Sexarbeit und weibliche Migration
Prostitution - weibliche Migrationsstrategie oder Frauenhandel? Das Beispiel der Sexarbeit in der US-amerikanisch-mexikanischen Grenzstadt Tijuana zeigt, wie schwierig die Abgrenzung ist.
Die Migrationsforschung beschäftigt sich erst seit den 1990er Jahren mit Frauen in der Migration. Früher wurden sie meist als Anhängsel von männlichen Arbeitsmigranten betrachtet. Erst in den letzten Jahren werden sie als unabhängige Akteurinnen im Migrationsprozess ‚entdeckt‘. Dabei war laut UN-Berichten schon lange knapp die Hälfte der internationalen MigrantInnen Frauen.
Den Traum wahr machen
Migrantinnen ohne Papiere erhalten in Europa kaum eine qualifizierte Arbeit. Ihre einzige Möglichkeit, Arbeit zu finden, liegt im informellen Dienstleistungsbereich. Der weitgehend unregulierte Dienstleistungssektor bietet Arbeit etwa in der Kinder- und Altenpflege, in der Hausarbeit, im Tourismus und in der Kundenbetreuung. Die Soziologin Saskia Sassen fasst dies unter ‚emotionaler Arbeit‘ zusammen. Frauen haben durch ihre Sozialisation gelernt, zu geben, zu pflegen, zu sorgen, zuzuhören, einfühlsam zu sein, Empathie zu empfinden. Alle diese Fähigkeiten werden im Dienstleistungssektor gefordert - auch in der professionellen Sexarbeit.
Migrantinnen, die sexuelle Dienstleistungen anbieten, betonen oft, dass sie schnell viel Geld verdienen, unabhängig sein, einen fremden kulturellen Kontext kennen lernen und eine Vergangenheit zurück lassen wollen, die ihnen keine Perspektiven versprach. Die Sexindustrie zieht sie an, aufgrund des Geldes, das hier in Kürze verdient werden kann, und der Informalität, die einen spontanen Einstieg - ohne Vorkenntnisse - möglich macht.
Die Grenze zwischen dem individuellen Migrationsprojekt einer Frau und Frauenhandel ist oft schwer zu ziehen. Daten zum Thema Frauenhandel sind fragwürdig, da Begriffe unterschiedlich definiert sind. Es besteht Uneinigkeit über grundlegende Themen wie freier Wille, Einverständnis und Wahlmöglichkeit, die oft mit unterschiedlichen Bedeutungen belegt werden. Unklar bleibt auch, in welchem Ausmaß Menschen, die mit gefälschten Papieren reisen, wissen und ‚wählen‘, was sie erwartet: Haben sie die Bedeutung dieser Papiere verstanden? Verstehen sie die Verträge? Welche Mittlerrolle haben Verwandte oder Eltern bei einer Migrationsvereinbarung?
Weibliche Körper als Frachtgut
Frauen reisen um den Globus, um in der globalisierten Sexindustrie zu arbeiten. Sie migrieren in großer Zahl von Manila nach Nigeria, von Burma nach Thailand, von Bulgarien nach Europa: Weibliche Körper befinden sich im Fluss des globalen Kapitalismus. Weibliche Körper sind ein Frachtgut und stellen hochlukrative Transaktionen dar, die über nationale Grenzen hinweg vollzogen werden. Es gibt zahlreiche strukturelle und politische Gründe, welche Frauen dazu bewegen zu migrieren und in das kommerzielle Sexgewerbe einer globalisierten Industrie einzusteigen. Allerdings ist es nicht einfach, eine moralische Unterscheidung zu treffen zwischen ‚gehandelten‘ Frauen und Frauen, die sich die Sexindustrie als Ort des Einkommenserwerbs ausgewählt haben. Es existiert eine große Grauzone, die Frauen unterschiedliche Handlungsspielräume innerhalb der kommerziellen Sexarbeit bietet.
Die Sexindustrie ist lukrativ für Menschen, die mobil sein, das schnelle Geld machen wollen und nach neuen Erfahrungen suchen. An verschiedenen Orten unserer globalisierten Welt sind Netzwerke von informierten Personen entstanden, die den Einstieg in das kommerzielle Sexgewerbe ermöglichen: Autobahnhotels an der spanisch-portugiesischen Grenze, Bordelle in der gigantischen Agrarzone von Andalusien, Nachtclubs in den Tourismusvierteln von Tijuana (siehe Infokasten), Tokio und Bangkok oder in den Strandbars von Ibiza, Recife und Mallorca. Migrantinnen sind auf vertrauenswürdige InformantInnen angewiesen, die ihnen eine erfolgreiche Reise und Ankunft ermöglichen und im Zielland Sicherheit und Arbeit verschaffen. Informationen und Kontakte sind der Schlüssel zur erfolgreichen Migration. Die Frauen wissen um die Wichtigkeit von Migrationsnetzwerken. Einige dieser Netzwerke sind Teil von größeren kriminellen Zusammenschlüssen. In anderen dagegen erhöhen Menschen wie Taxifahrer, Hausfrauen und Restaurantbesitzer ihr eigenes Einkommen, indem sie Informationen weiterreichen.
Einwanderungsgesetze gefährden Frauen
Tatsächlich sind die Immigrationsgesetze ausschlaggebend für den sozialen und politischen Ausschluss von MigrantInnen und damit für deren Verletzbarkeit und Gewalterfahrungen im Migrationsprozess. In der Diskussion um Frauenhandel versus weibliche Migrationsstrategien werden aber häufig stereotype Erzählungen von Weiblichkeit und Männlichkeit reproduziert. Die Schemata von Opfern und Kriminalität sind eine gegenwärtige Fiktion, die über die Asymmetrie von Machtbeziehungen innerhalb der Migrationsprozesse hinweg täuschen. Erzählungen von sexarbeitenden Migrantinnen belegen, dass die Netzwerke von Frauenhändlern oft das einzige Mittel waren, um ihnen die informelle Arbeitsmigration zu ermöglichen.
Anstatt strengerer Grenzkontrollen, um Frauenhandel vorzubeugen, benötigen wir progressive Ansätze, welche die Nord-Süd- und West-Ost-Grenzen allmählich porös werden lassen. Wir brauchen temporäre Arbeitsvisa für Frauen in der Sexindustrie, um diesen unregulierten Arbeitssektor transparenter und sicherer zu machen. Für viele Frauen, die in der globalen Sexindustrie beschäftigt sind, ist ihre Arbeit Teil eines Projekts, mit dem sie sich aus Armut, Arbeitslosigkeit oder einer stagnierenden Lebenssituation herausholen wollen. Sie kämpfen gegen verlorenes Selbstvertrauen oder Misshandlung in der Familie und streben danach, ihrem Leben neue Perspektiven zu eröffnen, wie etwa unterbrochene Bildung nachzuholen.
Westliche Rechtssysteme klassifizieren MigrantInnen als Nicht-Staatsangehörige. Ohne die notwendigen Papiere können MigrantInnen verhaftet und deportiert werden. Die Angst davor, von der Polizei gefangen genommen und ins Herkunftsland abgeschoben zu werden, erhöht ihre Abhängigkeit von Vermittlern und trägt zu den harten Arbeitsbedingungen der Migrantinnen im globalisierten Sexgewerbe bei.
Die eigene Zukunft selbst gestalten
Studien haben gezeigt, dass viele Migrantinnen, die sexuelle Dienstleistungen verkaufen, wussten, dass ihre Arbeit einen sexuellen Aspekt beinhalten würde. Allerdings ist es schwierig, wenn nicht unmöglich im Voraus zu wissen, wie sich die Arbeitsbedingungen anfühlen werden. Die Sexjobs, die sie eventuell schon vor ihrer Emigration ausgeübt haben, haben oft wenig gemein mit der Arbeit, die sie in ihrem Zielland schließlich ausüben. Oft sind sich Migrantinnen nicht über die Länge ihrer Arbeitstage im Klaren oder über die Anzahl der Kunden, die sie in einem gewissen Zeitraum zu bedienen haben. Manche Täuschungen sind schwerwiegend, etwa wenn sie einen Vertrag unterzeichnen mussten, ohne zu wissen, dass damit umfangreiche Überwachung und Freiheitseinschränkung verbunden sind. Ebenso wenn bei der Unterzeichnung nicht klar war, wie viel die ausländische Währung eigentlich wert ist oder der Vertrag in einer fremden Sprache verfasst war.
Für Migrantinnen ist es schwer, im Vorfeld die Angaben der Vermittler, die ihnen falsche Papiere besorgen, zu überprüfen. Diese Unwissenheit macht sie im Zielland besonders verletzlich. Allzu oft sind die Agenten zugleich Familienmitglieder oder Freunde der Ausreisewilligen. Einige ziehen enormen Nutzen aus dieser Situation. Sie halten persönliche Dokumente zurück und bedrohen die Migrantinnen und deren Familien. Andere nutzen weniger offensichtliche Taktiken und setzen auf die psychologische Abhängigkeit der Neuankömmlinge und ihre anfängliche Desorientiertheit an einem unbekannten Ort.
Studien zu migrantischer Sexarbeit haben gezeigt, dass sogar wenn Migrantinnen erklären, sie seien getäuscht worden, sie sich gewöhnlich über die vorherrschenden Arbeitsbedingungen beschweren, aber nicht über den sexuellen Aspekt ihrer Arbeit per se. Häufig bevorzugen sie es, aufgrund des großen Verdienstes in der Sexindustrie zu bleiben, allerdings nur unter weniger ausbeuterischen Konditionen. Ihre Schulden in möglichst kurzer Zeit zurückzuzahlen ist das primäre Ziel fast aller Migrantinnen. Die Erzählungen von vielen Sexarbeiterinnen machen deutlich, dass ihr Fokus pragmatisch und auf die Zukunft gerichtet ist. Sie wollen nicht als hilflose Opfer von strukturellen Verhältnissen gesehen werden, sondern als selbständige Akteurinnen und Gestalterinnen einer selbst bestimmten Zukunft.
Grenzraum Tijuana: zwischen Sextourismus und Migration
Bei flüchtigem Hinsehen wirkt der Grenzübergang San Ysidro porös. PendlerInnen aus Mexiko überqueren täglich die Grenze, um ihre Arbeitsplätze in San Diego aufzusuchen. Tausende von amerikanischen TouristInnen strömen Tag und Nacht in die Avenida Revolución, Tijuanas berühmteste Konsumstraße. Die Avenida Revolución schafft den Spagat zwischen dezenter Familienunterhaltung und professionellem Sexbusiness. Dennoch kann die Grenzzone keineswegs als durchlässig bezeichnet werden. Tijuana ist nach wie vor das Tor zum Norden für privilegierte mexikanische BürgerInnen. MigrantInnen ohne Dokumente dagegen setzen sich beim Grenzübertritt großen Gefahren aus.
Für viele MigrantInnen, die angezogen von Arbeitsversprechen der transnationalen Unternehmen nach Tijuana kommen, stellt die Grenze ein unüberwindbares Hindernis dar. Häufig realisieren MigrantInnen aus dem Süden Mexikos erst bei ihrer Ankunft, dass sie nicht über die notwendige Ausbildung oder Arbeitserfahrung verfügen, die es ihnen ermöglicht, von transnationalen Unternehmen eingestellt zu werden. Oder sie sind Opfer der ‚hire and fireÂ’-Politik der transnationalen Giganten, denen ein Heer von ArbeiterInnen zur Verfügung steht. Unqualifizierten Frauen bleibt oft nur der Einstieg in den unteren Dienstleistungssektor, vorwiegend im Tourismus, in den zahlreichen Hotels, Cafés, Restaurants oder Nachtclubs. Sie betrachten Sexarbeit in Tijuana oft als eine - temporäre - Option, um nicht in ihre Heimat zurückkehren zu müssen.
Die Sexindustrie in Tijuana bietet einige Vorteile: Sie funktioniert informell, ist gut organisiert, bietet Frauen Gelegenheit unabhängig und ohne Zuhälter zu arbeiten, und es gibt Zugang zu medizinischer Versorgung (zumindest für diejenigen, die es sich leisten können). Prostitution ist in der mexikanischen Grenzstadt legal, was sogar Kolleginnen aus dem amerikanischen Norden anzieht, um in der zona norte, wie Tijuanas Rotlichtbezirk genannt wird, zu arbeiten. Die Arbeit birgt für viele Sexarbeiterinnen die Hoffnung, grenzüberschreitende Kontakte zu schmieden.
Susanne Hofmann ist Doktorandin in Lateinamerikanischer Kulturwissenschaft an der Universität Manchester und Aktivistin im noborder-Netzwerk San Diego, Berlin und Manchester.