Lehrerin in zwei Systemen - ein Interview

Interview mit Brigitte Müller, Lehrerin mit über 43 Dienstjahren, davon 30 Jahr DDR-Praxis, über ihre persönlichen Erfahrungen in den beiden deutschen Schulsystemen.


Lehrerin in zwei Systemen

Interview mit Brigitte Müller, Wansdorf

Nichts Gutes über die DDR darf an die Öffentlichkeit dringen. Das versucht der herrschende Block über die Medienapparate kompromißlos durchzusetzen. Du hast in beiden Systemen als Lehrerin gearbeitet. Wie sieht für dich rückblickend der Vergleich der beiden Systeme aus?

Brigitte Müller: Eine Schule ist immer nur so gut, wie es die Bildungspolitik generell ist und diese ist wiederum so gut, wie die Bundespolitik / Landespolitik angelegt ist.
Das Bildungs- und Erziehungssystem hatte in der DRR einen sehr hohen Stellenwert und ich schätze es im wahrsten Sinne des Wortes als Volksbildung ein. Im Vordergrund der Persönlichkeitsentwicklung stand die humanistische Bildung und Erziehung als Allgemeingut. Es gab in der DDR ein staatlich geführtes einheitliches polytechnisches Bildungssystem. Eine Familie mit Kindern konnte innerhalb eines Schuljahres von der Ostsee nach Thüringen, von der Elbe zur Oder ziehen. Ihre Kinder von Kinderkrippe über Kindergarten bis zur Schule fanden stets in ihren neuen Einrichtungen die gleichen Lehrbücher vor. Sie konnten fast nahtlos in allen Fächern an den erworbenen Lehrstoff anknüpfen. Dieser Tatsache lag das einheitliche verbindliche Lehrplanwerk zu Grunde und das war das Ergebnis eines langfristig wissenschaftlich angelegten Bildungssystems. Zur Volksbildung gehörten die Vorschule bis zur Berufs-, Fach- und Hochschule. Nicht umsonst hatten wir einen Volksbildungsminister.

Die Lehrer und Erzieher waren an Fach- und Hochschulen so ausgebildet, dass sie einen fachgerechten Unterricht erteilten konnten. Wobei auch die ständige Weiterbildung während der Winter- oder Sommerferien hilfreich waren. So war das Fundament für die einheitliche Bildung und Erziehung gegeben. Ich betone bewusst Bildung und Erziehung, weil das von Anfang an eine Einheit war.

In der BRD ist das Bildungssystem zweitrangig. Es gerät immer dann in die Kritik, wenn die Pisastudien ihre Ergebnisse präsentieren. Dann wird zwar breit in allen möglichen Medien diskutiert und meist „klug“ geurteilt, doch es wird nicht ehrlich nach den Ursachen der Defizite geforscht. Auch die allgemeine Feststellung der Wirtschaft, die Lehrlinge würden nur über mangelndes Wissen verfügen und es fehle ihnen an ehrgeiziger Einstellung, Kreativität und Umsicht, sie seien selten teamfähig, hilft weder Eltern, Lehrern noch Schülern, noch ändert das etwas an der Tatsache an sich. Was ich in den Jahren nach 1990 in der Schule erlebte, war hauptsächlich die Forderung, den Schülern lediglich Wissen zu vermitteln. Nicht Wissen und Können gepaart mit Fähigkeiten und Fertigkeiten, noch Erkennen von Ursache, Folge, Wirkung, noch das Erkennen von Zusammenhängen stehen im Mittelpunkt, sondern die Schüler werden nur am Faktenwissen gemessen. Dabei bleibt die Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit auf der Strecke. Der Schüler ist nur Objekt, der zu pauken hat. Den Schüler als eigenständige Persönlichkeit, als Subjekt, zu betrachten, tritt in den Hintergrund. Dadurch hat sich das Verhältnis von Erziehung und Bildung stark verändert. Die Konzentration liegt in der Entwicklung von Individualisten. Dabei kommt die Verantwortung des Schülers gegenüber seiner eigenen Lernhaltung und dem Zusammenspiel mit seinen Mitschülern (wir nannten es Kollektiverziehung) zu kurz.

Selbst die schärfsten Kritiker der DDR müssen anerkennen, dass die Bildungschancen – und auch die schulischen Leistungen und Erfolge - der „Arbeiter- und Bauernkinder“ in der DDR unvergleichlich viel besser waren. Das hatte natürlich zum einen allgemein gesellschaftliche Gründe. Das hatte aber in hohem Maße auch rein schulische Gründe. Wie müßte die Schule von heute sich verändern, wenn sie an diesen Erfolgen anknüpfen wollte? Was könnten wir von der DDR-Schule und von den damals dort tätigen LehrerInnen lernen?

Brigitte Müller: Zur vornehmsten Aufgabe des Bildungs- und Erziehungswesens der DDR, besonders in den ersten drei Jahrzehnten, gehörte die Förderung der Arbeiter- und Bauernkinder. Die Förderung der Schüler dieser Eltern, die Jahrhunderte lang unter einem Bildungsprivileg litten, wo nur Kinder von „gut betuchten“ Eltern große Entwicklungschancen eingeräumt waren, gehörte zur Gesamtzielstellung unserer Bildung und Erziehung. Deshalb galt es für uns Lehrer und Erzieher besonders in den ersten Jahrzehnten gerade denen unsere größte Aufmerksamkeit zu schenken. Es veränderte sich der Leistungsspiegel der Arbeiter- und Bauernkinder mit der Zeit zusehends zum Positiven. Nun geriet auch die gleichzeitige Förderung von Talenten und Begabungen in den Vordergrund. Wobei auch schon Anfang der fünfziger Jahre durch systematische Unterrichtsdifferenzierung methodisch darauf hin gearbeitet wurde. Die Zahl von Spezialschulen (u.a. für Mathematik und Naturwissenschaften, Fremdsprachen, Musik, Sport) wuchsen und konnten kostenlos besucht werden. Andererseits wurden Schüler mit nachweisbaren physischen und psychischen Defiziten an speziellen Sonderschulen unterrichtet, teilweise nach gesonderten Lehrplänen, aber auch nach regulärem Lehrplan. Sie wurden ihren Schwierigkeiten entsprechend gleichzeitig medizinisch betreut und erzielten nicht selten die Hochschulreife. Es konnte im Laufe der 40 Jahre das bürgerliche Bildungsprivileg durchbrochen werden.

Die Bildung und Erziehung war auch auf den außerschulischen Bereich bezogen. Jede Schule hatte für ihre Schüler und für alle Klassenstufen Arbeitsgemeinschaften (AG) bzw. Interessengemeinschaften (IG) für den Nachmittag kostenlos anzubieten. Für die Schüler der Klassen 4 bis 6 hatte das besondere Priorität, weil gerade in diesem Alter die gelenkte Freizeitbeschäftigung für den jungen Menschen nachhaltig wirken kann. Ziel war es, dass jeder Schüler in seiner Freizeit inhaltlich seinen Neigungen entsprechend selbständig die Chance hatte, sich zu orientieren, ohne Leistungsdruck spielend zu lernen. Nicht selten fand der eine oder andere dort bereits seine Wurzeln für die spätere Berufswahl.

Ich nenne hier nur einige Inhalte der einzelnen AG/IG: Naturwissenschaftlicher Bereich: (z.B. kleine Sterngucker, junge Chemiker, junge Mathematiker/Physiker, kleine Geologen, junge Naturschützer, Elektronik, Computerarbeit u.a.), Musisch- Künstlerischer Bereich: (z.B. Volkstanz, Instrumentalgruppen, Chor, bildende Kunst, Szenisches Darstellen u.a.), Sportlicher Bereich: (z.B. vielfältige Ballspiele, Angeln, Leichtathletik, Geräte turnen, Schwimmen, junge Rettungsschwimmer, u.a.), Allgemeinbildender Bereich: ( Kochen und Backen, kleine Feuerwehrleute, junge Verkehrshelfer, junge Sanitäter u.a.). Jeder Arbeitsgemeinschaftsleiter bekam pro Stunde netto 9,- Mark. Um diesen Bereich pädagogisch zu führen, hatte jede Schule einen stellvertretenden Direktor für außerunterrichtliche Arbeit, natürlich gehörte auch die Erziehung und Betreuung für die Klassen 1-4 im Hort dazu.

Hinzu kommt, dass mit einem garantierten Ausbildungs- und späteren Arbeitsplatz den Eltern und Schülern /Studenten eine verlässliche Sicherheit geboten wurde. Das war wiederum das Fundament, um sich von der Geburt bis zum Erwachsensein mit gleichen Chancen gesund und zufrieden entwickeln zu können. Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass dadurch junge Eltern zum Kinderwunsch ermutigt wurden.

Die Pädagogen der ersten Klassen wussten, dass sie ABC-Schützen zum Schuljahresbeginn empfingen, die durch Kinderkrippen und Kindergärten so vorgebildet und erzogen waren, dass die Kollegen systematisch darauf aufbauen konnten.

Die Schulleitungen ließen uns Lehrer mit den o.g. Fragen natürlich nicht allein. Im Gegenteil, regelmäßige monatliche Dienstberatungen, Fachzirkel, Gewerkschafts- und Parteiversammlungen, Elternbeiratsberatungen u.a. begleiteten uns in unserer Arbeit. Hier wurden konkrete Inhalte des Unterrichts besprochen, Erfahrungen ausgetauscht, über Erziehungserfolge und Misserfolge, methodische, pädagogische und psychologische Probleme beraten. Diese Beratungen wurden gründlich geplant und vorbereitet. Höhepunkte des Schuljahres waren die Pädagogischen Räte. Hier wurden Leistungs- und Erziehungsanalysen ausgewertet, die auf Vergleichsarbeiten der einzelnen Klassenstufen und Unterrichtsfächer bzw. Hospitationen (durch Schulleiter, Fachberater, Gruppenhospitationen durch den Fachzirkel - Fachlehrer der eigenen Schule) fundierten. Neue Ziele für das nächste Halbjahr wurden schlussfolgernd festgelegt. Zugegeben, so manch ein Lehrer empfand das als Kontrolle seiner Arbeit. Doch im Mittelpunkt stand immer die Schülerentwicklung, sodass nicht erst ein halbes Jahr im stillen Kämmerlein rumgedoktert werden konnte, um Fehler in der pädagogischen Arbeit festzustellen, oft wäre es dann zu spät gewesen. So konnte beispielweise auch kein Schulschwänzer aus den Augen verloren werden, das Nichtanfertigen von Hausaufgaben oder die nicht mitgebrachten Arbeitsmaterialien (Mappe packen!!), das Zuspätkommen, all diese Dinge, mit denen sich ein Lehrer, seitdem es Schulen gibt, überall mal mehr, mal weniger „rumzuärgern“ hat, wurden besprochen, auch sofortige Elternbesuche konnten vieles klären. Das erleichterte uns Lehrern sehr die Arbeit und letztendlich fand auch der betreffende Schüler wieder Lust, sich auf den Unterricht zu freuen, weil er Erfolge, oft schon durch kleines und größeres Lob erlebte, das sich dann wiederum auf die schulischen Leistungen niederschlug.

Seit 1990 gab es diese intensive Begleitung unserer Arbeit nicht mehr. Wobei ich das nur für die drei Schulen, an denen ich seit 1990 tätig war, durch meine dortige praktische Arbeit korrekt einschätzen kann. Jedoch Gespräche mit Kollegen auch in ländlichen Gegenden Brandenburgs wurde mir ähnliches bestätigt. Die Rektoren erfahren auch entschieden weniger praktische Hilfen seitens der Schulämter als zu DDR-Zeiten. Die Rektoren machen sogenannte Bildungsreisen durch Mitteleuropa (während der Schulzeit), was ihre Weitsicht schulen mag, jedoch die praktische Arbeit vor Ort wird nur dann relevant, wenn es Beschwerden seitens der Eltern gibt.

Der renommierte Bildungsforscher Fend hat das deutsche Schulwesen als von „Entsorgungsmentalität“ geprägt bezeichnet. Viele LehrerInnen können sich einen erfolgreichen Unterricht in einer Einheitsschule mit ihren heterogenen Lerngruppen nicht vorstellen, verbinden teilweise sogar einen ausgesprochenen Horror mit dieser Vorstellung. LehrerInnen aller Schulformen, bis hin zur Hauptschule, scheinen durchdrungen von dem Gedanken, sie hätten eigentlich die falschen weil zu wenig leistungsfähigen SchülerInnen vor sich.

Brigitte Müller: Bei dieser Frage sprechen die Erfolge der Absolventen der DDR – Bildungseinrichtungen für sich. Es steht noch immer die Frage im Raum, warum vor 1989/90 und vor dem 13.August 1961 ständig und gezielt Facharbeiter und Hoch- bzw. Fachschulabsolventen durch die BRD-Wirtschaft „finanziell“ angelockt und abgeworben wurden. Die fehlende Antwort können wir uns selber geben. Die abgeworbenen jungen Leute besaßen nicht nur eine fundierte Allgemeinbildung, sondern auch solide Fachkenntnisse. Für uns war ein hohes Leistungsniveau eben immer auch ein selbstverständliches Ziel der Schule – nach dem Motto: Ich fordere dich weil ich dich achte.

Und wenn heute Finnland als das große Beispiel dargestellt wird, so weiß doch inzwischen jeder, dass die Finnen sich in den 70er Jahren das DDR-Schulwesen sehr genau angeschaut haben, bevor sie an ihre große Schulreform gingen. Das war durchaus kein kurzer Höflichkeitsbesuch sondern die Kontakte waren immerhin so intensiv, dass auch ein recht enges persönliches Verhältnis – um nicht zu sagen: Freundschaft – zwischen der finnischen und der DDR-Bildungsministerin daraus hervorging.

Also, warum an differenziert angelegter, wissenschaftlich durchdachter, einheitlicher polytechnischer Bildung und Erziehung zweifeln? Der Beweis ist erbracht! Und zwar in Deutschland.

Natürlich heißt das nicht, dass es nicht auch Defizite gab. Und diese wurden nicht vertuscht oder verniedlicht, im Gegenteil. Mit Hilfe von Fachberatern und Schulpsychologen (für jedes Unterrichtsfach bis in jeden Landkreis wurden alle Schulen von diesen Kollegen regelmäßig betreut) wurde daran gearbeitet.

Das Problem der o.g. Frage und das dahinter stehende Unverständnis liegt im gesellschaftlichen System begründet.

Entsorgungsmentalität gegenüber Schülern finde ich schrecklich. Sie ist unprofessionell und pädagogisch destruktiv; sie zerstört das Verhältnis zum Kind; sie ist in der Schule ganz einfach unzulässig; und ein System, das von dieser Mentalität geprägt ist, muss zwangsläufig größte Probleme haben. Bei uns gab es das nicht, schon gar nicht als Grundzug des ganzen Systems, und wo sich individuell Ansätze dazu entwickelten, wurde sofort mit Hilfe des Kollegiums diesem Ansatz Einhalt geboten.

Es sei mir gestattet, ein Beispiel zu nennen. Ich führte 1974 eine 10.Klasse zur Abschlussprüfung. Eine der Schülerin hatte in den Jahren bereits ein Schuljahr wiederholt und sollte nun trotzdem die Abschlussprüfung erfolgreich bestehen. Mit liebevoller Strenge und Konsequenz arbeitete ich mit der besagten Schülerin, auch leistungsstarke Schüler übten mit ihr, um die Wissenslücken zu schließen. Mehrere Schüler waren mit den Lehrern hilfreich bemüht, dass auch dieses Mädchen den erfolgreichen Schulabschluss erzielen konnte. 1987 gab es ein Klassentreffen mit dieser, meiner ehemaligen Klasse. Sehr viele ehemalige Schüler nahmen daran teil, auch die besagte Schülerin, nun eine junge Frau, war anwesend. Nach der Begrüßung wurde ein so nett gestaltetes Büfett eröffnet, das es mich sehr überraschte. Bei meiner Frage, wer das so nett angerichtet habe, stand die besagte junge Frau bescheiden neben mir und sagte voller Stolz, dass sie dies angerichtet habe. Es hätte ihr viel daran gelegen, mir den Mitschülern und mir zu beweisen, was aus ihr geworden sei, sie hatte Köchin gelernt und den Meisterbrief erlangt. Diese junge Frau hat sich bei uns bedankt und zu mir sagte sie voller Dankbarkeit: „Das habe ich nur durch Ihre Hilfe, Frau Müller, erreicht, denn ohne Schulabschluss hätte ich nie eine Meisterschule besuchen können.“ Heute ist sie in den Fängen der ALG II. Ich will damit nur sagen, vom Lehrer-Schülerverhältnis hängt viel ab. Wenn das gegenseitige Vertrauen vorhanden ist, können wir die Schüler meist zu Lernerfolgen führen, auch Kinder aus sozialen Brennpunktfamilien.

Was hast du nach der Wende bei deinem neuen Lehrerinnendasein als besonders positiv empfunden – und was als besonders negativ?

Brigitte Müller: Besonders positiv empfand ich nach 1989/90, wenn sich ehemalige Schüler und Eltern beim Zusammentreffen mit uns Lehrern besorgt danach erkundigten, ob wir noch im Dienst seien. Viele Eltern legten – übrigens bis heute - Wert darauf, ihre Kinder von DDR-Lehrern unterrichten zu lassen. Das war und ist für mich der Beweis der Anerkennung nicht nur meiner Lehrerpersönlichkeit, sondern die Wertschätzung unseres Bildungssystems überhaupt.
Als besonders schmerzlich traf mich: das angeordnete Lehrbüchervernichtungsprogramm (auf jedem Schulhof standen im Sommer 1990 Container, in die die Lehrbücher der DDR, Landkarten, Anschauungsmittel, die den Anflug von sozialistischer Bildung an sich trugen, geworfen werden mussten).

Zwischenfrage:
Das riecht nach Bücherverbrennung und nach einer gezielten Demütigung. Gab es damals Gegenwehr gegen diese Maßnahme?

Brigitte Müller: Leider viel zu wenig. Die meisten Kollegen waren mit sich beschäftigt, waren um ihren Arbeitsplatz mit Recht besorgt und saßen kopfschüttelnd dabei. Interessant war, dass die Schüler, einige, aber immerhin in die Container kletterten und holten sich Symbole der FDJ und Pionierorganisation wieder heraus, die vorher besonders „eifrige“ Lehrer „entsorgen“ wollten. Eltern holten Bücher und Landkarten. Nein, eine aktive Gegenwehr gab es nicht. Mag sein, dass es auch daran lag, dass für viele Kollegen die wahre Situation mit ihren Folgen nicht sofort begriffen wurde.

Ja, es riecht nicht nur nach Bücherverbrennung, ganze Bibliotheken flogen durch die Fenster auf die Straße. Beherzte Bürger sammelten, was sie konnten und soweit die häuslichen Lagerkapazitäten es zuließen.

Als Ersatz bekamen wir dann veraltete Lehrbücher aus Westberlin aus den siebziger Jahren, mitten im Schuljahr des letzten Halbjahres nach DDR-Recht von heut auf morgen wurde auf Anordnung des Berliner Senats die Kürzung von Fachunterricht und teilweise ersatzlose Streichung der Stunden vollzogen. Es schmerzt mich, dass heute Eltern für ihre Kinder im außerschulischen Bereich (Hort, Arbeitsgemeinschaften) zahlungskräftig sein müssen, dass sofort die tägliche Mittagsmalzeit und die Frühstücksmilch im Preis derart in die Höhe schnellte, so dass heute nur noch ein minimaler Teil an Schülern sich diese Selbstverständlichkeiten leisten kann, dass das Fehlen an Wandertagen kein gewöhnliches Schwänzen ist, sondern das Fahrgeld für Bus oder Straßenbahn und Eintritt zu Ausstellungen oder Sportstätten einfach fehlen, dass sich Eltern und Schüler schämen, den wahren Grund ihres Fernbleibens anzugeben, dass längst nicht alle Schüler aus Kostengründen an Klassenfahrten teilnehmen können, die „Klagelatte“ könnte ich leider noch verlängern.

Gibt es ein irgendwie bedeutsames persönliches Erlebnis oder Ereignis in diesem Zusammenhang, das du weitererzählen möchtest?

Brigitte Müller: Im Lesebuch für Klasse 7 (13/14 jährige Schüler) aus dem DDR-Verlag Volk und Wissen befand sich u.a. die Novelle „Kleider machen Leute“ von Gottfried Keller. Mit dieser Literatur hatten wir Jahrzehnte mit den Schülern interessante Unterrichtsstunden gestalten können. Die Lesebücher wurden auf Anordnung vernichtet, weil sie aus der DDR waren, dass die Novelle zur klassischen Literatur gehört, interessierte nicht.

Nun sollten Schüler des gleichen Alters mit Hilfe von kurzen Textbeispielen der gleichen Literatur im Fach „Schriftlicher- und mündlicher Sprachgebrauch“ nach Weststandard arbeiten, ohne den zusammenhängenden Text zu kennen. Das geht aber nicht effektiv, höchstens oberflächlich. Also nahmen verantwortungsvolle Kollegen aus ihrem Privatbesitz den Text und fertigten für jeden Schüler Kopien der vollständigen Novelle an – welch Unsinn!

Nachdem ich 1996 eine 4. Klasse in einer Grundschule in Bln.- Marzahn übernahm, sprach mich ein Vater an. Nachdem er sich das Lehrbuch für den „Sachkundeunterricht“ seines Sohnes angesehen hatte, stellte er voller Empörung fest, dass einige Texte über die DDR einfach historisch falsch bzw. nur diffamierend waren. Ja, er bat mich sogar, die Themen korrekt zu behandeln und auf die Falschdarstellung hinzuweisen. Ansonsten diese Bücher den Kindern nicht selbständig zu überlassen.

Zu den schwersten persönlichen Erlebnisse gehören (1992 und 1994) die Selbsttötungen von einem ehemaligen (24 Jahre) und einem 12jährigen Schüler.

Beide waren Opfer der Änderung des gesellschaftlichen Systems und seiner Folgen.

Beide waren gebildete junge Menschen, die theoretisch hätten im späteren Berufsleben nennenswerte Erfolge erzielen können. Sie haben beide schriftlich die Begründung ihrer Handlung und die für sie zu der Zeit aussichtslosen Situation hinterlassen. Dass die Eltern später daran zerbrachen, muss ich nicht sonderlich erwähnen.

Was würdest du den Schulpolitikern und oder den LehrerInnen von heute ins Stammbuch schreiben?

Brigitte Müller: Die Lehrer sollten die Kraft und den Mut aufbringen, die Schulpolitiker zu zwingen, dass diese ihre Forderungen durchsetzen, die ich u.a. in folgenden Punkten sehe:
0. Ein einheitliches Bildungs- und Erziehungsprogramm muss her!
1.Nicht am Symptom „rumdoktern“, sondern die Ursachen benennen und verändern, sonst verfallen die Bildungsministerien nach jeder Pisastudie weiter in Aktionismus und für alle Misserfolge, Entwicklungs- , Leistungs- und Erziehungslücken der Schüler werden die Lehrer verantwortlich gemacht.
2.Die Klassenstärke auf 23/24 Schüler in Regelschulen senken.
3.Die Wochenpflichtstunden der Lehrer ebenfalls auf 23 (DDR-Maßstab) bei vollem Lohnausgleich senken.
4.Der Lehrer muss wieder zur Autorität werden, zum geachteten Partner für die Gesellschaft und dadurch auch für die Eltern.
5.Der Berufsstatus muss von der Gesellschaft anerkannt und gewürdigt werden.
6.Elternhaus, staatliche Institutionen, Betriebe vor Ort müssen nicht nur in das Bildungssystem integriert werden, sondern sie haben feste Aufgaben zu lösen.
7.Nicht mehr nach dem Prinzip lehren: Mit möglichst wenig Aufwand, weniger Kosten möglichst schnell die Schüler zum Abschluss führen.
8.In engem Zusammenwirken mit den Eltern sollte man sich wieder auf die Tradition des Erzogenseins besinnen und sich nicht scheuen, diesen Fakt zu benennen. Und die Erziehung in sozialen Brennpunktfamilien darf nicht dem Zufall überlassen bleiben.
9.Lernerfolge müssen für die Schüler sichtbar werden, Lernen muss sich wieder lohnen, weil es Spaß machen kann.
10.Grundschulklassen mit kleineren Klassen und mehr Lehren und Erziehern ausstatten.
11.Die Vorschulbildung obligatorisch für jedes Kind einfordern und das kostenlos!
12.Die Bereitschaft der Schüler zum Lernen durch das Vermitteln von Techniken des geistigen Arbeitens anbieten, also das Lernen lehren.

Die Lehrer sollten, wenn sie sich für den Beruf entschieden haben und diesen nicht aus Versorgungsgründen wählten, sich ausschließlich für die Schüler verantwortlich fühlen und nicht vordergründig sich als Staatsdiener fühlen.

In den letzten Jahren hatte ich zwei Begegnungen mit ehemaligen DDR-Bürgern, die mir schilderten, wie ihnen trotz überdurchschnittlicher Leistungen der Zugang zur Oberstufe und damit zu einem Hochschulstudium allein auf Grund ihrer religiösen Überzeugungen verweigert worden war. War das das übliche Verfahren? Hatten Schüler, die zu ihren religiösen Überzeugungen standen, womöglich auch schon in der Unter- und Mittelstufe bestimmte Probleme?

Brigitte Müller: Nein, das war wirklich nicht die übliche Verfahrensweise. Schüler, die nicht Pionier oder FDJler waren, die nicht an der Jugendweihe teilnahmen, mit denen wurde gesprochen, auch mit den Eltern. Aber wenn Eltern und Schüler bei ihrer Meinung blieben, war die Sache erledigt. Wenn sie wollten, konnten sie an allen Pionier- und FDJ- und Jugendweiheveranstaltungen teilnehmen und ließen es die Leistungen zu, war der Besuch an der Oberschule möglich.

Jedenfalls für die Schulen, an denen ich tätig war, kann ich mit Bestimmtheit sagen, dass es das oben behauptete Verfahren nicht gab.

Das sind Behauptungen, die mich immer aus neue bewegen. In meinen 30 Dienstjahren in der DDR, in fünf Schulen war ich tätig, auf dem Dorf, in einer Kleinstadt und in der Hauptstadt, habe ich das nicht erlebt. Ich kann es auch nicht generell verneinen, weil ich natürlich nicht die Übersicht habe. Aber wenn es so etwas gab, waren Beschwerden beim Schulrat - meistens gingen die Leute bis zum Staatsrat - möglich und wurden in der Regel mit Erfolg geführt. Ich möchte jedoch davor warnen, solche Behauptungen blauäugig zu glauben. Meine Erlebnisse mit Leuten, die mir ähnliche Beispiele schilderten, haben mir gezeigt, dass sich meist bei genauerem Nachfragen bereits Zweifel ergeben. Frau Merkel durfte auch als Pastorentochter das Abitur ablegen und bekam ein Studium in der SU.

Was es gab, war die Werbung für besondere Berufswünsche, Mädchen für naturwiss. Bereiche, besonders Chemie/Physik/Mathematik, Lehrer (männl., weil es überlastig mit Frauen besetzt war) und Offizierslaufbahnen. Schüler mit diesen Wünschen wurden, wenn die Leistungen stimmten, vorrangig zur Oberschule, später Erweiterte Oberschule - EOS zugelassen. Die Plätze waren auch limitiert. Das hieß besonders für Medizinstudien, dass besonders gute Leistungen vorzuweisen waren (Bedarf und Nachfrage wurde damit geregelt).

(Die Fragen stellte Rolf Jüngermann, Redakteur der Marxistischen Blätter)

Vorstellung Brigitte Müller:
Unterstufenlehrerin, ausgebildete Diplomlehrerin für die Fächer Deutsch und Geschichte, Oberlehrerin, Trägerin der Pestalozzi-Medaillen, der Theodor-Neubauer-Medaille in Silber,
Laufbahn: Horterzieherin, Pionierleiterin, Unterstufenlehrerin, Oberstufenlehrerin, Klassenleiterin, Fachberaterin für das Fach Deutsch im Stadtbezirk Bln.-Marzahn, stellvertretende Direktorin, Leiterin für lehrplanbegleitende Seminare, Mitarbeiterin des schulpsychologischen Dienstes, über 43 ununterbrochene Dienstjahre, davon 30 Jahr DDR-Praxis, ( verheiratet, Mutter und Großmutter)

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