Arbeitszeitpolitik am Ende?

Jörg Wiedemuths Resignation in Sachen 30-Stunden-Woche ist berechtigt - und gerade deshalb muss weitergedacht werden.

Jörg Wiedemuth sieht die Gewerkschaftsbewegung in der Defensive (http://www.linksnet.de/artikel.php?id=2884). Die Forderung nach einer Umverteilung der Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung - in welcher Form auch immer - verliere an Boden. Es gehe eher in Richtung 40 Stunden realer gesellschaftlicher Arbeitszeit. Die wenigen noch bestehenden Inseln der 35-Stunden-Woche seien bedroht durch die Angriffe der Arbeitgeber. Zwar hätten sich die Beschäftigten im öffentlichen Dienst im letzten Jahr (2006) in einem mehrmonatigen Arbeitskampf gegen die Arbeitszeitverlängerung gewehrt, ihre 38,5-Stunden-Woche auch in großen Bereichen verteidigt, aber in weniger kampfstarken Bereichen auch eine Verlängerung hinnehmen müssen.

In dieser Situation sieht er keine gewerkschaftliche Basis für die Forderung nach einer 30-Stunden-Woche, also für eine weitere, flächendeckende Wochenarbeitszeitverkürzung. "Wer die 30-Stunden-Woche wieder auf die Tagesordnung setzen will, sollte zumindest andeuten, wie dafür eine mobilisierungsfähige Mehrheit entstehen könnte". Wiedemuths Hoffnung ist bescheidener: Der arbeitszeitpolitische roll-back möge gestoppt und die Beschäftigten sich der Zumutungen permanenter Mehrarbeit bewusst werden. Immer mehr Menschen sollten sich gegen ungünstige, familienfeindliche Arbeitszeiten am Abend und am Wochenende wehren und das Bedürfnis nach geschlechtergerechter Arbeitszeitverteilung solle wachsen. 30-Stunden-Woche, das neue Heiligtum traditionsbewusster linker Gewerkschafter, ade - zur Zeit keine Chance.

Ich gebe Jörg in seiner Analyse Recht, möchte sie aber zuspitzen. Die Strategie der einheitlichen Wochenarbeitszeitverkürzung ist etwa Mitte der 90er Jahre an eine Grenze gestoßen, nicht nur wegen des mit wachsender Massenarbeitslosigkeit veränderten, ungünstigeren Kräfteverhältnisses, sondern auch, weil die Lebensentwürfe und Zeitbedürfnisse der Menschen in den unterschiedlichen Beschäftigtengruppen sich von der Strategie einheitlicher Wochenarbeitszeitverkürzung zunehmend entfernen. Die Verallgemeinerung der 35-Stunden-Woche auf alle Branchen ist nicht nur an den Arbeitgebern gescheitert, sondern auch an einem Loyalitätsverlust unter den Beschäftigten, die mit ihren sehr unterschiedlichen Lebens- und Arbeitsverhältnissen eher eine individuell zugeschnittene Arbeitszeitregelung brauchen als ein für alle einheitliches Arbeitszeitschema.

Das heißt nicht, dass die vergangenen Arbeitszeitverkürzungen - wenn sie einmal durchgesetzt waren - nicht angenommen wurden, ganz im Gegenteil: Im öffentlichen Dienst haben die Beschäftigten ihre 38,5-Stunden-Woche im Tarifkonflikt 2006 erbittert verteidigt, weil sie genau wussten, dass jede Arbeitszeitverlängerung von den Arbeitgebern ein zu eins in Stellenabbau umgesetzt würde. Aber würden sie sich in gleicher Weise mobilisieren lassen für eine Arbeitszeitverkürzung - sagen wir - auf 37 oder 36 Wochenstunden? Wohl kaum, denn sie verbinden damit nicht mehr Freizeit, mehr Geschlechtergerechtigkeit, weniger Zeitkonflikte usw., sondern mehr Arbeitsverdichtung, mehr Stress, womöglich auch Einkommensverzicht.

Ist damit die Grundannahme erledigt, durch Arbeitszeitverkürzung könne die vorhandene gesellschaftliche Arbeit auf mehr Menschen verteilt und Arbeitslosigkeit abgebaut werden? Ist das Anliegen, ein ausgewogenes, lebbares, unter den Geschlechtern gerecht (oder zumindest gerechter) verteiltes Verhältnis von Erwerbs- und Familienarbeit zu schaffen, von der Tagesordnung abgesetzt? Im Gegenteil. All dies ist höchst aktuell und die konkreten Lebenskonflikte der Menschen resultieren zu einem großen Teil daraus, dass Erwerbsarbeit nach wie vor zwischen Arbeitenden und Arbeitslosen, zwischen den Geschlechtern ungleich verteilt ist und die Menschen keine Möglichkeit sehen, die Bedingungen ihrer Erwerbsarbeit entsprechend ihrer Lebenssituation individuell zu gestalten.

Es gibt zaghafte Schritte, den Menschen individuelle Optionen auf Verkürzung bzw. zeitweilige Freistellung von der Erwerbsarbeit zu eröffnen und damit zugleich bisher nahezu unlösbare Lebenskonflikte zwischen Erwerbs- und Familienarbeit zu entschärfen. Das Elterngeld funktioniert - entsprechend (erfolgreichen) skandinavischen Vorbildern - faktisch als Lohnersatzleistung bei einem zeitweiligen (vollständigen oder teilweisen) Ausstieg aus der Erwerbsarbeit. Damit sind zwei grundsätzliche Probleme gelöst:
- erstens ist das Rückkehrrecht gewährleistet,
- zweitens gibt es für die Zeit reduzierter Erwerbsarbeit eine finanzielle Absicherung, die gerade dann am notwendigsten ist, wenn mit der Geburt eines Kindes die finanziellen Belastungen steigen.
Gleichzeitig aber mit dieser konfliktentlastenden Option für die einzelnen Beschäftigten wird dem Arbeitsmarkt durch die Freistellung Arbeitskraft entzogen, werden Stellen für Vertretungskräfte frei, gibt es einen verstärkten Sog hinein in den Erwerbssektor.

Zaghaft ist dieser Schritt deshalb, weil er beschränkt ist auf eine spezifische Lebenssituation, auf die Zeit nach der Geburt eines Kindes. Notwendig und möglich ist eine Ausweitung der Freistellungsoption, etwa als alle paar Jahre sich erneuernde Option für Kinderbetreuung (z.B. wenn Eltern während der Pubertät ihrer Kinder wieder verstärkt gefordert sind), oder im Sinne einer Ausweitung der Freistellungskriterien. In Dänemark wurde 1994 angesichts einer Arbeitslosenquote von etwa 12 Prozent das sog. "Urlaubsgesetz" verabschiedet, das den Beschäftigten Freistellungsoptionen für ein Jahr bei Kindererziehung, Fortbildung oder ohne jede Zweckbindung eröffnete. Diese Optionen für einen zeitweiligen - ganzen oder teilweisen - Ausstieg aus der Erwerbsarbeit können individuell und kollektiv (tariflich geregelt) wahrgenommen werden.

Sie wurden und werden massenhaft angenommen, weil sie elementaren Lebensbedürfnissen der Menschen (auch der Männer) einen Raum eröffnen, der vorher unter dem rigiden Zeitregime ununterbrochener Erwerbsarbeit nicht vorhanden war. Gleichzeitig haben die Menschen diese Form selbstgewählter "Erwerbsarbeitslosigkeit" dank der arbeits- und sozialrechtlichen Absicherung nicht als Arbeitslosigkeit empfunden, sondern als Chance zur Verbesserung ihrer Lebensqualität. In wenigen Jahren ist die unfreiwillige Arbeitslosigkeit in Dänemark auf den heutigen, niedrigen Stand zwischen vier und sechs Prozent gesunken. Die massenhafte Freistellung von Erwerbstätigen bewirkte auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich eine Arbeitsumverteilung, die den zuvor Arbeitslosen zugute kam. Unfreiwillige, erlittene, ausgrenzende Arbeitslosigkeit wurde verwandelt in eine freiwillige Option auf Lebenszeit außerhalb der Zwänge des Erwerbssektors.

Der Abbau von Arbeitslosigkeit vollzog sich dabei in der Regel nicht durch direkte Einstellung von zuvor arbeitslosen Vertretungskräften, sondern als Ergebnis von komplexeren Umdispositionen innerbetrieblicher Personalpolitik. Gleichzeitig löste das Urlaubsgesetz einen Fortbildungsboom aus, weil Beschäftigte und Arbeitgeber auf Basis des Gesetzes weitreichende Freistellungen zwecks Qualifizierung verabreden können, ohne dass für die eine oder andere Seite größere Nachteile entstehen. Das Urlaubsgesetz hat die Freistellungen aus dem Verteilungskonflikt zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern herausgenommen und damit eine ganz wesentliche Barriere für die massenhafte Wahrnehmung der Freistellungen beseitigt. Es hat gleichzeitig die Räume geöffnet für eine massenhafte Qualifizierung des gesellschaftlichen Arbeitskräftepotentials

Welche Schlussfolgerungen ergeben sich?

- Arbeitsumverteilung durch Arbeitszeitverkürzung ist möglich, aber nicht durch schematische Verlängerung des Kampfes um Wochenarbeitszeitverkürzung bis zur 30-Stunden-Woche, sondern durch verbesserte gesetzliche Rahmenbedingungen für individuelle und kollektive Freistellungsoptionen.

- Um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, muss man nicht bei den Arbeitslosen ansetzen, sondern bei den Beschäftigten. Nicht die Arbeitslosen müssen durch Repression oder finanzielle Strafandrohung in den Erwerbssektor hineingepresst werden (was ohnehin nicht funktioniert), sondern den Erwerbstätigen müssen arbeits- und sozialrechtlich abgesicherte, attraktive Freistellungsoptionen eröffnet werden.

- Große Schritte der Arbeitszeitreduzierung und -umverteilung sind zwar notwendig, aber im Verteilungskonflikt mit den Arbeitgebern nicht durchsetzbar. Staatliche Transferleistungen wie beim dänischen Urlaubsgesetz können diesen Konflikt entschärfen und damit die Spielräume für reale Arbeitsumverteilung erweitern.

Der Abbau von Arbeitslosigkeit, dies ist das ernüchternde Ergebnis, ist allein durch den gewerkschaftlichen Kampf um tarifliche Arbeitszeitverkürzung nicht zu schaffen. Notwendig ist gleichzeitig der politische Kampf um die Veränderung gesetzlicher Rahmenbedingungen in der Arbeitswelt - also eine die persönlichen Arbeitszeitbedürfnisse der Menschen unterstützende Gesellschaftspolitik. Das Elterngeld ist ein Anfang, hoffentlich nicht das Ende.

Martin Kempe ist Chefredakteur von ver.di PUBLIK.