Der Pflaumenbaum und der Kommunismus

Vortrag auf dem Kongress "er ist das einfache, das schwer zu machen ist - Brecht und der Kommunismus" im Oktober 2006 in Berlin (aus dem Sonderheft der Marxist. Blätter; dort alle Kongressbeiträge)


Der Pflaumenbaum und der Kommunismus

Von Hans Heinz Holz

Die Zeiten, in denen ein bundesrepublikanischer Außenminister, Heinrich von Brentano, immerhin Träger eines berühmten literarischen Namens, Bert Brecht mit Horst Wessel zu vergleichen wagte, sind endgültig vorbei. Leider nicht in politischer Hinsicht, aber doch im literarischen Urteil. Der Rang Brechts braucht nicht mehr von Literaturkritikern und schon gar nicht mehr von Staats wegen bestätigt zu werden. Seine Stücke, seine Verse gehen den Menschen ein, seine Dialektik setzt sich in ihren Köpfen fest, selbst wenn sie die Konsequenzen noch gar nicht wahrnehmen. Sie wären lieber gut statt roh, doch die Verhältnisse die sind nicht so – das sieht jeder ein, dazu muss er nicht Peachum sein.

Diese Wirkung liegt den bürgerlichen Ideologen und ihren feuilletonistischen Hofschreibern natürlich schwer im Magen. So suchen sie nach einem Verdauungsmittel, um den schweren Brocken abzuführen. Seit Jahren bemühen sie sich, Brecht, den sie literarisch nicht loswerden, den Menschen auf andere Weise zu vermiesen. Da wird er charakterlich schlecht gemacht, politischer Zweideutigkeit geziehen, als Macho, Frauenverächter und -ausbeuter dargestellt usw. Aber so richtig zieht das ja alles nicht, denn im Kapitalismus werden ohnehin alle Schweinereien respektiert, wenn sie nur zum Erfolg führen.

Die gehobeneren Literaturkritiker haben darum eine andere Taktik gewählt, um den kommunistischen Dichter auseinander zu nehmen. Den Dichter, den sie nicht leugnen oder verleugnen können, ohne sich selbst bloßzustellen, trennen sie von dem Kommunisten, der unangenehme politische Wahrheiten ausspricht. Wo er Elend und Unrecht beklagt, ist er sozusagen eine poetische Mutter Theresa. Wo er aber zum Kampf aufruft und den Sozialismus lobt, ist er bloß ein propagandistischer Trommler. Schon vor vielen Jahren hat Hanna Arendt, diese jetzt hundertjährige fragwürdige Ikone der westlichen Politologie, die leicht nachsprechbare Parole ausgegeben: Brecht war ein guter Dichter, solange er unpolitisch war, ein bürgerlicher Anarchist, dessen Kommunismus einem psychologischen Stabilisierungsbedürfnis entsprang und der ihn dann auch noch durch die materielle Sicherheit einfing, die ihm das eigene Theater gewährte. Der „Baal“ war dann eben ein gutes Stück, die „Mutter Courage“ ein schlechtes usw. Und in der Lyrik zeige sich eben seine Menschlichkeit, in den politischen Gedichten der literarische und moralische Verfall.

In seinen Kommentaren zu Brecht schreibt Walter Benjamin über die innere Bewegunge, die sich in den Gedichten Brechts ausdrückt: „Unter ihren mannigfaltigen Haltungen wird man eines vergebens suchen, das ist die unpolitische, die nicht-soziale.“ Das ist die Einschätzung eines Autors, der seinen Platz im obersten Rang der deutschsprachigen Literaturkritik hat. Sie steht gegen alle Versuche, den Dichter Brecht gegen den Kommunisten Brecht auszuspielen, um die Kraft seines Wortes ertragen zu können, ohne sich von dem Inhalt betreffen zu lassen, der darin ausgesagt ist.

Aber Brecht widersteht einem solchen Kastrationsverfahren. Er ist, wie Walther von der Vogelweide, auch da ein politischer Dichter, wo er dem Anschein nach ganz in der subjektiven Färbung lyrischen Gefühlsausdrucks bleibt. Unter den Svendborger Gedichten, also schon in der Zeit der Emigration, ist eines, dessen Zartheit fast zur Sentimentalität verführen könnte: das „Gedicht vom Pflaumenbaum“, das zu den Kindergedichten gehört:

„Im Hofe steht ein Pflaumenbaum
Der ist klein, man glaubt es kaum.
Er hat ein Gitter drum,
So tritt ihn keiner um.
Der Kleine kann nicht größer wer’n,
Ja, größer wer’n, das möchte’ er gern.
´s ist kein Red davon
Er hat zu wenig Sonn.

Den Pflaumenbaum glaubt man ihm kaum,
Weil er nie eine Pflaume hat.
Doch er ist ein Pflaumenbaum,
Man kennt es an dem Blatt.“

Sentimentale Rührung wird verwehrt, die Kargheit der Beschreibung konzentriert sich auf eine alltägliche Situation im Hinterhof eines billigen Großstadtviertels. Eingelassen in den Asphalt-Boden, lichtarm vegetierend im Schatten der hohen Hauswände, eine kümmerliche Anspielung auf eine Natur, für die auf teurem Grund und Boden kein Platz bleibt. Beschützt muss er werden durch einen Zaun, damit niemand ihn anrempelt und knickt. Seine Kraft reicht nicht, um Frucht zu tragen, identifizieren kann man ihn an der Form des Blatts. Der Singular des Blatts ist Ausdruck tiefer Resignation.

Ein Gedicht von hoher lyrischer Aussagekraft! Ein Gedicht, in dem die Elemente des Sinns, sich durch die Negativität der bestimmenden Worte, der bestimmenden Adjektive ausdrücken. Der Baum ist klein, man sieht ihn kaum, man nimmt ihn kaum wahr. Er kann nicht größer werden, es ist zu wenig Licht. All dies sind Ausdrücke, die eine negative Umgebung für das Leben dieses Baums beschreiben. Der Rhythmus wird durch die wiederholte Aufnahme der Au-Laute: Pflaumen – Baum – kaum usw. bestimmt. Es wird eine durchgängige akustische Gefühlslage geschaffen. Dies alles steht nun in diesen zwölf Zeilen mit den kindlichen Reimen, in diesen abgrundtief traurigen Zeilen. Einem Wesen wird versagt, sich zu entwickeln, zu sein, was es seiner Natur nach sein könnte. Vom Menschen ist nicht die Rede. Aber jeder versteht: Es gibt Hinterhofkinder, die nie in Licht und Sonne spielen können. Es gibt Menschen, denen gerade nur das Mindeste zum Überleben gelassen ist und zu denen nicht einmal ein tröstendes Gedicht dringt. Wir aber, die wir Gedichte lesen, und das Leben preisen, „denn wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm“, – wir werden von dem Gedicht genötigt, etwas wahrzunehmen, wovor wir gern die Augen verschließen möchten.

„Wahrlich wir leben in finsteren Zeiten,“ sagt Brecht an die Nachgeborenen, „in Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt.“

Die Empörung gehört zu Brecht. Ist der Stil seiner agitatorischen Gedichte nun weniger kunstvoll, wie die bürgerlichen Kritiker behaupten? Vergleichen wir doch! Zum Beispiel das „Lob dser Dialektik“:

„Das Unrecht geht heute einher mit sicherem Schritt.
Die Unterdrücker richten sich ein auf zehntausend Jahre.
Die Gewalt versichert: So, wie es ist, bleibt es.
Keine Stimme außer der Stimme der Herrschenden
Und auf den Märkten sagt die Ausbeutung laut: Jetzt beginne ich erst.
Aber von den Unterdrückten sagen viele jetzt:
Was wir wollen, geht niemals.

Wer noch lebt, sage nicht: niemals!
Das Sichere ist nicht sicher.
So wie es ist, bleibt es nicht.
Wenn die Herrschenden gesprochen haben
Werden die Beherrschten sprechen.
Wer wagt zu sagen: niemals?
An wem liegt es, wenn die Unterdrückung bleibt? An uns,
An wem liegt es, wenn sie zerbrochen wird? Ebenfalls an uns.
Wer niedergeschlagen wird, der erhebe sich!
Wer verloren ist, kämpfe!
Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein?
Denn die Besiegten von heute sind die Sieger von morgen
Und aus Niemals wird: Heute noch!“

Zwei Strophen stellen Gegensätze nebeneinander. Die erste benennt, was ist, und proklamiert es als dauerhaft. „Sicher“ und „bleiben“ sind die Schlüsselvokabeln. Resignation und Passivität der Beherrschten ist die Folge. Die zweite Strophe erhebt Widerspruch – ihre erste Zeile, eingerückt, markiert den Umschlag: Aus der Verkündung des Seins entspringt der Appell zur Veränderung, die Feststellung des Werdens. Sicherheit und Dauer werden negiert. Die Aktivität des Subjekts ist ein Moment der Wirklichkeit.Was besteht, beharrt nicht, sondern kann anders gemacht werden.

Die zweite Strophe stellt die erste vom Kopf auf die Füsse. Der Parallelismus ist ein solcher der Umkehrung – die Figur der Revolution. Die Aussagen werden in Fragen, die Indikative in Imperative verwandelt. Es wird deutlich, dass aus der Gegenwart eine Zukunft hervorkommen kann: In den ersten fünf Zeilen der zweiten Strophe versinkt das Präsens im Perfekt und gebiert das Futur. Im Wandel der Tempora und Modi geschieht sprachlich aus dem Widerspruch die Mobilisation des Widerstands. Ist diese Agitation weniger kunstvoll als das lyrische Gefühl? Gerade weil sie kunstvoll ist, kann sie agitatorisch wirksam sein.

Immer wieder kommen Bäume in den Gedichten Brechts vor. Groß, als Zeichen der Beständigkeit; biegsam, als Zeichen der Überlebensfähigkeit in Sturm und Unwetter; klein und schutzbedürftig, denen der noch schwächere Mensch sich helfend zuwendet.

Auch in den späten „Buckower Elegien“ sind Tannen und Silberpappeln gegenwärtig – Hinweise auf ein Arkadien, das es erst im Verborgenen gibt, als Zufluchtsstätte, die uns ahnen lässt, wohin wir gelangen werden, in jenes Land, wovon Bloch am Schluss des „Prinzips Hoffnung“ spricht: „Jenes Land, in dem Menschen noch nie waren: Heimat.“

Philosophisch-utopisch ist damit die versöhnte Einheit von Mensch und Natur gemeint. Ich möchte hier keine Auslegung von Brechts Baumsymbolik geben, ein Schlüssel dazu finden wir aber bei ihm selbst:

„Lektüre ohne Unschuld
In seinen Tagebüchern der Kriegszeit
erwähnt der Dichter Gide einen riesigen
Platanenbaum
Den er bewundert – lange – wegen seines
enormen Rumpfes
Seiner mächtigen Verzweigung und seines Gleichgewichts
Bewirkt durch die Schwere seiner wuchtigen Äste.

Im fernen Kalifornien
lese ich kopfschüttelnd diese Notiz.
Die Völker verbluten. Kein natürlicher Plan
Sieht ein glückliches Gleichgewicht vor.“

Das glückliche Gleichgewicht, das die Natur verspricht – es ist nicht natürlich für den Menschen. Er, der Mensch muss es herstellen, indem er gesellschaftliche Verhältnisse herstellt, die Unterdrückung und Ausbeutung, Krieg und Vernichtung ausschließen. Wer wird bezweifeln, dass die politische Konsequenz, die Brecht zieht, die Konsequenz des Lyrikers ist? Und es ist die Konsequenz, deren theoretischen Ausdruck er bei Marx gefunden hatte. Schon 1928 schrieb Brecht: „Als ich ‚Das Kapital’ von Marx las, verstand ich meine Stücke.“

Wohlgemerkt: Das sagte der Dichter, der gerade seine expressionistischen, anarchistischen Stücke geschrieben hatte, „Baal“, „Im Dickicht der Städte“, die kessen Mahagonny-Songs und die zynischen Augsburger Sonette – doch eher ein Dichter des „épaterle bourgeois“ als ein Klassenkämpfer. Als er Marx las, erkannte er, wohin der rebellische Gestus zeigt. Das steile Exempel der Verkommenheit des Menschen wurde transparent auf die in utopischem Vorschein sich zeigende Wahrheit: Was schlecht ist, kann gut werden. Selbst das Geschäft der Huren birgt noch ein heuchlerisches Glücksversprechen

„Der Mensch ist so unsachlich wie ein Christ
Was ist die Fohse, die nicht menschlich ist?“

Die Illusionslosigkeit des frühen Brecht, die den Bürgern gefiel, war schon durchdrungen von der Solidarität mit dem geschundenen Menschen. So konnte dem Moralisten Brecht die Marx-Lektüre das Verständnis für das Historische geben. Natürlich haben die Bürger den Moralisten lieber; seine Denunziation des Unrechts ist folgenlos und beruhigt das Gewissen. Historische Genauigkeit aber drängt zur revolutionären Tat.

Solange die Welt eine Welt von Klassenkämpfen ist, ist Menschlichkeit erst ein Ziel, noch keine Wirklichkeit, eine ideale Norm, der nachzustreben ist, ohne dass sie stets eingehalten werden kann. Auf den roten Umsturz folgt der weisse Terror, und ihm antwortet die rote Gegenmacht ihrerseits mit Repression. Brecht war sich dieses Widerspruchs bewusst. Als Moralist litt er darunter, als geschichtlich denkender Politiker musste er ihn akzeptieren. Seiner leidenden Betroffenheit gab er auch als Dichter Ausdruck. Wer daraus eine Opposition gegen die Härten im sozialistischen Aufbau, gar gegen diesen selbst macht, verfälscht ihn. In den Buckower Elegien, geschrieben nach dem 17. Juni 1953, wird ihm die Naturidylle, dieser Vorschein von Heimat, angesichts der Schärfe des Widerspruchs schal:

„Die Silberpappel, eine ortsbekannte Schönheit
Heute eine altew Vettel. (...)
Warum?
Heute Nacht im Traum sah ich Finger, auf mich deutend,
Wie auf einen Aussätzigen.
Sie waren zerarbeitet und sie waren zerbrochen.
Unwissende! Schrie ich Schuldbewusst.“

Ist das eine Abkehr von dem politischen System, für das Brecht sich entschieden hatte und für das er eingetreten war? Wer so interpretiert und Brecht zum Antikommunisten umfärben will, hat das Schlüsselwort nicht begriffen, ja überhaupt nicht gelesen! Der Widerspruch existiert. Die sozialistische Staatsmacht und die sozialistischen Arbeiter waren in Konflikt geraten, der Klassenfeind hatte den Konflikt nutzen können, um Aufruhr zu schüren, die Staatsmacht musste ihre Machtmittel einsetzen. Dieser Widerspruch ist nicht durch Propaganda und nicht durch Obrigkeitsgehabe aus der Welt zu schaffen. Dafür hat Brecht nur die bittere Ironie des Gedichts „Die Lösung“; nämlich „dass das Volk das Vertrauen der Regierung verscherzt habe. (...) Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes“?

Aber das ist nicht das Motiv des Traumgedichts. „Unwissende! schrie ich“. Die Zeile deutet den Sinn des Traums. Schuldbewusst ist der Dichter, weil er in der Diktatur des Proletariats Repressionen hinnnehmen, ja unvermeidlich finden muss. Soll etwa dem Klassenfeind das Feld geräumt werden? Unwissend aber sind jene, die ihn deshalb wie einen Aussätzigen ausstoßen. Unwissend, weil sie den historischen Widerspruch in den Kampfzeiten des Übergangs nicht begreifen und darum aus berechtigten Interessen das Falsche tun. Unwissende heißt: Ihr seht die Gegensätze, die in Entwicklungsprozessen auftreten, nicht als Faktoren eines Ganzen, sondern macht sie euch zum Teil, der sich gegen das Ganze setzt. Die Einsicht vermindert zwar nicht das Elend dieser Gegensätze, aber sie ermöglicht es, darauf nicht zersetzend zu reagieren.

Die Silberpappel bleibt, sie wird das trübe Licht des bösen Morgens überdauern. Aber es ist die Wahrheit des Lyrikers, in den wechselnden Erscheinungen das Recht des Augenblicks zur Sprache zu bringen.

Wie nahtlos die Metapher Baum in ein politisches Bild übergeht, sehen wir in der Kantate zu Lenins Todestag. Da heißt es in der Strophe 10: „Als Lenin ging,war es, als ob der Baum zu den Blättern sagte: ich gehe.“ Da wird der Baum zu einem politischen Symbol für die Bedeutung, die Größe dieses Mannes, der an der Spitze der Oktoberrevolution stand.

Brecht kann über Bäume, über die Silberpappel, über den Pflaumenbaum sprechen, und die Untaten einer unmenschlichen Gesellschaft vor unseren Augen aufsteigen lassen, ohne sie plakatieren zu müssen. Aber wir leben in finsteren Zeiten. Wer ein Dichter ist, mag zuweilen durch die Blume sprechen. Doch es reicht nicht, auch für ihn nicht.

Weil er die Zärtlichkeit für das Bäumchen fühlt, wird seine Empfindung zur Empörung, und seine Liebe zu den Geschundenen wird zum Hass gegen die Schinder:

„Dabei wissen wir ja:
Auch der Hass gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach wir,
Die wir den Boden bereiten wollten für
Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.“

Der Schrei des Aufbegehrens, die Härte des Klassenkampfes liegt schon in der Traurigkeit über den Pflaumenbaum. Nicht erst die Anklage gegen die finsteren Zeiten ist politisch. Zu wissen, dass ein Gespräch über Bäume fast verbrecherisch ist, macht ein Gespräch über Bäume wieder möglich, und dann ist es ein politisches. Was ein Einzelner sah als eine Einzelheit – das Bäumchen im Hinterhof –, sehen viele als etwas, das (so oder anders) überall vorkommt und allen zustößt. Was einer sieht, muss er zusammen mit anderen sehen, damit sie es ändern können. „Der Einzelne hat zwei Augen, die Partei hat tausend Augen“.

„Wer aber ist die Partei?
Sitzt sie in einem Haus mit Telefonen?
Sind ihre Gedanken geheim, ihre Beschlüsse unbekannt?
Wer ist sie?
Wir sind sie!
Du und ich und ihr, wir alle. In deinem Anzug steckt sie, Genosse, und ist in deinem Kopf.
Wo ich wohne, ist ihr Haus, und wo du angegriffen wirst, da kämpft sie.“

Und darum heißt es dann im Refrain eines Kampfliedes:

„Keiner oder alle, alles oder nichts.
Einer kann sich da nicht retten.
Gewehre oder Ketten.
Keiner oder alle. Alles oder nichts!“

Wer die Stimme des Zorns und den Aufruf zum Kampf nicht hören will, der hat auch die Verletzlichkeit des Herzens nicht verstanden, die aus Brecht spricht. Der Zynismus der Männer von Mahagonny, der Sarkasmus des verliebten Schweins Malchus – sie kommen aus dem Schmerz über die zerstörte, über die verfehlte Menschlichkeit. Nein, wir können nicht freundlich sein in dieser finsteren Welt, und das Beste, was einer wie Brecht tun kann, ist ein Gedicht zu machen, das wie eine offene Wunde ist, die aufweckt, weil sie brennt. „Ich vermochte nur wenig, aber die Herrschenden saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich.“

Eine Einschaltung

Ich möchte an dieser Stelle eine Einschaltung machen, die ich als Teil zur Diskussion und nicht als Teil meines Vortrags verstehe. Wolfgang Fritz Haug hat von der Dialektik bei Brecht und den im dialektischen Denken sich öffnenden Widersprüchen in der Gesellschaft gesprochen. Ich denke, diese Widersprüche, die sich da im Gedicht schon ausdrücken, wo er sagt, wir können nicht freundlich sein in diesen finsteren Zeiten, obwohl wir es wollen, diese Widersprüche sind die Widersprüche, die im Aufbau des Kommunismus, im Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung sich ausdrücken und manifestieren und real werden.

Es geht nicht darum, eine Neugründung des Kommunismus – und das sage ich gegen Haug – zu erwägen von Brecht her, sondern es geht darum zu erwägen, wie Brecht, der unter diesen Widersprüchen zwischen dem, was da als moralisch-utopisches Ziel einer kommunistischen Gesellschaft einmal erwartet wird, und dem was wir tun müssen, um dieses Ziel zu verwirklichen – diese Widersprüche zu denken und auszuhalten.

Sonst hat man nicht verstanden, dass das Leiden am Unrecht, das geschehen ist, das Leiden, dass ein Unrecht geschehen ist, von dem Haug gesprochen hat, als er von der Periode des sogenannten Stalinismus sprach, dass dieses Leiden zugleich ein Leiden ist, das man verstehen muss als ein objektives Ergebnis objektiver Widersprüche, nicht moralisch, sondern historisch verstehen muss. Und darum: Unwissende, wenn ihr nur auf die moralische Verfehlung hinweist mit den Fingern, dann habt ihr nicht begriffen, dass wir in einer Welt leben, die ohne die fürchterlichsten Widersprüche, den Widerspruch zwischen dem ganz Großen und dem Schrecklichen, den Haug angesprochen hat, dass wir diesen Widerspruch nicht eleminieren können, sondern dass wir ihn durchstehen müssen, um eine bessere Gesellschaft zu erhalten. Soviel als Diskussionsbemerkung.

*

Aber machen wir uns keine Illusionen, wie auch Brecht sich keine gemacht hat. Die Stellung der Herrschenden wird nicht durch Gedichte verunsichert, sowenig wie durch philosophische oder gesellschaftswissenschaftliche Theorie. Es bleibt bei der Marxschen Einsicht, dass erst die Theorie, die die Massen ergreift, zur materiellen Gewalt wird. Wir müssen die Wechselwirkung von kommunistischer Einstellung und literarischer Bedeutung richtig begreifen – so wie der Gegner sie richtig begreift, wenn er den Dichter vom Kommunisten absondern will. Wir müssen sie zusammen verstehen. Nicht weil Brecht Kommunist war, wird die Macht der Herrschenden zum Erzittern gebracht, sie zu erschüttern, kann nur die organisierte Macht der Partei leisten. „Der Einzelne kann vernichtet werden, die Partei kann nicht vernichtet werden“, sagt Brecht im „Lob der Partei“. Wie hilflos ist doch der Autor für sich! Im Traum zu Besuch bei den verbannten Dichtern der Geschichte, bei Po Chü-i und Villon, bei Voltaire und Heine und anderen hört der seiner selbst gewisse Dichter die Frage:

„ ... Du, wissen sie auch
Deine Verse auswendig? Und die sie wissen, Werden sie der Verfolgung entrinnen? Das Sind die Vergessenen, sagte Dante leise.
Ihnen wurde nicht nur der Körper, auch die Werke vernichtet.
... Keiner wagte hinüberzublicken. Der Ankömmling
war erblasst.“

Gaukeln wir uns nichts vor: ohne die Partei sind wir nichts, was als Macht zählt, wenn auch die Partei keine Macht wäre ohne uns, die wir bereit sind zu kämpfen und gegebenfalls Opfer zu tragen, ja Opfer zu sein. Dieses Bewusstsein erfüllt die Brechtsche Dichtung – und kein privater Individualismus zur Selbsterhaltung, den Brecht immer wieder übte, hat diese seine Einsicht in die Notwendigkeit kollektiver Solidarität und Kampfgemeinschaft getrübt. Er ist selbstbewußt genug, in seinem Gedicht die Partei sagen zu lassen: „Wir können irren und du kannst Recht haben“, aber er bejaht die Folgerung:

„Gehe nicht ohne uns den richtigen Weg.
Ohne uns ist er
Der falscheste.
Trenne dich nicht von uns!“

Das sei all denen ins Stammbuch geschrieben, die im Zeichen des bürgerlichen Individualismus, ja seiner postmodernen Übersteigerung die Organisation verachten. Brecht zeigt uns, wie ein Leninist denken muss, wenn auch seine private Egozentrik dagegen rebelliert. Für uns ist wichtig, dass Brecht Kommunist war, der sich nicht von uns trennt. Seine Wirkung aber beruht darauf, dass er ein großer Dichter, und als solcher ein Kommunist war. Denn als Dichter fasste er menschliches Empfinden in Worte und Bilder, die auch Nicht-Kommunisten verstehen, und als Denker gab er diesen empfundenen Worten und Bildern eine kommunistische Perspektive. Der Pflaumenbaum ist es, der keine Früchte trägt, und doch die Frucht der Erkenntnis hervorbringt. Ohne Belehrung, ohne Erklärung kann Brecht uns das sagen.:

„Heute, Ostersonntag früh
ging ein plötzlicher Schneesturm über die Insel.
Zwischen den grünen Hecken lag Schnee.
Mein junger Sohn
Holte mich zu einem Aprikosenbäumchen an der Hausmauer
Weg von einer Schrift, wo ich auf jene mit dem Finger deute
Welche einen Krieg vorbereiten, der
Den Kontinent, diese Insel, mein Volk,
meine Familie und mich
Vertilgen muss. Schweigend
legten wir einen Sack
über den frierenden Baum.“

Der Sack schützt das Lebendige. Was lebendig ist, muss nicht verzagen, die Todesstarre des Schnees muss nicht hingenommen werden.

„Wer noch lebt, sage nicht niemals!
Wer niedergeschlagen wird,
der erhebe sich!
Wer verloren ist, kämpfe!
Wer seine Lage erkannt hat,
wie soll der aufzuhalten sein?
Denn die Besiegten von heute
sind die Sieger von Morgen.
Und aus Niemals wird: Heute noch!


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