"Frauen sind keine kleinen Männer"

Weshalb geschlechtsspezifische Medizin mehr umfasst als die so genannten "Bikinithemen", erläutert Marianne Legato, eine Pionierin der gender based medicine, im Interview.

Über Jahrhunderte galt in der Medizin der Mann als das Modell schlechthin, solange es nicht um die "Bikinithemen" wie Gebärmutter oder Brust ging. Doch Frauen und Männer funktionieren nicht gleich. Als eine der Ersten erkannte dies die US-amerikanische Kardiologin Prof. Dr.in Marianne Legato. Mit ihrem Buch "The Female Heart: The truth About Women and Heart Disease" begründete sie 1991 die "gender based medicine". In dieser geschlechtsspezifischen Medizin werden Unterschiede zwischen Mann und Frau erforscht und in der Behandlung berücksichtigt. Beim ersten Internationalen Symposium zu Gender Medizin Ende Mai 2006 in Wien war sie die Starrednerin.

an.schläge: Wo liegen für Sie die Ursprünge der geschlechtsspezifischen Medizin?

Marianne Legato: Die Wurzeln sehe ich im Feminismus - er regte dazu an, mehr über Frauen zu erfahren - auch auf wissenschaftlicher Ebene als medizinisches Studienobjekt. Als Kardiologin fielen mir einige Unterschiede auf - etwa bei der koronaren Herzerkrankung. Dabei kommt es zu einer Verengung der Herzkranzgefäße. Männer haben bei dieser Erkrankung Druck am Herzen, Vernichtungskopfschmerz und Atemnot. Bei Frauen äußert sie sich allerdings häufig anders: Sie leiden unter Oberbauchbeschwerden, geschwollenen Knöcheln, Müdigkeit und auch Atemnot. Während bei Männern die Ernsthaftigkeit der Erkrankung früher erkannt wurde, wurden zahllose Frauen als hysterisch abgestempelt. In der Folge wurden sie - und werden sie auch weiterhin - viel weniger oft einer klärenden Herzkatheteruntersuchung unterzogen. Die Ursache für die unterschiedlichen Krankheitsanzeichen liegt in einigen unterschiedlichen Funktionsweisen des Herzens. Eine weitere Benachteiligung zeigt sich etwa bei der Nachfrage nach ganz speziellen Nebenwirkungen: So weiß man beim Mann, dass die häufig als Blutdruckmittel eingesetzten Betablocker sexuelle Funktionsstörungen hervorrufen können. Nun wurden auch bei der Frau Anzeichen dafür gefunden. Sexuelle Funktionsstörungen bei der Frau sind aber weiterhin ein Tabu, weshalb sie gar nicht wirklich wahrgenommen werden wollen. Es wird nicht danach gefragt.

Warum sind diese "weiblichen" Symptome bei der koronaren Herzerkrankung nicht schon früher erkannt worden?

Das Problem ist, dass in der Medizin Studien praktisch ausschließlich mit Männern gemacht werden. Das Modell Mann zählte und die Frau stellte man sich als kleinere Ausgabe des Mannes vor. Das ist einfacher, billiger und man musste nicht den Hormonzyklus beachten, der die Daten mehr schwanken ließ. Außerdem können dann keine Probandinnen ausfallen, weil sie etwa schwanger werden. Das geht sogar soweit, dass selbst bei Versuchen mit Mäusen und Ratten meist nur an männlichen Tieren getestet wird, weil es einfach weniger kostet. Eine Ausnahme bilden hier nur die klassischen "Bikinithemen" - also Probleme, die Brust, Gebärmutter oder Eierstöcke betreffen.

Findet ein Umdenken statt? Schließlich hatte diese Strategie ja nicht nur beim Herzen zum Teil fatale Folgen. So starben Frauen vielfach unter einer HIV-Therapie, die bei Männern gut anschlug, während sie bei Frauen überdosiert war und zu starken bis tödlichen Nebenwirkungen führte.

Ja, das Umdenken hat begonnen. So verlangen nun sowohl die amerikanische als auch die europäische Zulassungsbehörde (FDA und EMEA) einen Mindestprozentsatz an getesteten Frauen, bevor ein neues Medikament auf den Markt kommen kann. Es wird auch damit begonnen, auf den Beipackzetteln die Nebenwirkungen nach Männern und Frauen getrennt aufzulisten. Aber es ist ein Balanceakt. Schließlich gibt es neben dem Geldproblem noch andere Sorgen - zumindest wenn es um Studien zu Frauen im fortpflanzungsfähigen Alter geht. Denn nach wie vor ist es schwieriger, weibliche Testpersonen zu finden, besonders wenn es um Frauen vor dem Wechsel geht. Viele Frauen, die noch Kinder bekommen möchten, fürchten um negative Auswirkungen der Tests für ihren Nachwuchs. Und das ist leider auch nicht völlig unbegründet. Das hat etwa das Contergan-Debakel gezeigt (Anmerkung: Contergan wurde Ende der 50er-Jahre gezielt als Beruhigungs- und Schlafmitttel für Schwangere empfohlen, da es selbst bei Überdosierung nicht so leicht zu einer Vergiftung führte. Bei Einnahme innerhalb der ersten drei Schwangerschaftsmonate kam es aber zu schweren Missbildungen oder Fehlen von Gliedmaßen und Organen der Kinder). Dieses Trauma sitzt auch den Pharmafirmen im Nacken, weshalb sie am liebsten Frauen im fortpflanzungsfähigen Alter ausschließen. Denn ein allfälliger Schaden durch einen Medikamentenversuch betrifft dann eben nicht nur die Testperson, die bewusst das Risiko in Kauf genommen hat. Hier muss auch gesagt werden, dass aus dieser Praktik Frauen nicht nur Schaden genommen haben, sondern auch profitiert haben. An ihnen wurden kaum Medikamente getestet, sie mussten deshalb auch nicht die negativen Folgen von Medikamenten erleiden, die aufgrund gravierender Nebenwirkungen nicht auf den Markt kamen.

Hatten Sie den Eindruck von Ihren männlichen Kollegen in Ihrer Arbeit behindert worden zu sein?

Nein, absolut nicht. Ich glaube, die Zeit war einfach reif. Zahlreiche männliche Kollegen haben mich unterstützt. Außerdem schließt geschlechtsspezifische Medizin ja Männer nicht aus. Auch wenn sie mit einem speziellen Blick auf die Frau begann, sind ja auch Männer von Unterschieden betroffen - etwa dem Fakt, dass ihre Lebenserwartung um durchschnittlich acht bis zehn Jahre niedriger ist als bei Frauen. Männer profitieren daher maßgeblich, wenn erforscht wird, warum das so ist.

Am Anfang stand das Herz, welche Themen stehen jetzt im Brennpunkt der geschlechtsspezifischen Forschung?

Abgesehen davon, dass nun der gesamte Körper unter die Lupe genommen wird, ist es vor allem das Gehirn, bei dem es neue Erkenntnisse zu den Unterschieden gibt: Frauen reagieren etwa anders auf Stress und auch das Gedächtnis funktioniert anders. Auch beim Magendarmtrakt wird intensiver geforscht. So weiß man heute, dass zahlreiche Stoffe länger brauchen, um vom Darm in den Blutkreislauf zu gelangen.

Dieser Artikel erschien in: an.schläge, das feministische Magazin,
www.anschlaege.at