Ihr Kampf ist unser Kampf

Ob es in Pierburg noch Leibeigene gebe, fragt eine Stimme aus dem Off, die sich, wie der Film Pierburg: Ihr Kampf ist unser Kampf , mit den Streikenden solidarisiert.

Super 8 und 16 mm Kameras von Beschäftigten und engagierten FilmemacherInnen haben die Ereignisse bei der Firma Alfred Pierburg AG im August 1973 begleitet, als eine Woche lang die Arbeiterinnen für die Abschaffung der Leichtlohngruppe II - das waren damals 4,70 DM pro Stunde - und gegen die doppelte Lohndiskriminierung migrantischer Frauen demonstrierten. Die Filmemacherin Edith Schmidt und der Filmemacher David Wittenberg haben das Material, das während des Streiks von unterschiedlichen Akteuren vor Ort gedreht worden war, in Absprache mit den Streikenden montiert und mit eigenen Filmaufnahmen ergänzt. Der Film wurde als Öffentlichkeitsarbeit für und mit der Belegschaft und dem Betriebsrat produziert. Er war in erster Linie für politische Diskussionen, Veranstaltungen und überregionale Betriebsarbeit gedacht. Die ArbeiterInnen und der Betriebsrat besuchten mit dem Film andere Betriebe in Deutschland und Frankreich, die sich ebenfalls im Streik befanden. Im Fernsehen wurde er nie gezeigt, er lief aber auf zahlreichen Solidaritätsveranstaltungen und geriet dann wieder in Vergessenheit.
Diese Form einer operativen Film- und Medienpraxis war Anfang der 1970er Jahre aus der Erfahrung der italienischen und französischen Streik- und Protestbewegungen von ArbeiterInnen und Studierenden hervorgegangen, in denen eine Praxis gemeinsamer Kämpfe, auch auf der Grundlage ihrer Repräsentation in der Öffentlichkeit zentral war und das Konzept von RegisseurIn, Kamera und ProtagonistIn in ein dynamisches und nicht hierarchisches Verhältnis bringen wollte. Linke KulturproduzentInnen oder FilmarbeiterInnen, wie sie sich damals nannten, solidarisierten sich mit unterschiedlichen Initiativen, wie Mieterstreiks, Häuser- und Arbeitskämpfen und der Frauenbewegung. In Vergessenheit geriet aber vor allem die gemeinsame Geschichte dieser Praxis mit MigrantInnen ebenso, wie die repräsentationskritischen Auseinandersetzungen der operaistischen Medienarbeit. Die gemeinsamen kulturellen und politischen Interessen wurden schnell als agitatorisches Phantasma von Studierenden abgetan.

Die Jahre 1971-1976 stehen für einige außergewöhnliche aktivistische und filmkünstlerische wie fotografische Arbeiten, die wir im Rahmen von "Projekt Migration" recherchieren konnten, in denen Arbeits- und Mieterkämpfe von MigrantInnen im Vordergrund stehen. Eine Kölner Familie von Hans Jürgen Hilgert und Tuuluki Lähdesmäki (1976), sowie die 1974/75 gedrehten Kurzfilme von Zelimir Zilnik, wie etwa Inventur Metzstrasse, aber auch der Für ausländische und deutsche Arbeiter von Christina Trautmann und Kurt Rosenthal (1973) reflektieren, die aktive Rolle der MigrantInnen in den Kämpfen und die Solidarität der Kulturschaffenden auf einem hohen repräsentationskritischen Niveau, jenseits von Multikulti-Romantik und Gutmensch-Instrumentalisierung.

Einer der Gründe für das Interesse der Kulturschaffenden war, dass im Sommer 1973 ArbeitsmigrantInnen an unterschiedlichen Orten in der BRD maßgeblich an der folgenden Streikwelle beteiligt waren. Die Serie beginnt im Osnabrücker Karosseriewerk Karmann, gefolgt von den Hella-Werken in Lippstadt, den Pierburg Werken Neuss, um im Bekanntesten, dem Kölner Fordstreik zu kulminieren. Die Firma Alfred Pierburg AG stellte Mitte der 1970er Jahre Vergaser und Kraftstoffpumpen für die westdeutsche Automobilindustrie her. Von insgesamt 3.800 Beschäftigten waren ungefähr siebzig Prozent Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter, wobei Frauen weit in der Mehrzahl waren. Sie setzten sich gegen die unterschiedliche Bezahlung für Männer und Frauen zur Wehr und forderten "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" und "Eine Mark mehr" pro Stunde für alle und traten insgesamt für bessere Arbeitsbedingungen ein. Im Film berichten sie von miserablen Wohnbedingungen in den werkseigenen Zimmern, der Diskriminierung am Arbeitsplatz und wie nach und nach auch ihre deutschen (und) männlichen Kollegen den Streik unterstützten. Der Streik von Pierburg gilt als legendär, da er in erster Linie von und mit Migrantinnen initiiert wurde und erfolgreich war. Bei Pierburg wurde erstmals die Leichtlohngruppe II abgeschafft und auch nicht wieder eingeführt. Außerdem wurde niemand entlassen und darüber hinaus auch noch die Tarifpolitik der Gewerkschaften in Frage gestellt. Wenn die Streikenden gewusst hätten, dass sie nur noch einen Tag länger die Arbeit hätten niederlegen müssen, um die gesamte Autoproduktion in der BRD lahm zu legen, hätten sie den Streik selbstverständlich verlängert. Die Macht, die hinter einem solchen Streik bei einem Zulieferbetrieb der Automobilindustrie liegt, zeigte sich erstmalig als reale Bedrohung für den fordistischen Wirtschaftskreislauf in der BRD. Der damalige Bundeskanzler Willy Brandt kommentiert den Fordstreik daher mit den Worten: "Das ist kein Streik mehr, das ist eine Bewegung." Und ein Vertreter des Ford-Managements meint resigniert: "Wir haben in den zahlreichen Jahren festgestellt, dass die Ausländer oft mit einem zu hoch entwickelten Selbstbewusstsein zu uns kamen."

Die deutschen Gewerkschaften verhalten sich gegenüber den MigrantInnen zudem zwiespältig. Einerseits gilt das "Inländerprimat", das dazu verpflichtet, für jeden vakanten Arbeitsplatz zunächst nach einem deutschen Bewerber Ausschau zu halten. Die zentrale Frage für die deutschen Gewerkschaften ist daher, inwiefern die Einwanderung die Interessen der einheimischen ArbeitnehmerInnen berührt. Andererseits ist Migration eine Herausforderung an die integrative Kraft der Einheitsgewerkschaft, die für sich beansprucht, alle abhängigen Arbeitnehmer zu vertreten. Die Haltungen von DGB und IG Metall changieren zwischen diesen beiden Polen - eine Ambivalenz, die bis heute, angesichts neuer Diskussionen über "Schwarzarbeit" und "Illegalität", nichts an Aktualität eingebüßt hat.
Andererseits zeigten linke KulturproduzentInnen in den 1970er Jahren vor dem Hintergrund der aufkommenden sozialen Bewegungen und Protestbewegungen sicher auch ein besonderes Interesse an der migrantischen Bevölkerung, da die Krise der industriellen Massenproduktion in den westlichen Industrienationen bereits 1973 einen sehr direkten Effekt auf die Arbeitsmigration in Deutschland und Europa hatte und die offiziellen Medien "Ausländer Raus"-Parolen zu propagieren begannen. Wie schon in der Rezession 1966/67 mussten MigrantInnen seit Anfang der 1970er Jahre erneut um ihre Arbeitsplätze fürchten. Denn in den 1970er und 1980er Jahren entledigten sich die meisten Großbetriebe des verarbeitenden Gewerbes ihrer Stammbelegschaft. Der Kampf der multinationalen Belegschaft gegen die Schließung des Krupp-Hüttenwerks in Duisburg-Rheinhausen markierte das Ende der fordistischen Fabrikgesellschaft. ArbeitsmigrantInnen waren bei Betriebsstilllegungen in der Regel als erste von Massenentlassungen betroffen und verloren so in letzter Konsequenz ihre Aufenthaltsberechtigung in Deutschland. Die Regierung Kohl verstärkte den Druck auf ausländische Arbeitskräfte und beschloss 1983 das "Rückkehrförderungsgesetz". Mit einer Abfindung von ein paar tausend Mark wurden ArbeitsmigrantInnen nun zur Rückkehr bewegt. Doch mit der "Hau ab-Prämie" verloren sie nicht nur ihr Aufenthaltsrecht, sondern einen erheblichen Teil ihrer Rentenansprüche in Alemania.

Viele blieben und machten sich selbstständig, um der Arbeitslosigkeit zu entgehen und das Familieneinkommen und das Aufenthaltsrecht zu sichern. So wurden sie zu Pionieren der Dienstleistungsgesellschaft. Transnationale und ethnische Ökonomien und ein neuer Mittelstand selbständiger UnternehmerInnen sind nur einige der vielen Folgen dieser Entwicklung. Der Umbau zu einer Dienstleistungsgesellschaft förderte aber die Prozesse der o. g. Selbstständigkeit vorerst nicht, sondern setzte auf die globale Expansion der Unternehmen, neuer Verwaltungs- und Managementprozesse und den Finanzmarkt. Der Anwerbestop in der BRD (1973) steht in direktem Zusammenhang mit diesem grundlegenden gesellschaftlichen Wandel, der bis heute andauert. In allen europäischen Staaten wurde der so genannte Anwerbestop durchgesetzt und die Gastarbeiter-Ära vorerst - bis zum Aufkommen der Greencard-Debatten -, offiziell beendet.

Die Informatisierung der Arbeitswelt bescherte den multinationalen Unternehmen auch weiterhin einen Anstieg der Arbeitsproduktivität und der Gewinne - mit immer kleineren Belegschaften. Gleichzeitig entwickelten sich neue Arbeitsmodelle und private Dienstleitungsanbieter, wie beispielsweise der Reinigungsservice. Die Konsequenzen eines "Weltmarktes ohne Grenzen" und der "Bewegungsfreiheit für wenige" hat vielfältige gesellschaftliche Auswirkungen und produziert neue legalisierte und illegalisierte Bewegungen über die nationalen Grenzen hinweg. Migration erscheint nun in der Figur informeller Beschäftigungen im Bausektor, der kleinteilig strukturierten Textilindustrie, der Landwirtschaft, dem Pflegesektor, der Hausarbeit, im Reinigungsgewerbe und im sich immer weiter ausbreitenden Security-Sektor. Der Bedarf an Billiglohnkräften ist eine der Bedingungen entgrenzten Wirtschaftens, in den meisten Branchen wurden inzwischen weitgehend prekäre Beschäftigungsverhältnisse durchgesetzt. Die neue Grenz- und Migrationspolitik Europas hat so auch eine regulative Funktion für den europäischen Arbeitsmarkt, ohne dass dies, wie in der Ära der Gastarbeit, in einen direkten Zusammenhang gebracht würde. Seit 1989 haben sich daher neue Formen der Arbeitsmigration herausgebildet, wie etwa die Pendelmigration, deren Motor das große Lohngefälle zwischen Ost- und Westeuropa ist.

Wurde in den 1990er Jahren in den Feuilletons über das "Verschwinden des Proletariats" spekuliert, meldete sich im Dezember 2001 aber ausgerechnet in Argentinien, im Musterland des Neoliberalismus, eine neue Bewegung mit Dauerdemonstrationen, Straßenblockaden und Fabrikbesetzungen zu Wort. Prekär Beschäftigte und Erwerbslose protestierten Monate lang gegen Entlassungen, Preiserhöhungen und Zwangsräumungen. Ihre Wut richtete sich vor allem gegen den IWF. Ausgehend von Italien verbreiten sich auch in der alten Welt Aktionen von prekär Beschäftigen und Arbeitslosen.

Während militante GewerkschafterInnen in den USA bereits seit Jahren vor allem im Reinigungsgewerbe mit spektakulären Streiks von sich reden machen, kommt es inzwischen auch in Europa im Dienstleistungsgewerbe seit einiger Zeit wieder zu größeren Arbeitskämpfen. Im August vergangenen Jahres führte ein Solidaritätsstreik mit den ArbeiterInnen von Gate Gourmet auf dem Londoner Flughafen Heathrow zu tagelangen Turbulenzen im internationalen Flugverkehr. Die Chefs des Catering-Unternehmens hatten eine ganze Schicht entlassen, weil diese sich geweigert hatte, schlechtere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Daraufhin legte das Bodenpersonal der British Airways am nächsten Tag aus Solidarität die Arbeit nieder. Seit dem 7. Oktober streiken die ArbeiterInnen von Gate Gourmet am Düsseldorfer Flughafen. Ein Ende des Konflikts ist nicht abzusehen. Der Konzern ist unnachgiebig und investiert große Summen in Streikbrecher und private Wachdienste. Mit weltweit 150 Betrieben und 26 000 Beschäftigten in fünf Kontinenten will Gate Gourmet die Arbeitskosten um zehn Prozent senken und die Arbeitsproduktivität in gleichem Maße erhöhen. Die Streikenden, eine multinationale Gemeinschaft, stehen mit dem Rücken zur Wand. Sie haben anfangs mehrfach versucht, die Fabriktore zu blockieren, durch die LKWs zu den Flugzeugen aufs Rollfeld fahren. Inzwischen werden sie tatkräftig von AktivistInnen aus der Region unterstützt. Immer wieder kommt es zu Blockaden. Auch in Buenos Aires, Zürich, Hamburg und Frankfurt wurden Solidaritätsaktionen durchgeführt.

"Ihr Kampf ist unser Kampf", die Parole des Films der Pierburg-Arbeiterinnen, ist aktuell. Bei den Streikenden von Gate Gourmet in London und Düsseldorf haben Stillhalteparolen und die Drohungen mit dem Arbeitsplatzverlust ihre Wirkung verloren. Die Solidarität ermutigt sie weiter zu machen. Eine solidarische Medienpraxis auf der Höhe von 1973 muss allerdings noch entwickelt werden.

Dieser Artikel erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, "Streik", Frühjahr 2006.