Dämonen, Mythen, Killertypen

Die Kritik am ''Mythos RAF'' dient der Entsorgung von Kapitalismuskritik

Pünktlich zum 30. Jahrestag des deutschen Herbstes 1977 erfreut sich das Thema RAF wieder erheblicher medialer Aufmerksamkeit. Hinter der Frage, welche Sicht auf die Geschichte der RAF ...

... und vor allem auf das Verhältnis der legalen Linken zu RAF und Stadtguerilla überhaupt als legitim zu gelten hat und welche nicht, geht es natürlich um die Bilder von der "Schicksalsgemeinschaft" des deutschen Herbstes, um den erneuten Ruf nach dem starken Staat und nicht zuletzt um Rache. Es geht aber auch um die Beerdingung staats- und gesellschaftskritischer Theorie und Praxis als solcher. Kronzeugen für dieses Manöver sind ehemalige Linke, der "Mythos RAF" ist ihr Instrument. In der Zeit vom 8. März erschien der Text "Lust an der Gewalt" von Jan-Phillip Reemtsma, dem Leiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung, das sich seit einiger Zeit - namentlich in der Person Wolfgang Kraushaars - durch die vermeintliche Zerstörung "linker Mythen" hervortut. Ausgehend von Dostojewskis Roman "Die Dämonen" entwirft Reemtsma eine Typologie der terroristischen Gemeinschaft. Den Roman will er dabei als "Dokument sozialwissenschaftlicher Einsichten" lesen. Anhand von Sergej Netschajew, einer reichlich obskuren Figur am Rande der sozialrevolutionären Bewegung des zaristischen Russlands, so Reemtsma, beantworte Dostojewski die Fragen: "Wie war es nur möglich, dass Netschajew Erfolg haben konnte? Wie konnte er überhaupt Anhänger sammeln und sie dazu bringen, einen brutalen Meuchelmord zu begehen?" Reemtsma räumt ein, dass die entsprechende Person im Roman kein Porträt Netschajews darstelle. Folgerichtig nimmt er "Die Dämonen" auch nicht als empirische Beschreibung sondern als "Gedankenexperiment". Doch Reemtsma verwendet seine idealtypische Figur nicht, um durch die Gegenüberstellung mit der Empirie reale Erscheinungsformen zu untersuchen. Ganz im Gegenteil passt er die empirischen Tatsachen in die Konstruktion des Idealtypus ein.

Was nicht passt, wird passend gemacht

Mögliche Unterschiede und Unterscheidungen werden ebenso konsequent aus der Betrachtung ausgeschlossen wie der jeweilige historische Kontext, in dem einzelne Gruppen und Personen jeweils agiert haben. Es wird unerheblich, ob es sich um eine sozialrevolutionäre Zelle im zaristischen Russland, eine Widerstandsorganisation im faschistischen Spanien, eine Guerilla in einem durch feudalistische Strukturen geprägten Land der sogenannten Dritten Welt, den verschiedenen Gruppen der Stadtguerilla in den spätkapitalistischen Metropolen oder Erscheinungen wie den islamistischen Terror in der globalisierten Welt handelt. Das Muster ist jeweils das gleiche. Es bedarf eines bestimmtes Klimas, "in dem alle nervös, reiz- und kränkbar auf das erlösende Wort _Schluss damit, jetzt muss gehandelt werden!` warten"; eine Gruppe von überspannten bis neurotischen Personen, die sich durch einen konstituierenden Gründungsakt und die Manifestation durch die Tat nach außen zur "durch Mut und Konsequenz geadelten Avantgarde" erheben. Die terroristische Gewalt wird so zur Lebensform der Gruppe, die "durch Größenwahn, Machtgier und Lust an der Gewalt" geprägt wird. Gleichfalls unerheblich wird die konkrete Praxis: Für Reemtsma ist es egal, ob jemand wie der russische Sozialrevolutionär Kaljaev einen Anschlag abbricht, weil dadurch Unbeteiligte betroffen wären, oder ob eine Guerilla, wie etwa die RAF im Falle der Fahrer von Hanns Martin Schleyer und Siegfried Buback, auf solche Unterscheidungen verzichtet. Für Peter Schneider, der in der selben Ausgabe der Zeit ähnlich wie Reemtsma argumentiert, gibt es demzufolge keinen wesentlichen Unterschied mehr zwischen dem sogenannten Linksterrorismus der 1970er und 1980er Jahre in den westlichen Metropolen und dem aktuellen des Al-Quaida-Netzwerkes. Dabei war der einzige Anschlag aus den 1970er und 1980er Jahren, der dem Muster heutiger islamistisch begründeter Anschläge entspricht und auf die Tötung einer möglichst hohen Anzahl von zufällig anwesenden Personen ausgerichtet war, jener auf den Bahnhof von Bologna - und der wurde von italienischen Faschisten ausgeübt, wobei die Drahtzieher in der Geheimloge P2 organisierte Teile der Eliten aus Politik, Militär und Wirtschaft waren. Doch in Reemtsmas und Schneiders Muster vom Immer-das-Gleiche verschwinden solche Differenzierungen. Reemtsma entwirft das Bild einer RAF, die jenseits jeglichen politischen Anspruchs durch die Ausübung ebenso exzessiver wie sinnloser Gewalt bestimmt wird. Aber es geht ihm um mehr, als um die bloße theoretische Fundierung dieses alten Bildes fast zehn Jahre nach der Selbstauflösung der RAF. Er zielt vor allem auf diejenigen, die sich geweigert haben und sich weigern, die damals staatlich verordnete Sichtweise zu übernehmen. Damals wie heute beschreibt das keineswegs eine einheitliche Positionierung zur RAF im speziellen und zur Stadtguerilla im Allgemeinen, sondern eher ein Feld möglicher Positionierungen. Einen Pol bilden dabei die weitgehende politische Kohärenz mit dem theoretischen Ansatz der RAF und die weitgehende Billigung ihrer Praxis. Den Gegenpol bildeten diejenigen, die Theorie, Analyse und Praxis der RAF kritisiert haben, ihr aber gleichwohl ihren politischen Anspruch nicht grundsätzlich abgesprochen und sich aus dieser Position heraus mit der Forderung der Abschaffung der Haftbedingungen für die politischen Gefangenen solidarisiert haben.

Reemtsma: Man ist, was man tut

Reemtsmas zentrales Argument ist die These, eine Unterscheidung zwischen Mitteln und Zwecken sei künstlich: "Handlungen werden als ganze gewählt. Man setzt sich nur Zwecke, deren Mittel man billigt - oft solche, die man der Mittel wegen wählt -, und dann wird die Unterscheidung von Mitteln und Zwecken gänzlich hinfällig. Wer Mitglied einer Terrorgruppe wird, wählt die Existenz als Mitglied einer Terrorgruppe und wer das, was er dann ist, nicht mag, wird diese Wahl nicht treffen." Dabei gesteht Reemtsma durchaus zu, dass sich in den 1970er Jahren viele vor die Entscheidung gestellt sahen, bei der Frage "Sozialismus oder Barbarei?" zu intervenieren: "Dass diese Frage würde gewaltsam entschieden werden müssen, war das Credo vieler, die in ihrer individuellen Disposition alles andere als gewaltbereit waren. Der Vorwurf der RAF, der der Feigheit nämlich, weckte bei vielen das unbehagliche Gefühl: Die könnten recht haben." Doch eine Entscheidung ist die Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten. Eine mögliche Wahl ist dabei, diese Frage zu bejahen. Dann hätte man aber Träger von politisch motivierter Gewalt, die eben nicht dem von Reemtsma entworfenen Psychogramm entsprächen. Wenn anderseits die Anwendung von politisch begründeter Gewalt tatsächlich die von Reemtsma entworfene Persönlichkeitsstruktur voraussetzen würde, so würde sich angesichts der Alternative "Sozialismus oder Barbarei" die Gewaltfrage eben nur für Psychopathen stellen. Jede logische Begründung für ein "schlechtes Gewissen", welches Reemtsma dem damaligen Umfeld unterstellt, würde entfallen. Wenn man der These folgt, die Unterscheidung von Zwecken und Mitteln sei "künstlich", so gilt das für die Guerilla genauso wie für den bürgerlichen Staat. Und dieser agiert, auch in seiner Form als bürgerliche Demokratie, keineswegs so frei von Gewalt, wie es seine ProtagonistInnen gerne behaupten. Von seinem Gründungsakt in der Französischen Revolution über die Durchsetzung der Industrialisierung bis zu den Kriegen von heute sind die bürgerliche Demokratie und der kapitalistische Staat eine durchaus blutige Angelegenheit. Es ist zwar richtig, dass in den westlichen Demokratien die grundlegenden Ausbeutungs- und Unterwerfungsverhältnisse vornehmlich nicht durch offene Gewalt aufrecht erhalten werden (sofern man nicht bestimmten gesellschaftlichen Minderheiten angehört), doch der demokratische Staat scheut keineswegs davor zurück, zur offenen Repression und Gewalt überzugehen, wenn das durch ihn repräsentierte Unterordnungsverhältnis grundsätzlich in Frage gestellt wird oder auf grundsätzliche Widerstände stößt.

Kapitulation des Denkens vor dem Status quo

In seiner Bezugnahme auf Dostojewskij spricht Reemtsma den Mitgliedern der RAF jeglichen politischen Anspruch ab. Er blendet damit nicht nur die in den herrschenden Verhältnissen eingelagerten gewaltförmigen Strukturen systematisch aus, sondern er verneint überhaupt irgendeine Möglichkeit für ein politisches Handeln, welches nicht innerhalb dieser Strukturen wirkt, sondern gegen diese gerichtet ist. Für Reemtsma bestimmt das herrschende Recht, welches immer zugleich das Recht der Herrschenden ist, die berechtigten Mittel zur Erreichung bestimmter Zwecke. Es wird zum unhintergehbaren Rahmen für jedes politische Handeln. Verlässt man diesen, so hört man auf, politisch zu handeln. Stellen wir uns vor, wir befänden uns am Vorabend der Französischen Revolution. Unabhängig davon wie Reemtsma zu deren Werten steht, müsste er den Sturm auf die Bastille ablehnen, weil dieser in seinem Zweck-Mittel-Verhältnis eine ungeeignete Maßnahme wäre, um Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit herzustellen. Kurzum, Reemtsmas gesamte Argumentation läuft in ihrer Konsequenz auf eine unbedingte Affirmation der jeweils bestehenden Herrschafts- und Gewaltverhältnisse hinaus. Reemtsma, Schneider, Kraushaar etc. fühlen sich vehement bemüßigt, gegen einen "Mythos RAF" anzuschreiben. Dabei wird dieser "Mythos" von ihnen und ihren MitstreiterInnen beständig neu erfunden, um ihn immer wieder neu zerstören zu können. Genauer gesagt erschaffen sie diesen "Mythos", indem sie den Anspruch erheben, ihn zu zerstören. Das historische Schlüsseldatum für diesen Prozess ist nicht das Jahr 1977, sondern 1989 und der vermeintlich totale und zeitlose Triumph des Kapitalismus. Dass sich in einer solchen Situation ehemalige Oppositionelle oder KritikerInnen auf die Seite der herrschenden Klassen und Eliten schlagen und die Seiten der Barrikade wechseln, ist nichts Neues, das hat es zu allen Zeiten in allen Bewegungen gegeben. Das Besondere an der heutigen Situation aber ist, dass jene ehemaligen KritikerInnen ihre eigene Entwicklung als notwendiges Ergebnis einer (selbst-) kritischen Reflexion der Theorie und Praxis der staats- und kapitalismuskritischen Linken begründen. Diese Personen sagen nicht einfach, "unser frühere Theorie und Praxis war ein Fehler, den wir nunmehr korrigiert haben". Sie behaupten vielmehr, ihre heutige Positionierung sei die einzig mögliche Konsequenz aus ihren ehemaligen Ansprüchen an Theorie und Praxis. Folgt man also Reemtsma, Kraushaar und anderen, so besteht die einzig mögliche Form, den Ansprüchen linker Politik zu entsprechen, heute darin, diese Ansprüche aufzugeben. Damit offenbart sich der eigentliche Sinn in der Konstruktion des "Mythos RAF" durch seine Zerstörung: die Dementierung der Möglichkeit, eine andere Welt jenseits des globalisierten Kapitalismus und des neoreligiösen Fundamentalismus überhaupt für denkbar zu halten. Die Geschichte der bewaffnet kämpfenden Gruppen in der Bundesrepublik wirft eine Reihe von Fragen auf, die auch heute noch aktuell sind oder jederzeit wieder aktuell werden können: Wie und Warum führte ihr Kampf statt zur Durchbrechung der existierenden Gewaltverhältnisse zu einer Spirale aus Gewalt und Gegengewalt zwischen Staat und der von sozialen Bewegungen weitgehend isolierten Guerilla? Warum wandelte sich der ursprünglich formulierte Bezug der RAF auf die sozialen Kämpfe in der BRD zu einem relativ frühen Zeitpunkt zu einem leninistisch geprägten Antiimperialismus? Warum blieben die Gruppen und die Zusammenhänge, die einen anderen theoretischen Ansatz und eine andere Praxis verfolgten, marginal bzw. wurden sie spätestens 1989 marginalisiert? Fragen, die die gesamte radikale Linke betreffen und deren Beantwortung man nicht durch die Produktion von Mythen näher kommt, sondern nur im Verhältnis von Kritik und Selbstkritik. Erdmann Prömmel aus: ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 516/19.4.2007