Das EU-Grenzregime als Laboratorium der Entrechtung

Der Artikel stellt dar, dass sich die EU-Politik gegenüber MigrantInnen durch den aktiven Abbau der Menschenrechte und die militärische Kontrolle von Armut auszeichnet.

Zur Einführung: der wirtschaftswissenschaftliche Blick

Wirtschaftswissenschaften können so einfach sein. Während seines Vortrags "Migration im Spannungsfeld von Globalisierung und Nationalstaat" legte Thomas Straubhaar, wissenschaftlicher Direktor des Hamburger Instituts für Weltwirtschaft, 2004 eine Folie auf. Auf der horizontalen Achse sind die Arbeitskräfte abgezeichnet, auf der vertikalen der Lohn. Eine Gerade mit der Bezeichnung "Grenzproduktivität der Arbeit" verläuft von links oben nach rechts unten. Auf dieser ist ein Punkt markiert, der das aktuelle Angebot an Arbeitskräften und damit auch das Lohnniveau bestimmt. Steigt das Angebot an Arbeitskräften, bspw. durch Migration, sinken die Löhne. Das Kapitaleinkommen, in der Grafik eine dreieckige Fläche, vergrößert sich: mehr Menschen arbeiten zu einem geringeren Lohn, schaffen Mehrwert. Das Lohneinkommen der Erwerbstätigen kann sich je nach Steigung der Geraden vergrößern oder verkleinern, jedenfalls verteilt es sich auf mehr Arbeitnehmer. Beides zusammen wird als Volkseinkommen bezeichnet und wächst mit sinkenden Löhnen zwangsläufig, eben durch das Anwachsen der Kapitalerträge und die zusätzlichen Arbeitnehmer.

So denken die europäischen Staats- und Regierungschefs, die auf ihrem Sondergipfel im März 2000 die Lissabon-Strategie verabschiedeten. Dieses Programm verfolgt das erklärte Ziel, die EU innerhalb von zehn Jahren zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen.[1] Dieses soll vor allem erreicht werden, indem mehr Menschen in den Arbeitsmarkt integriert werden: einerseits durch Zuwanderung, andererseits durch eine bessere Abschöpfung des "riesige[n] Potential[s], das Frauen für den Arbeitsmarkt darstellen" und durch Maßnahmen, die "aktives Altern" fördern.[2] "Vom ungelernten Arbeiter bis hin zur akademischen Spitzenkraft" sieht die EU-Kommission in ihrem Strategischen Plan zur legalen Zuwanderung von 2005 ein "Bedarfszenario".[3]

Die Wirtschaftswissenschaften kennen keinen Rassismus und ignorieren die Klassen. Wenn die Löhne sinken, haben die Einzelnen weniger und für diese bedeutet es keinen Ausgleich, wenn die Kapitaleinkünfte steigen und Menschen aus anderen Ländern hier arbeiten können. Im Gegenteil schürt dies entweder Rassismus oder den Klassenkampf. An dieser Stelle kommt der Staat ins Spiel, der sich durch die flexible Zu- und Aberkennung von Rechten und einen gewaltigen Sicherheitsapparat neue "wohlfahrtspolitische" Handlungsspielräume erschließt. Da Klassenkampf aus Sicht der Herrschenden unbedingt vermieden werden muss, wird der Rassismus geschürt und genutzt, um den Arbeitsmarkt zu segmentieren. Konkret werden Teile der Arbeitskräfte und ihre Angehörigen stärker entrechtet als andere und die am stärksten Ausgebeuteten, die zu den niedrigsten Löhnen arbeiten müssen, von politischer und gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen. Dies geschieht unter anderem durch eine Militarisierung des Migrationsregimes und der EU-Innenpolitik.

Die Produktion eines entrechteten Subproletariats greift zunächst bei MigrantInnen, indem Rechte von der Staatsbürgerschaft abgekoppelt werden, wodurch diese subjektiv aufgewertet wird. Dies ist historisch keineswegs neu, denn so wie Migrationen aufgrund von Hungersnöten, Naturkatastrophen, Kriegen und kapitalistischer Entwicklung schon immer stattgefunden haben, wurden die MigrantInnen in den kapitalistischen Metropolen stets als billige Arbeitskräfte ge- und missbraucht. Neu sind eher die Qualität und der Aufwand, mit dem MigrantInnen jenseits der Staatsbürgerschaft bis hin zur "Illegalität" diskriminiert werden und Abschiebungen, spezielle Haftanstalten und das Militär diese Diskriminierung wirksam werden lassen. Die Unterscheidung in legale und illegale Migration ist konstruiert und ein Instrument der Herrschenden. Sie teilt die MigrantInnen auch nicht in erwünschte und unerwünschte, im Gegenteil sind legale wie illegale Migration von der Wirtschaft und damit auch weit gehend von der Politik erwünscht. Dies möchte ich anhand einiger Beispiele darstellen.

Prekäre Rechte

Per Gesetz, in vielen Fällen auch per Dekreten aus Ministerien, kann sich der rechtliche Status von Menschen - oft Hunderttausenden gleichzeitig - ändern. Das bekannteste Beispiel hierfür mögen Legalisierungsprogramme sein. Die Regierung gibt allen, die sich seit einem Stichtag im Land befinden und die meist noch einen Arbeitsvertrag vorweisen müssen, Aufenthaltsrechte. Grundsätzlich läuft die Einwanderungsgesetzgebung aber auf das Gegenteil hinaus: Es werden Fristen gesetzt, ab denen eine Ausreise auch erzwungen werden darf, flankiert wird das von Maßnahmen wie Residenzpflicht, Arbeitsverbot, Lagerunterbringung, Abschiebehaft und Abschiebungen unter Zwang. In Italien lässt sich das sehr gut nachweisen, weil es dort bis vor zwanzig Jahren kaum eine Immigrationsgesetzgebung gab, wer da war, war zunächst legal da, jedenfalls nicht illegal und mit verschiedenen Rechten ausgestattet. Bis heute brauchen Kinder bis 16 Jahre keine Aufenthaltsgenehmigung, d.h. sie können auch nicht "illegal" werden. Wird dieses Alter bspw. um zwei Jahre heruntergesetzt, so bedeutet das die "Illegalisierung" tausender Kinder.
Häufig lesen wir in den Strategien der EU, dass es notwendig sei, im Kampf gegen die illegale Migration auch legale Möglichkeiten zur Immigration zu schaffen. Unter Letzteren werden kurzfristige, meist an einen Arbeitsvertrag gebundene Visa verstanden, die mit keinerlei Integrationsmaßnahmen, politischen oder sozialen Rechten verbunden sind. Nun kommt aber der überwiegende Teil derjenigen MigrantInnen, die später als illegal aufgegriffen werden, mit solchen Visa ins Land und bleibt über deren Ablauf hinaus. Selbst in den südlichen Mitgliedsstaaten der EU mit ihren relativ offenen Außengrenzen kommen nur etwa 30% illegal über die Land- und Seegrenzen, 70% sind so genannte Visa-Overstayers. Es herrscht in Politik wie in der Wissenschaft ein breiter Konsens darüber, dass die eben genannte Form der Arbeitsmigration für das Funktionieren der europäischen Volkswirtschaften notwendig ist. Etwas kleiner ist die Einigkeit darüber, dass auch die illegalisierten MigrantInnen eine "Bereicherung darstellen", insbesondere im Landwirtschafts- und Dienstleistungssektor und bei Letzterem insbesondere bei den häuslichen Diensten.
So kamen in Österreich kürzlich verschiedene Spitzenpolitiker in die Presse, weil entdeckt wurde, dass sie illegale MigrantInnen für die Pflege ihrer Eltern beschäftigen. Wirtschaftsminister Bartenstein kommentierte, dass es in Österreich ohne diese illegalen Pflegekräfte zumindest kurzfristig nicht ginge. Nun diskutiert Österreich ein Moratorium, d.h. einem Beschluss, nach dem die Beschäftigung Illegaler in der Pflege für einen gewissen Zeitraum im Normalfall nicht verfolgt wird. Die Menschen aber, von deren Arbeitskraft die österreichische Oberschicht abhängig ist, bleiben illegal, von sozialen und politischen Rechten ausgeschlossen und an ihren Arbeitsplatz gebunden.

Was ich damit sagen will ist, dass die EU-Staaten illegale Migration befördern, um ein Segment des Arbeitsmarktes zu schaffen, in dem Zustände herrschen, die an Sklaverei erinnern.

"Illegale Migration" und "illegale Beschäftigung" sind keine endogenen Phänomene und auch keine Probleme, die bekämpft werden müssten, sondern entstehen erst durch den Kampf gegen die illegale Migration.[4] Am deutlichsten wird dies, wenn man die Erklärungen der EU, die illegale Migration sei unter anderem durch die Schaffung von legalen Einreisemöglichkeiten zu bekämpfen, ernst nimmt. Für Italien und Spanien liegen genaue Zahlen vor, nach denen etwa 70% der ohne Aufenthaltsberechtigung aufgegriffenen Personen - der "Illegalen" - so genannte "Visa-Overstayers" waren, also nicht illegal eingereist, sondern legal mit einem Visum gekommen und nach dessen Ablauf im Land geblieben sind.[5] Unter Möglichkeiten zur legalen Migration wird aber gemeinhin genau das verstanden: Die Vergabe von kurzfristigen Visa, die mit keinerlei Integrationsmaßnahmen, politischen oder sozialen Rechten verbunden sind.[6] Dies geschieht in einem Umfang, der es nicht zulässt, dass die Ausreise der betreffenden Personen gewährleistet oder umfassend kontrolliert werden kann.
Etwa 10% der Illegalisierten in den südeuropäischen Ländern sind clandestin über das Meer eingereist.[7] Diese Migrationen bestimmen gegenwärtig den Diskurs und sind geeignet, das Bild einer Festung Europa zu suggerieren, an dem die Herrschende Klasse der EU durchaus Interesse hat.[8] Wir dürfen im Folgenden nicht vergessen, dass sie nur einen kleinen und spektakulär inszenierten Teil der Immigrationen ausmachen. Dennoch hat eben das, was diesen MigrantInnen auf ihrer Reise widerfährt, die Art wie mit ihnen umgegangen wird, einen Effekt auf die Selbst- und Fremdwahrnehmungen der MigrantInnen. Ich werde nun darstellen, inwiefern das Migrationsregime und mit ihm die EU-Innenpolitik und das Mittelmeer militarisiert wurden.

Die militärische Aneignung des freien Meeres

Als eine der ersten militärischen Reaktionen auf die Terroranschläge 2001 in New York wurde die STANAVFORMED, die im Mittelmeer bereitstehenden NATO-Marinekräfte, für die bereits am 26.10.2001 beginnende und bis heute kaum beachtete NATO-Mission Active Endeavour mobilisiert. Offizieller Auftrag ist der "Kampf gegen den Terror" auf der Grundlage des Bündnisfalls nach Artikel 5 des NATO-Vertrages. Faktisch geht es jedoch um die Kontrolle der zivilen Schifffahrt im Mittelmeer, Schwerpunkte sind das östliche Mittelmeer und, seit März 2003, die Straße von Gibraltar. Geleitet wird der Einsatz vom NATO-Flotten-Hauptquartier in Neapel aus. Außer den NATO-Staaten beteiligen sich auch Russland, Israel und Tunesien. Alleine in den ersten 2 Monaten des Einsatzes wurden etwa 1.700 Handelsschiffe kontaktiert und das Meer mit mehr als 1.000 Flugstunden von Helikoptern überwacht. Der Auftrag wurde am 16. März 2004 auf das gesamte Mittelmeer ausgedehnt und dauert bis heute an.[9]

Nach internationalem Seerecht ist das Meer frei, es kann niemandem gehören oder eben nur der gesamten Menschheit. Die Souveränität der Staaten reicht nur zwölf Seemeilen ins Meer hinaus, innerhalb von 24 Seemeilen dürfen die einzelnen Staaten die erforderliche Kontrolle ausüben, um Verstöße gegen ihre Zoll-, Gesundheits- und Einreisevorschriften zu verhindern, oder Verstöße, die bereits in ihrem Hoheitsgebiet oder Küstenmeer begangen wurden, ahnden.[10] Insofern handelt es sich um eine militärische Aneignung des freien Meeres (mare liberum) durch das Bündnis. Elias Bierdel, seinerzeit 1. Offizier des Schiffs Cap Anamur und Chef der gleichnamigen Hilfsorganisation, beschreibt seine Erlebnisse vom Frühsommer 2004 folgendermaßen: "Wir haben Flottenverbände verschiedener Nationen selber angetroffen, auch einen großen Flottenverband der deutschen Bundesmarine. Wir sind, sobald wir das erste Mal überhaupt auf die Höhe von Lampedusa kamen, von einem italienischen Militärflugzeug überflogen worden, mehrfach, und am nächsten Morgen kam die italienische Fregatte Danaide und hat uns gecheckt, also abgefragt [Â…] Wir wissen, dass niemand auf offener See einen anderen belästigen darf, eigentlich, nach dem Völkerrecht [...] Das Flugzeug hat das Schiff viele, viele Male überflogen in den nächsten Wochen, fast täglich kann man sagen und sicherlich fotografiert und dokumentiert."[11]

Am 20. Juni 2004 rettete das Schiff 37 MigrantInnen aus Seenot und wollte sie danach ins sizilianische Porto Empedocle bringen, erhielt aber keine Erlaubnis, in die italienischen Hoheitsgewässer einzufahren. 21 Tage nach der Rettung setzte der Kapitän einen Notruf ab und lief ein. Er wurde mit Teilen seiner Besatzung unter dem Vorwurf der "Begünstigung illegaler Einreise" verhaftet, das Schiff für sieben Monate beschlagnahmt. Die Besatzung des zivilen Schiffes tat nichts anderes, als das, was Militär, Küstenwache und Polizei auf täglicher Basis durchführen und wurden dafür kriminalisiert. Die geretteten MigrantInnen wurden trotz massiven Protestes und Angeboten aus großen italienischen Gemeinden, sie als Ehrenbürger einzubürgern, bis auf eine Ausnahme demonstrativ abgeschoben.

Neben Active Endeavour gab es sechs Missionen im EU-Rahmen zur Sicherung der maritimen Außengrenzen.[12] Generell geht es bei diesen Missionen v.a. darum, die Kooperation zwischen Zoll-, Polizei- und paramilitärischen Einheiten aus verschiedenen Mitgliedsstaaten zu trainieren und zu verbessern, um eine europäische Sicherheitspolitik auch auf der operativen Ebene zu ermöglichen. So musste eine gemeinsame Übung der EU-Flotten vor Gibraltar und den Kanaren aufgrund von Verständigungsschwierigkeiten abgebrochen werden.[13] Nicht auszudenken, was dies für eine Blamage bei einem ernsten Einsatz wie UNIFIL wäre. Die Einsätze wurden von EUROPOL begleitet und ausgewertet, woraus Empfehlungen für die neue EU-Grenzschutzagentur FRONTEX (s.u.) entstanden.[14]

Aufrüstung paramilitärischer Einheiten

Gerade die südlichen EU-Mitgliedsstaaten verfügen nahezu ausnahmslos über besondere Polizeistrukturen wie die Republikanischen Garden in Portugal, die Guardia Civil in Spanien, die Gendarmerie in Frankreich, die Carabinieri und die Guardia di Finanza in Italien. Sie unterstehen der jeweiligen Regierung oder einzelnen Ministerien und verfügen über eine Bewaffnung und Struktur, die denen des Militärs ähnelt sowie über Spezialeinheiten bspw. für Einsätze gegen Terroristen oder bei Entführungen. Neben der Aufstandsbekämpfung üben sie häufig eine Funktion als Militärpolizei aus und haben oft eine unrühmliche Geschichte bei der Besatzung ehemaliger Kolonien oder während des Faschismus gespielt. Im Allgemeinen werden sie unter dem Oberbegriff "Gendarmerie"- Einheiten zusammengefasst, wegen ihrer Ähnlichkeit zum Militär und ihres Einsatzes im Ausland werden sie hier jedoch als Paramilitärs bezeichnet.

Sowohl für Auslandseinsätze als auch im "Kampf gegen die illegale Migration" werden diese gerne eingesetzt. Ihre Aufrüstung lässt sich anhand Letzterem leichter legitimieren, da der Schutz der Außengrenzen gegen Immigration von weiten Teilen der Bevölkerung als notwendige Aufgabe erachtet wird.

Die Guardia Civil wuchs alleine zwischen 1990 und 2000 von 61.192 auf 70.143 Beamte an, ihr Budget stieg von 1.26 auf 1.83 Mrd. Euro. Beeindruckend ist jedoch vor allem die materielle Aufrüstung: verfügte sie noch 1985 über keinerlei Boote, waren es 1995 bereits 19 und im Jahre 2000 50 mit 728 Beamten, die auf See zum Einsatz kamen. Im gleichen Zeitraum verdreifachte sich auch die Zahl der Helikopter auf 36, mittlerweile steht ihr sogar ein Flugzeug zur Verfügung. Das Personal der italienischen Guardia di Finanza (die unter anderem auch 2001 in Genua zum Einsatz gegen Demonstranten kam) stieg zwischen 1989 und 2000 von 52.280 auf 66.938 Beamte, während sich das Budget nahezu verdreifachte: von 1.11 auf 3.21 Mrd. Euro. Dies ist vor allem durch eine Flugzeugflotte mit 14 Maschinen zu erklären, die in diesen Jahren angeschafft wurde. Dazu stieg die Zahl der Helikopter von 68 auf 96 und die der Boote von 330 auf 582.

Diese Boote haben tw. eine militärische Bewaffnung und erinnern auch äußerlich an Kriegsschiffe. Damit verfügen die Paramilitärs über alle drei Waffengattungen regulärer Armeen. Die hinzugekommene Luftunterstützung ist nicht zu unterschätzen.[15]

Zivil-militärische Überwachungstechnologie

Die Schiffe der Guardia di Finanza wurden für das Auffinden von Booten auf dem Mittelmeer zudem mit Wärmebildkameras und FLIR-Systemen (Forward Looking Infrared) ausgestattet, welche aus der militärischen Luftfahrt stammen und Navigation und Zielerfassung auch bei schlechten Sichtverhältnissen ermöglichen. Spanien entwickelt seit 2001 sein Integriertes System zur Außenüberwachung, SIVE. Es besteht aus meist auf Türmen angebrachten Hochleistungsradars, Video- und Wärmebildkameras mit einer Reichweite von 10 Kilometern. Da diese aus Kostengründen nicht die gesamte Küste abdecken, gibt es darüber hinaus mobile Einheiten, die auf LKWs angebracht werden können und Boote, die mit dem System ausgestattet sind. Alle so gewonnenen Informationen werden über ein Netz an Funktürmen gesammelt und in ein zentrales Überwachungszentrum der Guardia Civil übermittelt. Entwickelt wurde das System von der spanischen Firma Amper Sistemas, die Überwachungstechnologie wird allerdings von den Rüstungsunternehmen Raytheon, Thomson, Marconi und Elta geliefert.[16]

Das System wurde seit dem auch auf den Kanaren und in Griechenland installiert, auch die italienische Regierung gab an, einige Einheiten gekauft zu haben. Die Kosten werden jeweils anteilig von der EU übernommen. Abgesehen von den Einnahmen, die daraus für die Rüstungsindustrie entstehen, ändert sich auch das Bild der südeuropäischen Strände durch SIVE: Die Türme sind jeweils durch Stacheldraht umzäunt und werden von einer Unzahl Kameras überwacht. Tw. säumen sie die Küste in einem Abstand von zehn Kilometern. Die informationstechnische Infrastruktur soll in das verschlüsselte nationale Notfall-Funknetz Spaniens eingebunden werden und von Polizei- und Grenzbeamten auch für Abfragen der SIS-Datenbank (s.u.) zur Verfügung stehen.[17]

Das französische Unternehmen Spot Image nahm die Debatte um die Migration auf die Kanaren zum Anlass, mit der dortigen Universität ein Pilotprojekt zu starten, bei dem die Daten ihrer Fernerkundungssatelliten mit den Radarsystemen auf den Inseln ebenfalls zum Aufspüren von Booten vernetzt werden. Somit wird auch diese potenziell militärische Technologie von der EU finanziert und weiterentwickelt.

SIS ist die Bezeichnung für das Schengen Informations-System, eine Datenbank, in die alle Schengen-Staaten Personen einspeisen können, die gesucht werden, denen der Eintritt in die EU verboten ist, die als vermisst oder gefährlich gelten, die überwacht werden sollen sowie Gegenstände, die als gestohlen gelten.[18] Der enorme Datenbestand, auf den die nationalen Polizeien zugreifen können, besteht bislang hauptsächlich aus Personen, denen durch deutsche oder italienische Behörden die Einreise verweigert wurde, sowie gestohlene Ausweisdokumente und Fahrzeuge.[19] Das SIS wurde inzwischen zu SIS II weiterentwickelt und um das Visa Informations System ergänzt in den Schengen-Acquis übernommen, d.h., dass eine Teilnahme für alle neuen Mitgliedsstaaten verbindlich ist. SIS II soll ab 2007 neben Fingerabdrücken auch offene Felder für Hinweise zur Person enthalten. Darüber hinaus ist geplant, auch eine Kategorie für "violent troublemakers" - Hooligans und politische AktivistInnen - einzuführen. Seit 2003 sind die Staaten außerdem aufgefordert, von "illegalen MigrantInnen" und Asylbewerbern Fingerabdrücke in die EU-weite Datenbank EURODAC einzuspeisen.

Kooperation mit Drittstaaten

Diese Formen der Aufrüstung werden nicht nur in der EU selbst, sondern auch in den angrenzenden Nachbarstaaten wirksam. Der fatalste Effekt, den die Kooperationen mit Drittstaaten hinsichtlich der Migration jedoch haben, ist eine massive Abwertung der Menschenrechte in den internationalen Beziehungen. Im Gegenteil können sich nun autoritäre Regime der EU andienen, indem sie repressiv gegen ihre Bevölkerung vorgehen. Dies wird gegenwärtig am deutlichsten in Senegal, wo sich der Transport von MigrantInnen für die ansässigen Fischer als einträglicheres Geschäft erweist, als das Fischen in den von der EU angeeigneten Fischgründen vor ihren Küsten. Nun wird die senegalesische Regierung dazu genötigt, diese Dienstleistungen zu kriminalisieren und Menschen, die bereits die Kanaren erreicht hatten, zurückzunehmen. Viele von ihnen sind selbst Senegalesen und ihre Angehörigen protestieren seit Monaten gegen die Rückführungen, die von Spanien demonstrativ menschenverachtend gestaltet werden. Nachdem Ende Mai Senegalesen an die Sitze gefesselt in einem abgedunkelten Flugzeug in Dakar ankamen, musste Senegal gegenüber der EU eine "menschenwürdige Behandlung" anmahnen und mehrmals spanischen Abschiebeflügen die Landegenehmigung verweigern.[20]

Italien schloss 2002 mit Ägypten, in dem Mubarak seit 1981 im Ausnahmezustand regiert, ein Polizeiabkommen, entsandte Verbindungsbeamte an den Suezkanal und bezahlte Abschiebeflüge aus Ägypten. Seit dem sind vor allem die Anlandungen größerer Schiffe mit ImmigrantInnen aus Sri Lanka Geschichte und die Menschen auf die weitaus gefährlichere Reise durch die Sahara umgestiegen.[21] Aber auch viele Ägypter wollen über Libyen nach Italien und werden so zum Opfer der Politik ihrer Regierung. Viel problematischer ist die Situation jedoch für sudanesische TransitmigrantInnen, die der Willkür der ägyptischen Behörden ausgeliefert sind. Ende 2005 wurde beispielsweise ein Protestcamp sudanesischer AsylbewerberInnen vor dem Büro des UNHCR in Cairo mit dessen Einverständnis geräumt. Dabei kamen über 20 von ihnen - darunter Frauen und Kinder - ums Leben.[22]

Libyen, 2001 noch Schurkenstaat, konnte bis 2004 durch ein ähnliches Polizeiabkommen mit Italien die Aufhebung des Waffenembargos forcieren. Das Abkommen beinhaltete gegen die Rücknahme von MigrantInnen von Lampedusa die Finanzierung von Abschiebeflügen sowie u.a. die Lieferung von Polizeihunden, Leichensäcken, Nachtsichtgeräten, Funkgeräten, schusssicheren Westen usw.,[23] Material, das für die polizeiliche Kontrolle der Küste ebenso brauchbar ist, wie für die Ausrüstung von militärischen Spezialeinheiten (insbesondere nach einem Embargo). Um nachzuweisen, dass Libyen seinen Verpflichtungen nachkommt, muss es regelmäßig Menschen abschieben, am besten in der Wüste aussetzen, dann erfährt das auch die internationale Presse. Gegen die Lieferung von militärischem Material - darunter im Falle Tunesiens, Ägyptens, Marokkos und Mauretaniens auch Patrouillenboote - werden die Nachbarstaaten also unter Druck gesetzt, Menschenrechte zu verletzen.

Lagerkosmos

Selten ist die Lage so eindeutig wie im Falle Nouadibú, Mauretanien. Für die Militärregierung des Putschisten Ely Ould Mohamed Vall hat die spanische Armee hier das erste Flüchtlingslager des Landes errichtet, um Abschiebungen aus Spanien zu ermöglichen.[24] Lager entstanden in den letzten Jahren in allen an die EU grenzenden Staaten, meist indirekt oder direkt finanziert durch die EU oder einzelne Mitgliedsstaaten. So finanzierte Italien in Libyen, das ohnehin über vielfältige Lager und Gefängnisse für Flüchtlinge und MigrantInnen verfügt,[25] den Aufbau dreier weiterer Lager.[26] Trotz der öffentlichen Ablehnung der Pläne zunächst der britischen Regierung ("A New Vision for Refugees") und später Schilys und Pisanus, diese Lager im großen Maßstab aufzubauen, wurde von den EU- Innen und Justizministern auf einem informellen Treffen in Scheveningen (30.9.-1.10.2004) ein Pilotprojekt für die "Verbesserung der Aufnahmekapazitäten" in Algerien, Tunesien, Marokko, Mauretanien und Libyen beschlossen.

Die EU stellt außerdem über ihre Programme AENEAS, MEDA und TACIS für je vier Jahre ein Budget von insgesamt 500 Mio. Euro zur Verfügung,[27] unter anderem um den Bau von Lagern und die Einrichtung "heimatnaher regionaler Schutzprogramme"[28] unter der Kontrolle des UNHCR in Tansania sowie der Ukraine, Moldawien und Belarus zu finanzieren. In Polen und Ungarn wurde der Aufbau von Lagern unter kommissarischer Leitung von Verbindungsbeamten zwischen 2001 und 2006 über das PHARE-Programm (dessen offizieller Zweck der wirtschaftliche Wiederaufbau ist) abgewickelt.[29]

In Marokko hingegen wurde ein Großteil der Lager von den MigrantInnen selbst errichtet. Auch in Italien und Spanien gibt es Sammelunterkünfte, tw. selbstorganisiert, die sich kaum von staatlichen Lagern unterscheiden lassen. Der Ausschluss von politischen und sozialen Rechten führt zwangsläufig zur kollektiven menschenunwürdigen Unterbringung.

Militär gegen Armut

Das Lager auf Fuerteventura, der östlichsten Kanareninsel, von der die meisten "Illegalen" aufs spanische Festland oder nach Afrika verbracht werden, liegt direkt gegenüber vom Flughafen nahe der Hauptstadt, inmitten eines Militärlagers. Die Insassen werden aus der Kantine der Soldaten versorgt. Der Zutritt ist natürlich verboten, ebenso wie das Fotografieren. Ähnliche Verbotsschilder befinden sich auch um eine ehemalige NATO-Kaserne auf Lampedusa, die gerade in ein weiteres Lager umgewandelt wird und die ehemalige Kaserne bei Crotone im italienischen Kalabrien, eines der größten Lager Italiens: "Militärgelände, Betreten und Fotografieren verboten, Schusswaffengebrauch".

Das Aufgabenfeld des Militärs dehnt sich immer weiter in zivile Bereiche aus, wo es Polizeifunktionen übernimmt. Die Kontrolle der zivilen Schifffahrt wurde bereits genannt, zudem geht es aber auch um die Rettung, Versorgung und Kontrolle von Flüchtlingen und MigrantInnen. Ruft man sich ins Gedächtnis, dass diese als extrem ausbeutbare Arbeitskräfte durchaus erwünscht sind, geht es schlicht um die militärische Kontrolle und Eindämmung extremer Armut.

Nach den dramatischen Grenzübertritten bei Ceuta und Melilla wurde spanisches Militär an den Grenzzaun entsandt, bewaffnet mit Maschinenpistolen aber ohne Schießbefehl. Es ging hier nicht darum, die Grenzen noch besser zu schützen, die Guardia Civil hatte in den Tagen zuvor schon bewiesen, dass sie im Stande ist, Menschen beim Übertritt zu ermorden. Es ging darum, Soldaten und Öffentlichkeit an diese neue Rolle des Militärs zu gewöhnen.

FRONTEX und der Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts

Die europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX wird von Kritikern und Protagonisten des EU-Grenzregimes als bedeutende Neuentwicklung angesehen. Ihre Aufgaben sind die Koordinierung der operativen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten sowie deren Unterstützung in schwierigen Situationen und bei "gemeinsamen Rückführungsaktionen", die Festlegung von Standards für die Ausbildung von Grenzschutzbeamten, die Durchführung von Risikoanalysen und die Begleitung relevanter Forschung.[30] Neben einer Beobachtung des Migrationsgeschehens besteht ihre Tätigkeit darin, auf Anfrage einzelner Mitgliedsstaaten Material und Personal zusammenzustellen. Die in Warschau ansässige Agentur selbst verfügt über keine Hubschrauber oder Ähnliches und beschäftigt lediglich sechzig Beamte. Sie muss deshalb bei den Staaten um die Bereitstellung von Schiffen, Hubschraubern, Flugzeugen, sonstiger Ausrüstung und Personal anfragen, all das wird über den FRONTEX-Etat abgerechnet, der 2006 bei 15.9 Mio Euro lag,[31] in den kommenden Jahren aber auf 40 Mio. jährlich anwachsen soll.[32]

Anstatt des großen Wurfes wurde hier also eine weitere Agentur geschaffen, deren Aufgabe es ist, Polizeien und Militärs verschiedener Länder zu koordinieren und Daten zu sammeln. Hierzu wurden verschiedene Datenbanken eingerichtet, auf die alle Mitgliedsstaaten Zugriff haben. Zudem soll FRONTEX Zugriff auf die Datenbestände nationaler Geheimdienste haben und gemeinsam mit EUROPOL ein "Netz aus nationalen Experten zur Terrorismusprävention" bilden.[33] In seinen öffentlichen Aussagen gibt sich der Geschäftsführer der Agentur, der finnische Grenzschützer Ilkka Laitinen, ebenfalls gerne geheimdienstlich, etwa gegenüber der Wiener Zeitung.[34] Genaue Angaben über die Anzahl der beteiligten Schiffe und was eigentlich ihr genauer Auftrag ist, verweigert er aber auch in seinen Berichten gegenüber dem Europäischen Parlament (EP), das immerhin über das Budget eine gewisse parlamentarische Kontrolle ausüben soll.[35]

Genau dies ist bezeichnend für die Entstehung des "Raums der Sicherheit der Freiheit und des Rechts", so die offizielle Bezeichnung der EU-Innenpolitik. Sie ging hervor aus der zunächst informellen "Gruppe gegenseitige Amtshilfe" es folgte der TREVI-Ausschuss (Terrorisme, Radicalisme, Extremisme et Violence International, später K4-Ausschuss). Im Vorfeld von Schengen wurden weitere informelle Gremien durch den Rat der Innen- und Justizminister der EU bzw. der Schengen-Gruppe gebildet, u.a. die Ad Hoc-Gruppe Immigration und die Schengen-Gruppe; die Gruppe Koordinatoren Freizügigkeit; die Horizontale Informatikergruppe; TREVI ´92 zur Erarbeitung von Ausgleichsmaßnahmen für den Wegfall der Binnengrenzen und GAM ´92, eine Arbeitsgruppe der Zollverwaltungen aller Mitgliedsstaaten. Ähnlich wie bei Europol (dem "unkontrollierbaren, europäischen FBI")[36] ist bei ihnen eine ausreichende parlamentarische Kontrolle nicht gegeben.[37]

Das Grenzregime konkret

Die Abschottungs- und Abschiebemaßnahmen sind, hinsichtlich ihres erklärten Zwecks, allesamt ineffektiv. Das heißt nicht, dass in den EU-Nachbarstaaten nicht tausende Menschen auf dem Weg in die EU stecken bleiben, andere jahrelang betteln und auf der Straße leben müssen, nur um am Ende im Mittelmeer doch zu ertrinken. Die spektakulär inszenierten Migrationen übers Meer laufen im Normalfall etwa so ab: Die Menschen in Sub-Sahara Afrika kaufen zunächst in Reisebüros ein Ticket in die nordafrikanischen Staaten. Diese haben ihre offiziellen Grenzübergänge auf Druck der EU mittlerweile weit gehend geschlossen, also weichen die Transportunternehmen gegen einen Aufpreis auf gefährlichere informelle Routen aus und lassen die Menschen in den Grenzstädten aussteigen. Sie befinden sich nun in Staaten wie Marokko, einer Monarchie, die zwei Grenzkonflikte hat, Algerien, das sich nach wie vor im Ausnahmezustand befindet, Libyen, das auf der Achse des Bösen lag oder Ägypten, ebenfalls seit 1981 im Ausnahmezustand. In diesen Ländern gibt es korrupte Polizei und Militärs, einen starken Rassismus gegenüber Schwarzen und mittlerweile können sich diese Länder durch die Festsetzung und Deportation von MigrantInnen von der EU Entwicklungshilfegelder erkaufen. Dort verbringen die TransitmigrantInnen oft Jahre, in denen sie täglich Angst vor Übergriffen, Inhaftierung und Abschiebungen haben, weshalb sie sich oft in informellen Lagern zusammenrotten, die wiederum Ziel polizeilicher Räumungen werden. In diesen Ländern gibt es außerdem Dienstleister, welche die Überfahrt nach Europa anbieten, aber im Verborgenen operieren müssen, d.h., die MigrantInnen werden Nachts in vollgestopften Kleinbussen in Unterkünfte nahe dem Meer gebracht und dort versteckt, bis ein Boot zur Verfügung steht und die Bedingungen günstig sind. Es ist klar, dass sie in diesem Zeitraum der Willkür der Schleuser ausgeliefert sind. Spätestens jetzt müssen sie auch ihre Papiere vernichten.
Die Überfahrt muss lebensgefährlich sein. Wenn ein Boot mit ausreichend Nahrung, Benzin und Navigationstechnik ausgerüstet ist, wird es zurückgeschickt. Wenn die MigrantInnen ein europäisches Polizei- oder Militärboot erblicken, schütten sie ihr Benzin weg oder zerstören ihren Motor. Manchmal fährt die potenzielle Rettung aber weiter. Meistens werden die MigrantInnen aber dann an die europäische Küste zunächst in geschlossene Lager gebracht. Wer sein Leben riskiert und Glück hat, kommt dann irgendwann frei. Das Leben vollzieht sich aber in der folgenden Zeit meist weiter in Lagern, entweder offenen staatlichen oder kirchlichen Unterkünften in den Städten oder selbstorganisierten Lagern nahe den Gemüseplantagen. Ohne Rechte sind die Löhne so niedrig und ist die Sicherheit so gering, dass eine menschenwürdige Unterkunft nicht möglich ist.

Der Ausnahmezustand an der allgegenwärtigen Grenze

Wir haben also zunächst einen Widerspruch zwischen Nachfrage nach migrantischer Arbeitskraft und Bemühungen um Abschottung, der, simpel gesagt, die EU und ihre Mitgliedsstaaten extrem viel Geld kostet. Sicherlich hat dies einerseits seinen Ursprung in Meinungsverschiedenheiten und Missverständnissen zwischen denen, die die EU gestalten. So kann man ganz klar sagen, dass es einerseits die Europäische Kommission gibt, die eher wirtschaftlich denkt und sich für mehr Zuwanderung ausspricht, während der "Kampf gegen die illegale Migration" dem Rat unterliegt, der sich in diesem Themenfeld aus den Innen- und Justizministern der Mitgliedsstaaten zusammensetzt, die eher mit dem Thema "Sicherheit", also der Kontrolle der Bevölkerung beschäftigt sind. Zudem gibt es zwar in jedem Mitgliedsstaat eine politisch anerkannte Nachfrage nach migrantischer Arbeitskraft, jeder Mitgliedsstaat will aber zugleich in einer "EU ohne innere Grenzen" auch als Zugeständnis an die EU-skeptische Bevölkerung eine Kontrolle über die Zuwanderung behalten oder suggerieren, weshalb eben auch Spitzenpolitiker zwischen den Aussagen "Â…wir brauchen mehr Zuwanderung" und "Â…das Boot ist voll" oszillieren.

Die EU-Innenpolitik hat als Ziel, eben einen neuen Raum zu schaffen, den sie in orwellschem Neusprech als "Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts" definiert. Meine These ist, dass es sich dabei um die Schaffung eines Raums des permanenten Ausnahmezustands handelt. Der Ausnahmezustand wird ausgerufen aufgrund eines Notstands, einer Bedrohung der Souveränität des Staates. Seine wesentlichen Merkmale sind: die Aufhebung richterlicher und parlamentarischer Kontrolle, der Erlass von Gesetzen per Dekret, der Einsatz des Militärs im Inneren und die Einschränkung der Bürger- und Menschenrechte.

Kernaufgaben der EU-Innenpolitik (der Dritten Säule der EU) sind die Bekämpfung illegaler Migration, der international organisierten Kriminalität und des internationalen Terrorismus. Hinsichtlich der illegalen Migration wurde oben dargestellt, dass sie eben erst durch ihre Bekämpfung und Verrechtlichung entsteht. Bei allen Dreien handelt es sich um Bedrohungen, die aus einem Zusammenhang mit Migration konstruiert und als Bedrohung der nationalen Souveränität angesehen werden. Ein Einschreiten des Europäischen Gerichtshofs kann mit dem Verweis auf eine Bedrohung der Inneren Sicherheit abgewendet werden, während die nationalen Parlamente und Gerichte auf die EU-Innenpolitik nahezu keinen Einfluss haben, da diese häufig im internationalen Rahmen, intergouvernemental, verhandelt wird. Da der Rat sich aus den Exekutiven (Regierungen) der Mitgliedsstaaten zusammensetzt, innerhalb der EU aber eine legislative Funktion ausübt, ist die Gewaltenteilung hier noch mehr untergraben als innerhalb der Staaten.

Das heißt, dass der "Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts" einer sehr eingeschränkten Kontrolle der Parlamente und Gerichte unterliegt. Die Institutionen, die auf dieser Ebene tätig sind, etwa die Grenzschutzagentur FRONTEX oder EUROPOL verbinden dadurch auch wie selbstverständlich geheimdienstliche und polizeiliche Funktionen. Zugleich vermischt sich innerhalb der EU die Innen- mit der Außenpolitik, die Außenpolitik der Einzelstaaten und die EU-Innenpolitik müssen zur Deckung gebracht werden. Dies geschieht einerseits durch den Auf- und Ausbau paramilitärischer Einheiten wie der Guardia Civil, der Guardia di Finanza und der Bundespolizei, andererseits durch den Einsatz des Militärs zur Bewältigung sozialer Probleme und zur Aufrechterhaltung globaler Ungleichheiten, also den Einsatz des Militärs an den äußeren und inneren Grenzen, den Flughäfen und demnächst den französischen Banlieus. Das Objekt dieser Politik des Ausnahmezustands erkennen wir dieses Jahr in den spektakulär inszenierten Bildern von den Kanaren, den halbverdursteten MigrantInnen, aber auch den Abschiebelagern. Die "Illegalen" können jederzeit von der Straße weg inhaftiert werden, in Deutschland für 18 Monate, in anderen Ländern nur für ein oder zwei. Der Schutz vor willkürlicher Inhaftierung, der Habeas Corpus-Grundsatz, gilt als fundamentale Errungenschaft des Rechtsstaats und wurde nun für einen durchaus relevanten Teil der Bevölkerung aufgehoben. Diese Entrechtlichung der national gesehen "Anderen" macht den Weg frei für Zwangsarbeit für Arbeitslose und weitere Einschränkungen der Grundrechte auch von EU-BürgerInnen. Martialische Namen wie FRONTEX sollen suggerieren, dass ein Innen gegen ein Außen verteidigt werde und damit verschleiern, dass sich die Militarisierung auch nach Innen richtet, indem "Â… der Zugang zu sozialen Rechten und zu Aufenthaltsrechten flexibilisiert wird und wir in ein produktives System fluktuierender Rechte eintreten, das man mit Agamben ein niederschwelliges System des Ausnahmezustandes nennen könnte."[38] Die Empfänger von Arbeitslosengeld II in Deutschland beispielsweise werden Herrschafts- und Kontrollmechanismen unterworfen, die zuvor an MigrantInnen, unter ihnen insbesondere an Asylbewerbern, erprobt und eingeführt wurden: Sie müssen mit Hausbesuchen rechnen, jederzeit für "Beratungsgespräche" und Job-Angebote verfügbar sein.[39] Geradezu in den Schwarzmarkt gedrängt, werden wirtschaftliche Aktivitäten und Einkommen überwacht. Der Verdacht des Missbrauchs der "Sozialkassen" lastet generell über allen, die Hilfe in Anspruch nehmen, so wie es bei Asylbewerbern hinsichtlich des Asylrechts, des bloßen Rechts auf Gegenwart der Fall ist. Mittlerweile kursieren Vorschläge, Empfänger von Sozialhilfe mit Gutscheinen im wörtlichen Sinne abzuspeisen.

Am 18. Juli 2006 entschied der Europäische Gerichtshof, dass die Notwendigkeit, die berufliche und familiäre Situation von Arbeitslosen zu überwachen, dem Recht, sich innerhalb der EU frei zu bewegen und der Aufenthaltsfreiheit überzuordnen sei. Damit greifen die Einschränkungen für vorübergehend oder dauerhaft nicht verwertbare Menschen vom Bereich der sozialen Rechte bereits in den der Grundrechte über.

Durch die Militarisierung der Außengrenzen und der Innenpolitik sowie die Flexibilisierung von Rechten entsteht ein Subproletariat, das durch Integrationsforderungen unter der Drohung der Abschiebung zugerichtet werden kann und auch den Weg öffnet für die rechtliche Prekarisierung der autochthonen Bevölkerung unter einem sich jenseits von Recht und parlamentarischer Kontrolle entwickelnden Sicherheitsapparat aus Militär, Geheimdiensten und Polizei.

Die Bleiberechtsregelung

Dies soll zuletzt am Beispiel der deutschen "Bleiberechtsregelung" verdeutlicht werden, die am Wochenende des IMI-Kongresses von der Innenministerkonferenz beschlossen wurde. Die Innenministerkonferenz ist kein Verfassungsorgan, sondern wurde von den Innenministerien gegründet. Per Gesetz (Ausländergesetz und Aufenthaltsgesetz) wurde dieser Institution das Recht eingeräumt, einzelne Menschen, denen durch die gleichen Gesetze der Aufenthalt verboten wird, hiervon auszunehmen. Auch in der am 17.11.2006 verabschiedeten "Bleiberechtsregelung" heißt es zunächst: "Der Aufenthalt von Ausländern, die nach dieser Regelung keine Aufenthaltserlaubnis erhalten können, muss konsequent beendet werden. Die Rückführung von ausreisepflichtigen Ausländern soll durch geeignete Maßnahmen verbessert werden". Dann werden Fälle benannt, in denen Ausnahmen gemacht werden können, die Formulierung lautet exakt: "Der weitere Aufenthalt von ausländischen Staatsangehörigen kann zugelassen werden, wennÂ…", d.h., es wurde hier kein Recht für die MigrantInnen formuliert, sondern den Behörden weitere Spielräume eröffnet.

Die Grundbedingungen sind dann folgende: Kenntnis der deutschen Sprache, Aufenthalt über mindestens 6 Jahre (mit schulpflichtigen Kindern, ansonsten 8 Jahre), Nachweis (Zeugnisse), dass die Kinder die Schule besuchen und einen Abschluss schaffen werden, vor allem aber dass "Â… der Lebensunterhalt der Familie am Tag des IMK-Beschlusses durch eigene legale Erwerbstätigkeit ohne Inanspruchnahme von Sozialleistungen gesichert ist und zu erwarten ist, dass er auch in Zukunft gesichert sein wird." Da das "Bleiberecht" für höchstens zwei Jahre gilt und danach zu denselben Bedingungen verlängert werden kann heißt das, dass eine Inanspruchnahme der Sozialkassen evtl. zur Abschiebung führt. Dabei sind sich die Innenminister offensichtlich bewusst, zu welchen Beschäftigungsformen dies führt, denn sie haben explizit klargestellt, dass "Das Beschäftigungsverhältnis [auch] aus mehreren Verträgen bestehen [kann]", also aus schlecht bezahlten Minijobs ohne soziale Absicherung.

Darüber hinaus werden noch verschiede Kriterien benannt, die zu einem Ausschluss der Betroffenen von der "Bleiberechtsregelung" führen, wie evtl. begangene Straftaten oder ein unkooperatives Verhalten gegenüber Behörden, mit dem die Ausweisung oder Abschiebung behindert oder verzögert wurde. Besonders problematisch ist die nicht näher definierte und deshalb ausufernd anwendbare Ausgrenzung von Personen, "die Bezüge zu Extremismus oder Terrorismus haben" sowie die rechtsstaatlich nicht vertretbare Anwendung der Sippenhaft:
"Bei Ausschluss eines Familienmitglieds wegen Straftaten erfolgt grundsätzlich der Ausschluss der gesamten Familie."

Anmerkungen

[1] Europäischer Rat (Lissabon, 2000): Schlussfolgerungen des Vorsitzes.
[2] Kommission der EG 2005a: Mitteilung für die Frühjahrstagung des Europäischen Rates - Zusammenarbeit für Wachstum und Arbeitsplätze - Ein Neubeginn für die Strategie von Lissabon, KOM(2005) 24
[3] Kommission der EG 2005b: Strategischer Plan zur legalen Zuwanderung, KOM (2005) 669 endgültig
[4] William Walters schlägt für dieses Politikfeld den Begriff Counter-Illegal Immigration vor. Damit will er einerseits die moralistische Konotation des "Kampfes" (gegen die illegale Migration) vermeiden, andererseits klarstellen, dass hier explizit die als Gegenmaßnahmen bezeichneten Politiken untersucht werden sollen und eben nicht die illegale Immigration selbst, die durch diese erst geformt wird. Darüber hinaus mache dieser Begriff in Analogie zu Counterinsugency, Counterterrorism und Counterrevolution deutlich, dass es um mehr geht, als die Verhinderung unerlaubter Migrationen (Walters, William 2005: On the political logic of anti-illegal immigration policy, working paper for the Politics of Scale Conference, York University, Canada 4. u. 5.2.2005, zitiert mit Erlaubnis des Autors)
[5] Italienisches Innenministerium (Ministro dellÂ’Interno), 2005: La stato della sicurezza in Italia 2005, Rapporto
annuale 2005
[6] Kommission der EG 2005b, a.a.O.
[7] Ebd.
[8] Die Differenz zwischen expressiver, dramatischer, öffentlicher Politikdarstellung (Abschottung) und marktliberaler Politikherstellung (Zuwanderungsprogramme) wird in der Politikwissenschaft als Migration Gap bezeichnet. Vgl: Kolb, Holger 2003: Die "gap-Hypothese in der Migrationsforschung und das Analysepotential der Politikwissenschaft - eine Diskussion am Beispiel der deutschen "Green Card", in: IMIS-Beiträge Heft 22/2003
[9] Nach Angaben der US amerikanischen Botschafterin auf Malta, Molly Bordonaro, hat sich die illegale Migration im westlichen Mittelmeer um 50% reduziert, seit Active Endeavour dort aktiv ist. (http://valletta.usembassy.gov/vanessa.html)
[10] United Nations Convention on the Law of the Sea, in Kraft getreten am 14. November 1994
[11] Forschungsgesellschaft Flucht und Migration u.A. 2005: AusgeLAGERt - Exterritoriale Lager und der EU-Aufmarsch an den Mittelmeergrenzen (FFM-Heft 10)
[12] Rat der EU: Report on the Implementation of Programmes, ad hoc Centres, Pilot Projects and Joint Operations, unveröffentlicht.
[13] Dietrich, Helmut 2004: Die Front in der Wüste, in: Konkret 12/2004
[14] Generaldirektion für Justiz, Freiheit und Sicherheit der Europäischen Kommission: Pressemitteilung IP/03/1519
[15] Lutterbeck, Derek 2006: Policing Migration in the Mediterranean, in: Mediterranean Politics, Vol.11, no. 1
[16] Piper, Gerhard 2001: Spaniens elektronische Mauer, in: Bürgerrechte und Polizei, CILIP Heft 69. Marconi Electronic Systems fusionierte 1999 mit British Aerospace zu BAE Systems und stieg zum siebtgrößten Lieferanten des Pentagon auf, Thompson ist seit 2000 Teil der Thales-Gruppe, siehe dazu: Ohne Kontrolle, in: junge welt, 28.12.2006
[17] Piper 2001, a.a.O.
[18] Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985, Artikel 92-101
[19] Statewatch 2005: SIS II: fait accompli? - Construction of EUÂ’s Big Brother database underway, Statewatch Analysis
[20] Streck, Ralf 2006: Abschiebungen aus Spanien gestalten sich schwierig, in: Telepolis 07.06.2006
[21] Cuttitta, Paolo 2004: Das diskrete Sterben, in: Frankfurter Rundschau 14.8.2004
[22] Forced Migration and Refugee Studies (FMRS) 2006: A Tragedy of failures and false Expectations, Report on the Events Surrounding the Threemonth Sitin and Forced Removal of Sudanese Refugees in Cairo, September-December 2005, http://www.aucegypt.edu/academic/fmrs/documents/FMRSReportonRefugeeProtest.pdf
[23] Kommission der EG 2004: Report of the technical mission to Libya on illegal migration, 27.Nov-6.Dec 2004, Annex I, unveröffentlicht, URL: www.statewatch.org/news/2005/may/eu-report-libya-illimm.pdf
[24] german-foreign-policy.com 2006: Netzwerke der Flüchtlingsabwehr, 04.04.2006
[25] Zur Situation von MigrantInnen in Libyen: Hamood, Sara 2006: African transit migration through Libya - the human cost, Forced Migration and Refugee Studies, http://www.aucegypt.edu/fmrs/documents/African_Transit_Migration_through_Libya_-_Jan_2006_000.pdf
[26] Kommission der EG 2004, a.a.O., außerdem: Corte dei conti 2004: Programma controllo 2004 - Gestione delle risorse previste in connessione con il fenomeno dellÂ’immigrazione, Bericht des italienischen Rechnungshofes, URL: http://www.corteconti.it/Ricerca-e-1/Gli-Atti-d/Controllo-/Documenti/Sezione-ce1/Anno-2005/Adunanza-c/allegati-d3/Relazione.doc_cvt.htm (20.09.2006)
[27] Kommission der EG 2006: Thematisches Programm für die Zusammenarbeit mit Drittländern in den Bereichen Migration und Asyl, KOM(2006) 26 endgültig
[28] Kommission der EG 2005c: Mitteilung der Kommission an den Rat und das Parlament über regionale Schutzprogramme, KOM(2005) 388 endgültig
[29] Dietrich, Helmut 2004: Flüchtlingslager an den neuen Außengrenzen - wie Europa expandiert, in: Friedrich/Pflüger: In welcher Verfassung ist Europa?
[30] Rat der EU 2004: Council Regulation of 26 October 2004 establishing a European Agency for the Management of Operational Cooperation at the External Borders of the Member States of the European Union
[31] Goldmann, Sven 2006: Unter Flüchtlingsstrom, in: Tagesspiegel 30.10.2006
[32] Holzberger, Mark 2006: Europols kleine Schwester, in Bürgerrechte und Polizei, CILIP Heft 84
[33] Ebd.
[34] Tucek, Wolfgang 2006: Operation weit größer als bekannt, in: Wiener Zeitung online, 29.09.2006
[35] Holzberger, Mark 2006, a.a.O.
[36] Hayes, Ben 2002: The activities and development of Europol: towards an unaccountable FBI in Europe, statewatch press release, 27.2.2002
[37] Kommission der EG 2002: Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat. Die demokratische Kontrolle von Europol, KOM(2002) 92 endgültig
[38] Diefenbach, Katja 2006: Die Ankunft der Polizei - Anmerkungen über Ausnahmezustand und Prekarität, in: Fantômas, 09/2006
[39] Für Beispiele aus der Schweiz, wo die Rayon-Gesetze auch gegen DemonstrantInnen und "randständige Szenen" eingesetzt werden und der Fürsorgeentzug nun auch als Maßnahme der allgemeinen Sozialhilfe diskutiert werden siehe: Pittà, Salvatore 2006: Die Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht, in: Widerspruch 51/06