Plötzlich 200 Milliarden Euro mehr

Sie wissen alles, die Expertenkommissionen, Beiräte, wissenschaftlichen Institute. Sie weissagen die Entwicklung der nächsten 50 und gar 100 Jahre

und sagen, was zu tun ist. Sie kennen die Anzahl der dann lebenden Homosexuellen, beziffern die Bevölkerungsabnahme, die eine Privatisierung der Altersvorsorge und längere Lebensarbeitszeit nötig macht, und vieles mehr. Nur eines wissen sie nachweislich nicht: die genaue Entwicklung in den nächsten Monaten. Zwar machen sie auch hier ungerührt ihre Voraussagen - dafür werden sie ja bezahlt -, aber die müssen sie schon nach wenigen Wochen korrigieren, ohne allerdings dafür zur Rechenschaft gezogen oder gar verabschiedet zu werden. Im Gegenteil: Die Auftraggeber berufen sich immer wieder auf sie, wenn es ihnen in den Kram paßt. Es gilt die alte Weisheit: Wer zahlt, schafft an. Und zum Beispiel der amtlich eingesetzte Rat der Wirtschaftsweisen oder die in den "Arbeitskreis Steuerschätzung" berufenen "privaten Fachleute" werden wahrhaftig nicht schlecht bezahlt.

Einen besonders krassen Fall erleben wir dieser Tage. Nachdem die großen Konzerne ihren Aktionären berichtet hatten, daß sie - vor allem im Export - Gewinne wie noch nie kassiert haben, teilte das Bundesfinanzministerium mit, in den nächsten drei Jahren könne die öffentliche Hand mit 200 Milliarden Euro mehr rechnen, als man gehofft und von den Steuerschätzern noch letztes Jahr vorausgesagt bekommen hatte. Dennoch wurde der Arbeitskreis Steuerschätzung zu einer dreitägigen Sitzung einberufen; Bundesminister Steinbrück hatte ihm zuvor klargemacht, daß er nun Optimismus erwarte. Die danach vorgelegten Zahlen sind uninteressant. Denn der Arbeitskreis hat sich schon in der Vergangenheit mit seinen Prognosen fast immer dermaßen geirrt, daß man ihm keinesfalls mehr vertrauen sollte. Aber er wird trotzdem weiterbeschäftigt. Zu seinen Mitgliedern gehören nämlich auch die sogenannten Finanzexperten der großen Wirtschaftsforschungsinstitute, und die kann man allemal gebrauchen, wenn zum Beispiel mal wieder "Reformen" zugunsten des Kapitals pseudowissenschaftlicher Begründungen bedürfen.

Nicht nur die Steuervoraussagen mußten die renommierten Institute bisher fast regelmäßig korrigieren, das gleiche gilt für ihre Orakel über das Sozialprodukt. Betrachten wir nur einmal die Ziffern dieses und des letzten Jahres. Im Herbst prognostizierten die fünf führenden deutschen Wirtschaftsinstitute für 2007 ein Wachstum des Bruttoinlandprodukts um 1,4 Prozent, in diesem April sprachen sie dann von 2,5 Prozent. Der Internationale Währungsfonds weissagte im Herbst knapp über ein Prozent, jetzt 2,5. Die Fachleute der EU in Brüssel sagten im November der BRD eine Zunahme um 1,2 Prozent voraus, im April stieg die Zahl auf 2,5. Bei der Deutschen Industrie- und Handelskammer kletterte sie von 1,5 auf 2,3. Offenbar orientieren sie sich mehr aneinander als an der Realität.
Vieles spricht dafür, das hinter solchen schon nach kurzer Zeit überholten Weissagungen, von denen sich das brave Volk beeindrucken lassen soll, kaltes Kalkül der Herrschenden und Besitzenden steckt. So hat der jahrelang verbreitete Pessimismus dem Kapital geholfen, die Einkommen der Lohnabhängigen zu senken, die Arbeitszeit zu verlängern, den Sozialstaat abzubauen und das Gut der Reichen zu mehren. Und der jetzige Optimismus verfolgt, schaut man hinter die Kulissen, das gleiche Ziel. Den Deutschen wird eingetrichtert: Euer Opfer führt zum Erfolg, es geht aufwärts; doch damit das kaum erblühte Pflänzchen Konjunktur nicht verdorrt, sondern Früchte bringt, sind weitere "Reformen" nötig. Der bekannteste Reklameschwätzer des Kapitalismus, Professor Hans-Werner Sinn vom Ifo-Institut, weist die Richtung: Die Wirtschaft wird weiter wachsen und die Arbeitslosigkeit abnehmen, wenn staatliche Produktionsmittel und Dienstleistungen noch enger begrenzt und möglichst privatisiert werden.

Zu den großen Gelehrten, die uns in den Medien immer wieder präsentiert werden, gehören Professoren, von denen man weiß, daß sie hoch honorierte Auftragsarbeiten für die Versicherungswirtschaft erledigen. Sie warnen, einander an Lautstärke übertreffend, vor der angeblich in einem halben Jahrhundert drohenden Überalterung und Rentenlücke, und diese Botschaft wird dann nicht nur von Bild und den anderen Privatmedien, sondern auch von öffentlich-rechtlichen Sendern verbreitet, die uns ebenfalls regelmäßig Angst machen: Deutschland vergreise, nur private Vorsorge könne uns ein lebenswertes Alter sichern. Damit wir das ganz fest glauben, halten sich die interessierten Kreise eben ihre "wissenschaftlichen Beiräte" und fördern sie mit unseren Steuermitteln, während die Abgaben der Industrie gesenkt werden.

Was von den Beiräten zu halten ist, hat kürzlich der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Kurt Beck (SPD), offen gesagt. In einer Rundfunkdebatte über die Forderung nach einem Mindestlohn argumentierte der CDU-Vertreter, die eigens bestellten wissenschaftlichen Beiräte der CDU-Wirtschaftsvereinigung lehnten den Mindestlohn ab, weil er viele Arbeitsplätze kosten würde. Darauf Beck grinsend: "Als Ministerpräsident setze auch ich bei manchen umstrittenen Problemen Beiräte ein, damit sie die mir passenden Argumente liefern."