Einen Augenblick Geduld

in (10.08.2007)

Ein Päckchen, in Hannover am 17. Juli aufgegeben, erhalte ich in Berlin am 4. August. Den Inhalt hätte ich am 20. Juli gebraucht. Die Versandfirma, aus der Post

ausgegliedert, gibt keine Gründe an und bittet nicht um Entschuldigung. Aber wir kennen ja die Gründe: Überlastung. Keine Leute.

Ich brauche ein Taxi, um den Intercity zu erreichen. Die Zentrale teilt mir per Tonband mit, das ich mich gedulden möge. Sie teilt es mir ein zweites, ein drittes Mal mit, in regelmäßigen Abständen nochmals und nochmals. Je öfter ich die Mitteilung höre, desto härter wird die Geduldsprobe. Das Taxi-Unternehmen müßte in der Telefonzentrale mehr Leute einstellen. Aber bekanntlich muß über-all gespart werden - und dazu dient der automatische Anrufbeantworter. Wenn sich schließlich doch jemand meldet, möchte man ihn oder sie - meist ist es eine Frau - beschimpfen, aber das wäre unsinnig. Sie kann nichts dafür. Sie ist überlastet, überfordert.

Im U-Bahnhof funktioniert der Fahrscheinautomat nicht. Am anderen Ende des Bahnsteigs steht noch einer, drei Leute warten davor. Ein Ortsfremder quält sich mit der Bedienungsanleitung. Wir helfen ihm. Bis ich an der Reihe bin, ist die Bahn, mit der ich fahren wollte, längst ohne mich gefahren. Früher saß am Eingang der Station ein Fahrscheinverkäufer - meist eine Verkäuferin. Man sagte, was man wünschte, reichte Geld hin, bekam den Fahrschein und vielleicht noch ein Scherzwort mit auf die Fahrt; das dauerte wenige Sekunden. So schnell wird man von keinem Automaten bedient.
Die Dienstleistungsgesellschaft war uns verheißen. Wo bleibt sie? Früher gab es auf Bahnsteigen und in Ämtern Auskunftspersonal - Menschen, die ihren beruflichen Ehrgeiz daran setzten, Bescheid zu wissen und schnell helfen zu können. Sie sind weggespart. Bestenfalls findet man eine Telefonnummer für Anfragen: die Nummer eines Call-Centers, irgendwo, weit weg. Vom Band hört man: Alle Abfrageplätze sind belegt, bitte haben Sie einen Augenblick Geduld. Einen Augenblick Geduld. Einen Augenblick Geduld. Wenn sich doch irgendwann von irgendwo jemand meldet, ist er so weit weg, daß er nichts Konkretes weiß. Aber er tut so, als hätte alles seine Richtigkeit. Das ist sein Job. Er weiß nicht einmal, wer verantwortlich ist. Die Verantwortlichen sind unerreichbar geworden.

Krankenhaus. Notaufnahme. Stundenlanges Warten. Warum? Wir kennen die Gründe: Überlastung. Keine Leute. Weggespart. Für die ganze Station gibt es nur noch eine einzige Schwester. Vor dem chirurgischen Eingriff wird die Patientin losgeschickt: "Gehen Sie in den Keller, dann links, immer geradeaus. Wo ›Anästhesie‹ steht, holen Sie sich Ihre Narkose und kommen dann hierher zurück!" Früher wurde man von einem Pfleger begleitet. Weggespart. Die Klinik gehört jetzt irgendeinem fernen Investor. Für ihn muß sie sich rentieren.

In dem Film "Du bist nicht allein" von Bernd Böhlich mit Katharina Thalbach, Axel Prahl und in einer witzigen Nebenrolle Jürgen Holtz - unbedingt hingehen! - sehen wir einen arbeitslosen Physiker (Werner Knaup) im Arbeitsamt warten, Stunden über Stunden. Als er schließlich aufgerufen ist und eben vor der für ihn zuständigen "Sachbearbeiterin" Platz genommen hat, sagt sie zu ihrem Kollegen, der mit ihr essen gehen will: Ja, es dauere nicht mehr lange. Und sie kann gar nicht verstehen, daß der Arbeitssuchende, dem sie doch gar keine passende Arbeit zu bieten hat, ausrastet.

Eine Gesellschaft verurteilt sich zum Warten. Worauf?