Dynamische Körper

Anne Fausto-Sterling spricht im Interview über einen unübersichtlichen Hormonstatus, die Unmöglichkeit einer verlässlichen Geschlechtsbestimmung und die unausweichliche Veränderung unserer Körpe

an.schläge: Wenn man essenzialistischen Positionen Glauben schenkt, sind Hormone zentral in der Definition dessen, was Geschlecht ist. Kann man das Geschlecht einer Person mithilfe der Hormone in einer Blutprobe bestimmen? Könnten Sie generell etwas zu den Methoden der Geschlechtsbestimmung sagen?

Anne Fausto-Sterling: Es gibt keine guten Methoden, um das Geschlecht einer Person zu testen. In der Medizin ist es weithin anerkannt - und das seit vielen, vielen Jahren -, dass man Geschlecht auf einer Reihe verschiedener Niveaus messen kann. Und diese Niveaus passen nicht immer zusammen. Traditionellerweise gibt es die Definition vom chromosomalen Geschlecht: XX oder XY, wenn wir von Menschen sprechen. Und das kann, muss aber nicht in Übereinstimmung sein mit dem hormonalen Geschlecht.
Aber auch das hormonale Geschlecht selbst beinhaltet mehrere Unterkategorien - es gibt die Hormone der fötalen Entwicklung, dann gibt es die Hormone der Adoleszenz und des Erwachsenenalters und es gibt die Hormone des Alters. Und obendrein haben wir die Tatsache, dass Hormone von Tag zu Tag ganz schön schwanken. Und natürlich gibt es bei Frauen ab einem gewissen Alter einen monatlichen Zyklus von Hormonen. Hormone sind also nicht ein fixes Ding im Körper. Dazu kommt, dass Hormone auf äußerliche Erfahrungen reagieren. So gibt es zum Beispiel die so genannte Fluchtreaktion. Etwas Furchterregendes passiert und die Nebennieren scheiden eine große Menge an Steroid-Hormonen aus, von denen das bekannteste Adrenalin ist, das die gesamte Physiologie sofort verändert. Man fängt zu zittern an, man kann schneller laufen als man je gedacht hätte.
Die Hormonproduktion ist also immer in einer Art Gleichgewicht mit dem Kontext, mit der Umwelt. Alle diese Dinge wirken aufeinander ein. Es gibt sozusagen natürliche tägliche Einflüsse und Veränderungen, es gibt monatliche Veränderungen und es gibt, was auch immer die individuelle Variabilität in der Hormonproduktion von einem Menschen zum anderen ist - und diese ist mit Sicherheit groß. Der Hormonspiegel kann von Aktivitäten in den Nebennieren niedrig gehalten werden, es sind also nicht die Geschlechtsdrüsenhormone, sondern die Nebennierenhormone. Diese wiederum sind verbunden mit und kontrolliert von Kontrollsystemen im Gehirn, man hat also eigentlich ein komplexes System von Molekülen. Diese sind immer in einem sehr dynamischen Gleichgewicht. Es macht demnach keinen Sinn zu sagen, man nimmt Blutproben und man weiß sonst nichts und bestimmt irgendwie das Geschlecht einer Person.
Das internationale olympische Komitee kämpft damit seit Jahren, wie sie einen angemessenen, wissenschaftlich fundierten Geschlechtstest machen sollen. Eine Weile lang haben sie geglaubt, dass sie es mithilfe einer offiziellen Inspektion der Genitalien tun können, dann haben sie geglaubt, es gehe mit den Chromosomen, aber keine dieser Methoden funktioniert wirklich in allen Fällen. Und ich glaube, im Moment haben sie es aufgegeben, Geschlechtsbestimmungen regelmäßig durchzuführen.

Es gibt eine wachsende Bewegung von Transgender Personen, die für sich das Recht einfordern, kein eindeutiges Geschlecht zu sein. Wie kann die zunehmende Sichtbarkeit von Transgender das Konzept der binären Geschlechter destabilisieren?

Ich denke, die Transgender-Bewegung macht zwei Dinge auf einmal, die völlig widersprüchlich sind. Zum einen destabilisiert sie die Binarität, verschiebt die Grenzen, vor allem unter Transgender Personen, die sich für ein Leben in dieser Art Zwischenstadium von Transgender-Existenz entscheiden statt für eine komplette Umwandlung. Zum anderen re-etabliert sie die Binarität, weil die dominante Erzählung der Transgender-Bewegung jene ist, dass es sich um Personen handelt, die im falschen Körper geboren sind. Das impliziert, dass es immer einen richtigen Körper gibt, um darin zu leben, und das ist entweder ein männlicher oder ein weiblicher Körper. Und was medizinisch gesehen mit Transgender Personen falsch ist, ist, dass die Seele oder der Geist im falschen Körper ist und was man medizinisch tun muss, um die Person zu behandeln, ist den Körper in Ordnung bringen, ihn in die andere Kategorie verwandeln. Diese Version von Transgenderismus, diese Erzählung vom Geborensein im falschen Körper, re-etabliert die Geschlechterdichotomie und destabilisiert sie meiner Meinung nach nicht. Aber ich glaube, die breitere Transgender-Bewegung von Menschen, die wirklich in uneindeutigen Körpern leben hat einen destabilisierenden Effekt auf die Geschlechterdichotomie. Leute also, die sich für Körper entscheiden, die man auf den ersten Blick nicht einordnen kann. Diese Entscheidung irgendwo im Dazwischen zu leben, ruft auch sehr gewalttätige Reaktionen hervor - es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein gefährlicher Raum zum Leben. Was ein Grund dafür sein könnte, dass Menschen sich für die extremere Version entscheiden und versuchen, einen Körper zu kreieren, der entweder als männlich oder weiblich erkennbar ist.

Im Naturhistorischen Museum in Wien gibt es Knochen, die nicht als männlich oder weiblich identifiziert werden konnten. Sie sind zu ähnlich. Materielle Körper ändern sich also und sind veränderbar?

Kultur hat einen sehr materiellen Effekt auf Körper, und ich habe auch festgestellt, wie riesig die jungen Frauen auf unserem Campus heutzutage sind. Ich fühle mich wie eine Ameise unter diesen riesigen Frauen. Und ich glaube nicht, dass es nur darum geht, dass Frauen nicht soviel zu essen bekommen haben wie Männer, sondern es geht um die pränatale Ernährung. Zumindest in der Mittelschicht, meine Freunden, die Kinder haben, achten stark darauf, während der Schwangerschaft große Mengen an Proteinen zu essen. Und sie bekommen sehr große Babys. Für Babys ist es heute normal, acht oder zehn Pfund1 zu wiegen. In der Generation meiner Mutter wogen Babys vier, fünf oder sechs Pfund, und ein vier-Pfund-Baby wurde nicht als Frühchen angesehen - es war einfach ein kleines Baby. Es ist also etwas kulturelles, wie gut genährt wir sind und wie wir pränatale Ernährung gestalten. Die Kultur hat die ganze Struktur unserer Körper in bedeutender Weise verändert.
Das Beispiel mit den Knochen im Naturhistorischen Museum ist großartig. Man denkt zuerst bei Knochen an etwas Festes. Aber zehn Prozent des Knochens werden im Jahr erneuert, das heißt, dass wir alle zehn Jahre unser Skelett komplett austauschen. Das neue Skelett wächst je nachdem, in welchem Kontext wir uns befinden. Es wächst als Reaktion auf die physische Belastung, in Reaktion auf das, was wir essen, auf unsere Ernährung, in Reaktion darauf, wie wir Sonnenlicht ausgesetzt sind. Eine ganze Reihe solcher Dinge hat Einfluss auf die Knochenentwicklung. Eine interessante Sache bei Skelettfunden ist, dass sie oft Gruppen von Menschen aus früheren Zeiten ausgraben, als Frauen harte körperliche Arbeit verrichteten. Diese haben viel dichtere Knochen als wir heutzutage. Wir haben in Europa und den USA schon mehrere Generationen lang einen Schwund an Knochendichte bei Frauen festgestellt, der alarmierend ist. Und die Zeitspanne ist zu kurz, um behaupten zu können, dass es sich um natürliche Selektion handelt. Es hat damit zu tun, wie wir unsere Leben leben. Es ist eine kulturelle Angelegenheit, wie wir unsere Leben leben.
Und es hat sehr spezifische, konkrete, materielle Effekte auf unsere Körper.

Dieser Artikel erschien in: an.schläge, das feministische Magazin,
www.anschlaege.at