik auf das Marxsche Niveau zu heben: „In der Entwicklung der Produktivkräfte tritt eine Stufe ein, auf welcher Produktionskräfte und Verkehrsmittel hervorgerufen werden, welche unter den bestehenden Verhältnissen nur Unheil anrichten, welche keine Produktionskräfte mehr sind, sondern Destruktionskräfte.” Große Teile der Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts sind Ausdruck eines realkapitalistischen Selbstzerstörungszwangs. Nicht nur die beiden imperialistischen Weltkriege haben gezeigt, dass die kapitalistischen Eliten, um die  Reproduktionsfähigkeit „ihres“ Systems zu sichern, bereit sind, auch zivilisatorische Katastrophen billigend in Kauf zu nehmen. Ihre ideologischen Grundorientierungen und die sozialen Organisationsstrukturen des Gegenwartskapitalismus sind weit davon entfernt sicher zu stellen, „dass Auschwitz sich nicht wiederhole“ (Th. W. Adorno). Gegenwärtig setzt der imperialistische Block ohne Rücksicht auf Verlust wieder auf die militärische Option: Die intensivierten Ausbeutungs- und Hegemonialstrategien können trotz aller „Marktregulierung“ auf Gewalt und militärischen Interventionismus nicht verzichten. Der Irakkrieg ist nicht das Werk eines verrückten Präsidenten, sondern die Konsequenz strategischer Entscheidungen, die von einflussreichen Gruppen der US-amerikanischen Bourgeoisie auf der Basis systemischer Handlungszwänge verlangt werden: Es geht um Öl und die Sicherstellung ihrer Kapitalverwertungsstrategien. Es ist eben kein Zufall, dass die Rüstungsproduktion unaufhaltsam wächst und die weltweiten Konfliktherde zunehmen. Mit brachialer Gewalt werden wie zu Zeiten einer „ursprünglichen Akkumulation“ mit Mord und Totschlag weltweit die Privatisierungen ehemals öffentlicher Güter und Ressourcen durchgeführt. Tragischerweise ist es zutreffend: „Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß, 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf die Gefahr des Galgens.“ (K. Marx) Doch der Galgen droht der imperialistischen Elite gegenwärtig nicht. Parallel zu ihren neuen Raubzügen haben sie das Völkerrecht zertrümmert, für sich das Recht auf Krieg deklariert; die US-Administration hat die Folter institutionalisiert und ihre kriminellen Handlanger einer internationalen Gerichtsbarkeit entzogen. In diesem Zusammenhang wirkt übrigens die Auffassung wenig überzeugend, dass durch eine gemeinsame Interessenbasis, also durch einen sogenannten „Kollektiven Imperialismus“, die Möglichkeit von militärischen Konflikten auch zwischen den imperialen Hauptblöcken ausgeschlossen bliebe. Sicherlich, Kriege wären für einen Teil der transnationalen Konzerne geschäftsschädigend, jedoch darf nicht vergessen werden, dass auch Krieg ein Geschäft ist – und was für eins! Es gehört wenig Phantasie dazu, um zu prognostizieren, dass nicht zuletzt der Kampf um die knapper werdenden Ressourcen Konflikte auch zwischen den Hauptprotagonisten des imperialistischen Blocks provozieren wird, und in dieser Perspektive auch eine finale Katastrophe nicht mehr auszuschließen ist. Ein weiteres Charakteristikum des Gegenwartskapitalismus ist seine Fähigkeit, gerade durch seinen krisenhaften Charakter zumindest vorübergehend Anpassung und Unterwerfungsbereitschaft zu fördern: Durch die verbreitete Unsicherheit und die Angst vor dem Absturz werden die Krisenopfer eingeschüchtert und zur Übernahme kapitalismuskonformer Vorstellungen gepresst. Aufgrund der herrschen psycho-sozialen Regulationsformen verarbeiten sie ihre soziale Randständigkeit als Ausdruck eigenen Versagens und verhalten sich schamhaft-passiv. Die soziale Einschüchterung ist Teil einer neuartigen Herrschaftsform mit zeitweiligen Stabilisierungseffekten für das kapitalistische Gesellschaftssystem. Langfristig jedoch werden die sozio-kulturellen (Selbst)-Stabilisierungsmechanismen der bürgerlichen Gesellschaft beschädigt: hervorgerufen werden durch soziale Ausgrenzung und systematische Demütigung der Lohnabhängigen Desorientierungen und psychische Instabilitäten. Sie bedrohen das zivilisatorische Gleichgewicht, zumal die im Wirtschaftsleben prägend ge- wordenen Verdrängungsstrategien ebenfalls das soziale Klima negativ beeinflussen. Sie führen „innergesellschaftlich zu einem kaum noch zivilisatorisch eingehegten ‚Kriegs Jeder gegen jeden’“ und einer ‚Kultur des Hasses’ (Hobsbawm), die den Nährboden für kollektive und individuelle Formen der Gewalt abgeben.“ (G. Eisenberg) Zu charakteristischen Momenten des gegenwärtigen Kapitalismus gehört auch, dass seine Eliten keine überzeugenden Alternativen und Perspektiven mehr anzubieten haben. Sie verfügen über keine zukunftsfähige Gestaltungskompetenz, und zwar auch deshalb, weil jede ernsthafte Problemdefinition die Legitimität und Zukunftsfähigkeit der herrschenden Organisationsmuster von Wirtschaft und Gesellschaft in Frage stellen würde. Die Machteliten lassen deshalb die Probleme gar nicht mehr an sich heran kommen. Diese Ignoranz funktioniert relativ reibungslos, weil sie sich schon lange von der „Mehrheitsgesellschaft“, ihren Erfahrungen, Nöten und Lebensansprüchen verabschiedet haben. Immerhin ist jedoch auch in der BRD eine Bevölkerungsmehrheit nicht mehr davon überzeugt, dass die „Marktwirtschaft“ und ihre Repräsentanten auch nur noch die drängendsten Probleme in den Griff bekommen könnten. Ihnen ist nicht verborgen geblieben, dass die Entwicklungsbewegungen des Kapitalismus einen prinzipiell krisenhaften Charakter angenommen und ihre persönlichen Zukunftsperspektiven sich verdunkelt haben.

Ökonomie der Bedürftigkeit

Bei der Beschreibung des desaströsen Weltzustandes herrscht in den linken – und keineswegs nur in den marxistischen – Diskussionen weitgehende Übereinstimmung. Deutlich auseinander gehen die Meinungen jedoch darüber, ob die angedeuteten Entwicklungen Ausdruck eines sich verfestigenden Krisenstadiums sind oder es sich um zeitweilige Zuspitzungen handelt, sodass eine neue Phase eines „zivilisierten Kapitalismus“ (wenn auch auf einem etwas niedrigeren sozialstaatlichen Kompromissniveau) durchaus denkbar wäre. Solche Illusionen nähren sich auch aus der Tatsache, dass die meisten aktuellen Kapitalismusanalysen weit hinter den Erfordernissen subtiler Gesellschaftskritik zurückbleiben. Die Beschäftigung kommt oft über die bloße Beschreibung der Bewegungsformen des Kapitalismus und der Beschäftigung mit den Symptomen seiner Widerspruchsentwicklung nicht hinaus. Bedeutungsvoll wird beispielsweise über einen „finanzgetriebenen Kapitalismus“ geredet, ohne dass ausreichend thematisiert wird, was dessen Ursachen sind und in welchem Sinne sie als Antwort auf ernsthafte Probleme der Kapitalverwertung begriffen werden müssen. Schon die naheliegendsten Fragen bleiben unbeantwortet: Wie ist es zu erklären, dass trotz ungehemmter Reichtumsvermehrung Armut und Bedürftigkeit sich ausdehnen? In einem gewissen Sinne ist es tatsächlich so, dass der Massenwohlstand sinkt, weil es aus Kapital-Perspektive weniger zu verteilen gibt. Denn zur Aufrechterhaltung und Reproduktion des Kapitalverhältnisses muss mittlerweile ein beständig steigender Teil des Sozialprodukts aufgewandt werden. Es können an dieser Stelle nur die wichtigsten Aspekte stichwortartig benannt werden: Immer mehr Ressourcen werden beispielsweise durch zugespitzte Wettbewerbskonstellationen verschwendet. Den zentralen Aspekt dieser Dynamik der Wohlstandsreduktion hat Marx mit dem Gesetz eines tendenziellen Falls der Profitrate beschrieben: Konkurrenzbedingt existiert ein Wettlauf um die Erneuerung der Produktionsmittel. Immer öfter muss neues Kapital bereit gestellt werden, ohne dass die vorherigen Investitionen ihren „optimalen“ Ertrag erbracht hätten. Das Kapital kann unter diesen Bedingungen seine Profite nur durch den Druck auf die Einkommen, durch die nachhaltige Reduzierung der Lohnquote (der Anteil der abhängig Beschäftigten am Sozialprodukt reduzierte sich alleine in dem relativ kurzen Zeitraum von 2000 bis 2006 um über 10 Prozent!) sichern. Der Angriff auf den Lebensstandard der Arbeiterklasse ist (wieder) zu einem wesentlichen Bestandteil des Akkumulationsprozesses geworden. Auch die Profitrealisierung gestaltet sich angesichts von Überproduktionstendenzen immer schwieriger. Gewaltige Summen müssen für Design, Produktentwicklung und Werbung ausgegeben werden. Ein Kapitel für sich ist die ausufernde Finanzsphäre, die sowohl für den reibungslosen Kapitalfluss innerhalb eines grenzenlos gewordenen und sich beschleunigenden Verwertungskreislaufs sorgt, jedoch gleichzeitig die Zirkulation von Kapitalüberhängen gewährleistet, die temporär nicht mehr profitabel investiert werden können. Für ihre „Dienstleistungen“ beanspruchen die Finanzjongleure zunehmende Teile der Mehrwertmasse, die an anderer Stelle, beispielsweise für die Lohnfonds, fehlen. Diese skizzenhafte Auflistung soll nicht abgeschlossen werden, ohne zu erwähnen, dass die globale Durchsetzung kapitalistischer Prinzipien mit einer ungehemmten Aufrüstung einher geht, finanziert durch die Vernachlässigung wichtiger Gesellschaftsaufgaben. Auch die Schäden, die durch die systematische Rücksichtslosigkeit gegenüber den Menschen und der Natur entstehen, können nur noch mit steigendem Aufwand und auf Kosten des Sozialprodukts beseitigt werden.  

Theorie der Weltveränderung

Wenn wir Marx als Theoretiker umwälzender Praxis gerecht werden wollen, kann nicht verschwiegen werden, dass er sich auch falsche Vorstellungen, vornehmlich über die Stabilität und Widerstandsfähigkeit des Kapitalismus gemacht hat. Schon bei der ersten Weltmarktkrise 1857 sah er das Ende des Kapitalismus nahen. Bei Ausbruch der erwarteten proletarischen Revolution wollte er deshalb nicht unvorbereitet sein: Wenn es nun mit der bürgerlichen Herrschaft zu Ende gehe, so wollte Marx doch noch rasch dokumentieren, dass er diese Entwicklung prognostiziert hatte. Am 8. Dezember 1857 teilte er deshalb Friedrich Engels mit: „Ich arbeite wie toll die Nächte durch an der Zusammenfassung meiner ökonomischen Studien, damit ich wenigstens die ‚Grundrisse’ im Klaren habe“, bevor die „Sintflut“ kommt. Auch Engels sah eine neue Epoche heraufziehen. Er schrieb an Marx in den gleichen Wochen: „1848 sagten wir: jetzt kommt unsere Zeit, und sie kam in einem eingeschränkten Sinn, diesmal aber kommt sie vollständig, jetzt geht es um den Kopf.“ Auch Engels intensivierte seine theoretische Arbeit, jedoch nicht wie Marx, um seine Prognosefähigkeit zu demonstrieren, sondern in unmittelbar praktischer Absicht: Der alte, in den 48-er Revolutionskämpfen erprobte Haudegen bemühte sich, seine „Militärstudien“ zu komplettieren, denn man würde sie, wie er meinte, im „Krawalljahr 1858“ gut gebrauchen können. Diese revolutionären Hoffnungen haben sich nicht erfüllt, wie so viele weitere auch nicht. Aber dennoch: Der Kapitalismus hat in den folgenden Jahrzehnten Federn lassen und Kompromisse machen müssen. Zumindest zeitweilig ist ihm sogar die Kontrolle über große Teile des Erdballs entrissen worden: Es gab Entwicklungen, die zu Recht den Eindruck eines Aufbruchs in eine neue Epoche erweckten. Aber das kapitalistische System ist wie Phönix der Asche entstiegen. Jedoch währte der Glanz seines Sieges in der Systemkonfrontation nicht lange: Der global gewordene Kapitalismus scheint heute noch weniger zukunftsfähig zu sein als in den letzten hundert Jahren. Und die Notwendigkeit an seiner Überwindung zu arbeiten ist – um des zivilisatorischen Überlebens der Menschheit willen – sogar noch größer geworden. Denn nichts ist aktueller und drängender als die Infragestellung einer sozial-destruktiven Gesellschaftsformation, die ihre notwendige Abschaffung überlebt hat. - - - (Überarbeitete Fassung eines Referats auf der von der Marx-Engels-Stiftung gemeinsam mit der jungen Welt und der UZ am 15. März 2008 in München organisierten Tagung anlässlich des 125. Todestages von Karl Marx. Die Beiträge der Veranstaltung werden unter dem Titel „Marx aktuell“ veröffentlicht.)

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