The great wake-up call

"1968" aus postkolonialistischer Perspektive II

in (23.02.2008)

Am 17. Januar 1961 wurde Patrice Lumumba ermordet. Der erste Ministerpräsident des von Belgien unabhängigen Kongo, dessen Name heute vor allem als kakaohaltiger Cocktail ins kollektive Gedächtnis

westlicher ClubbesucherInnen eingeschrieben ist, galt als Hoffnungsträger der antikolonialen Befreiungsbewegungen. In den Mord verwickelt war nicht nur der CIA und die belgische Ex-Kolonialmacht, sondern auch sein Nachfolger als Ministerpräsident, Moise Tschombé. Als dieser im Dezember 1964 auf Staatsbesuch in die Bundesrepublik Deutschland kam, gab es an verschiedenen Orten Proteste gegen den "Lumumba-Mörder". Koordiniert wurden sie u. a. von KünstlerInnen und AktivistInnen der situationistischen Subversiven Aktion. Mitglieder der Subversiven Aktion waren im gleichen Jahr in verschiedenen Städten in den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) eingetreten, um diesen zu einer aktivistischeren Politik zu drängen. Die Anti-Tschombé-Proteste waren ein erster Erfolg dieser Linie. Rudi Dutschke, selbst Teil der Subversiven Aktion, nannte die Demonstrationen gegen Tschombé später den "Beginn unserer Kulturrevolution".

Die Situation an den Hochschulen und die Abgrenzung von den Verstrickungen der Eltern und Großeltern in den Nationalsozialismus waren also keineswegs die einzigen Ausgangspunkte der bundesdeutschen "68er Jahre". Die Wahrnehmung von "1968" als vornehmlich westliches, aus innergesellschaftlichen Konflikten hervorgegangenes Phänomen, das hauptsächlich durch ein studentisches Milieu geprägt war, bedarf der Revision. Denn die Neue Linke in Europa, schreibt Mark Kurlansky in seinem Buch zum year that rocked the world, "hatte sich um das Thema Antikolonialismus gegründet." Bezugnahmen auf antikoloniale Kämpfe äußerten sich nicht nur in expliziter Solidarisierung wie bei den Tschombé-Protesten oder später in jenen gegen den Schah von Persien. Diese negative Klammer, gegen einen als gemeinsam ausgemachten Feind zu agieren, ist zwar als Bewegungsmotivation nicht zu unterschätzen und fand ihren wohl deutlichsten Ausdruck in der alle damaligen Bewegungen verbindenden Ablehnung des von den USA geführten Vietnam-Krieges.
Die antikolonialen Kämpfe zeitigten zudem auch implizite Effekte. Diese bestanden nicht nur in negativer Abgrenzung, sondern beflügelten die Protestbewegungen von Berkeley bis Westberlin von den Motivlagen bis zu ihren Aktions- und Handlungsweisen. Die Neue Linke ist letztlich ohne das utopische, antikoloniale Befreiungsmotiv aus der Peripherie kaum denkbar.

Kein neuer Internationalismus ohne Die verdammten dieser Erde (Fanon)

Selten untersucht worden sind zum Beispiel die Effekte der algerischen Revolution (1954-1962). Dabei wurde das Buch, das der Sprecher der algerischen Nationalen Befreiungsfront (FLN), Frantz Fanon, in seinem Todesjahr veröffentlichte, zu einem Klassiker antikolonialer und antiimperialistischer Bewegungen: Die verdammten dieser Erde. Die Kolonisierten im weitesten Sinne wurden zum Subjekt eines erneuerten, nicht mehr nur proletarisch gedachten Internationalismus. Aber auch die in der schwarzen US-Bürgerrechtsbewegung aufgekommene Idee, für den "Aufbau eines afrikanischen kulturellen Bewusstseins" zu kämpfen, ist offensichtlich ohne den Bezug auf die afrikanische antikoloniale Befreiung undenkbar. Dieser separatistische Strang setzte sich laut Bewegungschronist Clayborne Carson ab 1966 im Student Nonviolent Coordinating Comittee (SNCC) durch, einer der wichtigsten Organisationen der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Die Bürgerrechtsbewegung wiederum war auch für die bildende Kunst der 1960er Jahre, wie die Kritikerin Lucy Lippard betont, "the great wake-up call".

Keine "Guerilla-Mentalität" (Dutschke/Krahl) ohne Che Guevaras Fokus-Theorie

Ein zweiter, häufig vernachlässigter Referenzpunkt ist die kubanische Revolution. In einer Rede im Juli 1960 widmet sich Ernesto Che Guevara deren Erfolgen und Aufgaben. Eines der wesentlichen Ergebnisse dabei war, auch und gerade im Hinblick auf andere revolutionäre Bewegungen, die schlichte Erkenntnis: "Der Sieg ist möglich." Auch wenn Guevara mit der Einschätzung fatal daneben lag, die konkrete Situation des prärevolutionären Kubas ließe sich auf ganz Lateinamerika (und weiter noch) verallgemeinern, so gehörte es doch zum festen Bestandteil des 68er-Glaubensuniversums, dass eine erfolgreiche Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse möglich wäre: "Geschichte ist machbar" (Dutschke). Die noch 1967 von Guevara ausgegebene Parole, "zwei, drei, viele Vietnam", also diverse Brennpunkte des antiimperialistischen Kampfes zu schaffen, inspirierte einerseits die Verschärfung subversiver Strategien. So forderten beispielsweise Dutschke und Hans-Jürgen Krahl in ihrem Organisationsreferat eine aktivistische "Guerilla-Mentalität". Andererseits wirkte sie aber auch auf die Gründung und Ausweitung tatsächlicher linker Guerillas. Seit 1963 kämpfte in Uruguay bereits die Stadtguerilla Tupamaros. Die Guerilla, die der Künstler und Theoretiker Luis Camnitzer als entscheidenden Referenzpunkt der lateinamerikanischen Konzeptkunst ausmacht, stellte sich bereits per Namen in den Kontext antikolonialer Kämpfe: Tupac Amaru II. hatte als Rebellenführer im 18. Jahrhundert im heutigen Peru gegen die spanische Kolonialmacht gekämpft.

Dieser Artikel erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, "zwei, drei, vieleÂ… achtundsechzig", Wien, Frühjahr 2008.