Kirchliche Herrschaftsmoral

Seit im Lande schlechte Stimmung herrscht, vernehmen wir, ans Volk gerichtet, den täglichen Appell: Seid flexibel, fröhlich und fruchtbar! Und seit sich nicht mehr verdrängen lässt, dass sich der demokratische Lümmel verweigert und die ihm verheißenen und dargebrachten Reformen als Bedrohung empfindet, mehren sich, an die Politik gerichtet, die Aufforderungen, im Reformeifer nicht nachzulassen, schon gar nicht aus "zu viel Angst vor Zumutungen".1 Jüngst haben sich auch die beiden Kirchen mit einem "Gemeinsamen Wort" in den Chor eingereiht und einen gemeinsamen Katechismus der politischen Tugenden vorgelegt.2

Nun werden wir grundsätzlich hellhörig, wenn Autoritäten die Moral bemühen. Soziale Missstände und ökonomische Fehlentwicklungen sind strukturell bedingt und politisch verantwortet; sie lassen sich nicht durch Tugendlehren korrigieren. Wer die Moral beschwört, verzichtet allzu gern auf politische Gestaltung und entzieht die zugrunde liegenden gesellschaftlichen Strukturen der Kritik. Mit Recht zielt daher Gesellschaftsethik auf die Bewertung und Veränderung bestehender Ordnungen und verzichtet auf Tugendkataloge für das individuelle Verhalten.3 Doch wir wollen nicht mäkeln und auch die vom Gemeinsamen Wort vorangestellte Hypothese nicht weiter hinterfragen, dass die Demokratie auf "Grundhaltungen" und "Wertorientierungen" verwiesen ist, die die politischen Akteure in gleicher Weise zu beachten haben wie die Bürgerinnen und Bürger.4

Das Gemeinsame Wort versteht sich als Antwort auf aktuelle politische Herausforderungen, von denen allerdings nur zwei herausgegriffen sind: Arbeitslosigkeit und demographische Entwicklung. Das überrascht; immerhin hätte man unter moralischen Gesichtspunkten noch andere, nicht minder drängende Probleme erwartet, etwa soziale Ungleichheit und entwürdigende Arbeitsbedingungen, Ausländerfeindlichkeit und diskriminierende Kaltherzigkeit gegenüber Migranten, weltweite Militäreinsätze oder die Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Doch Nachhaltigkeit erscheint allein im Zusammenhang mit Staatsverschuldung, kleingerechnet zur Kassenwartsmoral; nicht dagegen, um dem ungleich dramatischeren Raubbau der Natur ein Ende zu setzen.

Auf eine ähnlich verzerrte Problemsicht stoßen wir bei der Beschreibung der Arbeitslosigkeit. Im Vordergrund stehen nicht etwa existenzielle Not, Ausgrenzung und Entwürdigung; diese (un)menschliche Seite der Arbeitslosigkeit ist den Autoren lediglich eine ebenso kurze wie distanzierte Aussage wert: "Viele Arbeitslose fühlen sich von der Teilhabe an den gesellschaftlichen Prozessen ausgeschlossen." Das eigentliche Problem anhaltender Arbeitslosigkeit sieht das Gemeinsame Wortdagegen in den öffentlichen Kosten: den Steuer- und Beitragslasten, mit der Folge, dass "das Gemeinwesen seinen Bürgern immer weniger die gewohnten Leistungen in den Bereichen Gesundheit, Alterssicherung, Sozialhilfe, Bildung usw. gewährleisten kann" (S. 8 f.). Damit ist denn auch der Grundton angeschlagen, der das Papier insgesamt durchzieht. Es gelte, dass "rechte Verhältnis zwischen dem herzustellen, was der Staat leisten soll und kann, und den Aufgaben, die die Einzelnen zu übernehmen haben."

Natürlich fehlen in diesem Zusammenhang nicht Globalisierung und internationaler Wettbewerb, die in einer wohlstandsverwöhnten Gesellschaft dazu zwängen, Besitzstände abzubauen, auch gegen Wählerinteressen. Das führt zu den "entscheidenden Fragen": Wie können die Politiker "Kraft" und "Mut" gewinnen, die lähmende "Gegenwartsfixierung der Politik" zugunsten einer langfristigen Orientierung aufzubrechen? Und wie kann bei den Bürgern die Bereitschaft geweckt werden, "die daraus entstehenden Lasten für die Gegenwart zu tragen"(S. 11)?

Gib dem Staate, was des Staates ist
Die Antwort auf diese Fragen soll ein Kanon politischer Tugenden liefern, unterschieden in rollenspezifische Erwartungen an das Verhalten der Bürger, Politiker, Journalisten und Repräsentanten partikularer Interessen.

Die Bürger und Wähler sollen entsprechend dem Subsidaritätsprinzip der christlichen Sozialethik "Hilfe [...] nur dann beanspruchen, wenn sie sich tatsächlich nicht selbst helfen können" (S. 21). Sie sollen "von einem ‚Vater Staat‘ [nicht] fordern, sie rundum zu versorgen", wenn sie sich nicht selbst zum Untertan degradieren wollen - merke: Leistungsentzug macht mündig! Sie sollen vielmehr die goldene Regel der Wechselseitigkeit von Rechten und Pflichten beherzigen, also nicht nur nehmen wollen, sondern auch zu geben bereit sein. Und sie sollen den Staat nicht als "fremde Macht" betrachten, sondern selbst Verantwortung für das Gemeinwesen übernehmen.

Der letztgenannte Pflichtenkreis gerät in Auseinandersetzung mit der lebhaft beklagten Politikverdrossenheit besonders ausführlich. Die Sorge um das gestörte Vertrauensverhältnis zwischen Bürgern und Politikern durchzieht das Papier wie ein roter Faden als das mit Abstand am meisten genannte Problem. Doch Thema ist nicht etwa das selbstreferenzielle System der politischen Klasse, um daraus Verhaltensanforderungen an die Politik abzuleiten, etwa die Distanz zur sozialen Realität zu überwinden. Nein, an die Bürgerinnen und Bürger richten sich in immer neuen Wendungen Kritik und Ermahnung, sich der Politik nicht zu verweigern, sich nicht der "ersten Aufwallung von Ärger und Enttäuschung" hinzugeben und stets zu beherzigen, dass "das Vertrauen der Wähler in die Gewählten, in ihre Kompetenz und ihre guten Absichten das Rückrat der Demokratie" sei (S. 23 f.). Zum Beispiel wüssten sie "als mündige Menschen [...], dass sie nicht mehr ausgeben dürfen als sie einnehmen", und "dass Unangenehmes unvermeidbar ist, um Unangenehmeres zu vermeiden". Doch - leider - neigten sie als Wähler dazu, "diese Umsicht der Mündigkeit zu unterbieten und denen ihre Stimme zu geben, die kurzfristige Wohltaten versprechen" (S. 25 f.).

Angesichts solcher Tendenz zur Unvernunft richtet sich an die Politiker die Erwartung, im "Blick auf das Ganze" dem Konflikt zwischen Gemeinwohlverpflichtung und Mehrheitsstimmungen nicht auszuweichen. Denn: "Das Gemeinwohl hat eine Zukunftsdimension, die oft gegen die Wählerinnen und Wähler hier und heute geltend gemacht werden muss" (S. 28). Folglich zielen die Erwartungen an die Politiker auf Tugenden wie "Mut", "Aufrichtigkeit", "Risikobereitschaft" und "Standfestigkeit" (S. 29 f.). Risikobereitschaft bezieht sich namentlich darauf, um der Sache willen auch den Verlust der politischen und parlamentarischen Mehrheit in Kauf zu nehmen. Standfestigkeit habe sich gegenüber den Wählern und organisierten Interessen zu bewähren. Das ist der Stoff, aus dem "Führungsverantwortung" erwächst, die "beispielsweise bei einem notwendigen Rückbau von wohlfahrtsstaatlichen Standards" vonnöten sei (S. 31). Bedauernd wird konstatiert, dass die Politik es versäumt habe, "den Wählern etwas zuzumuten", dass es an der gebotenen Standfestigkeit fehle, "Entscheidungen auch gegen heftige Proteste durchzuhalten", beispielsweise bei der "unvermeidlichen grundlegenden Reform der Sozialversicherungssysteme" (S. 33).

Aus der Tugendlehre für Journalisten sei lediglich hervorgehoben, dass sie es mit dem Verlangen nach Transparenz politischer Vorgänge nicht übertreiben sollten, da in "Zeiten, in denen unpopuläre Reformentscheidungen getroffen werden müssen", das Geheimhaltungsbedürfnis der Politik legitim sein könne (S. 38).

Demokratie ist Volksherrschaft
Soweit die Mahnungen des Gemeinsamen Wortes. Wer das politische Handeln in einer Demokratie einem Tugendkanon unterwirft, provoziert die Frage nach dem zugrunde liegenden Demokratieverständnis. Demokratie ist Volksherrschaft. "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus", heißt es in der Verfassung. Souverän ist das Volk, nicht der, dem die Bürgerinnen und Bürger ein politisches Mandant anvertraut haben.

Das Gemeinsame Wort stellt die Dinge auf den Kopf: Die Bürger sollen der Politik vertrauen und sie nicht durch bornierte Gegenwartsinteressen stören; tun sie es dennoch, hat die Politik mit Mut, Kraft und Risikobereitschaft gegenzuhalten, auch gegen Mehrheitsmeinungen. Erwartungen dieser Art reflektieren ein vordemokratisches Gesellschaftsmodell. Die gedanklich unterstellte Antinomie von Gemeinwohl und vermeintlich situationsgebundener - "populistischer" - Volksmeinung entspringt einem autoritären Staatsverständnis. Nach demokratischem Konsens ist das Gemeinwohl erst das Ergebnis öffentlicher Auseinandersetzungen und mehrheitlich geäußerter Willensbildung. Es gibt kein Gemeinwohl jenseits demokratischer Mehrheit! Lehnt die Bevölkerung beispielsweise ab, was ihr als Reform angedient wird, und hält sie an Prinzipien und Institutionen sozialstaatlicher Freiheit und Vorsorge fest, schlägt nicht etwa die Stunde der Umerziehung - neudeutsch: des Akzeptanzmanagements - bei unbeirrt fortgesetztem Reformeifer. Vielmehr liegt es an der Politik, umzudenken und zum Beispiel von wirtschaftspolitischen Dogmen Abschied zu nehmen. Auch wenn sich inzwischen der Bundespräsident den Vertrauensappell zu eigen gemacht hat und die Bevölkerung auffordert, "der Politik wieder mehr Vertrauen und Wertschätzung entgegenzubringen",5 ist daran zu erinnern: Erste demokratische Bürgerpflicht ist Misstrauen, nicht Folgebereitschaft.

Nicht minder ärgerlich ist die kirchliche Indienstnahme der Moral zugunsten derer, die vom marktradikalen Umbau der Gesellschaft profitieren. Infolge Arbeitslosigkeit und Alterungsprozess drohten, so das Gemeinsame Wort, öffentliche Haushalte und soziale Sicherungssysteme zu kollabieren. Ohne die ökonomischen Voraussetzungen dieser These zu hinterfragen, verweist das Papier auf die seit geraumer Zeit betriebenen "notwendigen Reformen", sprich: die Kürzungen und Beschränkung öffentlicher Leistungen auf die "wirklich Bedürftigen", und macht sich diese Politik zu eigen.

Der damit akzeptierte neoliberale Rückbau sozialstaatlicher Wohlfahrt und Freiheit ist jedoch interessengeleitet. Er kennt Gewinner und Verlierer: wenige, die Nutzen ziehen, und viele, die die Lasten zu tragen haben - in Gestalt verfestigter Arbeitslosigkeit und Armut, in Gestalt von Leistungsabbau und erschwertem Zugang zu öffentlichen Gütern und in Gestalt unsicherer Arbeitsverhältnisse. Auf der Sonnenseite winken Deregulierung, Verbilligung der Arbeit und immer wieder Steuerentlastungen. Die Folge ist, dass sich, politisch verantwortet und gewollt, die Schere zwischen Arm und Reich weiter öffnet. Da ist es kein Zufall, dass ein neuer Gerechtigkeitsdiskurs soziale Ungleichheit als Wachstumsstimulans empfiehlt; staatliche Reichtumspflege soll durch das Mysterium marktwirtschaftlicher Sickereffekte eines Tages auch den Armen Brosamen bescheren.

Von hier aus ist der Schritt nicht weit zur Neuauflage puritanischer Selbstgerechtigkeit, mit der die bessergestellten Stände jahrhundertelang Armut und Ungleichheit legitimiert haben, sei es, dass Armut den Reichen Grund zur Mildtätigkeit biete oder dass sie unvermeidlicher Bestandteil des göttlichen Weltenplans sei. Die historisch wirksamste Lehre war und ist die calvinistische Rechtfertigung kapitalistisch produzierter Ungleichheit und Not: Der wirtschaftliche Erfolg sei das Ergebnis von Fleiß, Sparen und Verzicht, von Aufstiegsstreben und Erfolgshunger; Gott honoriertÂ’s. Armut dagegen gehe einher mit Antriebsschwäche, Augenblicksversessenheit, hemmungsloser, ja triebhafter Lust auf unmittelbare Bedürfnisbefriedigung. Ganz in diesem Sinne sei der Ruf nach dem "rundum versorgenden Staat" Ausgeburt passiver, die eigene Verantwortung leugnender Lebensauffassung.

Früher dienten Armenhäuser und Zuchtanstalten dem pädagogischen Ziel, dem Pöbel solche Lasten auszutreiben; heute bemüht sich der fordernde Staat um die Verankerung entsprechender Sekundärtugenden, zum Beispiel pünktlich, gewaschen und rasiert den Ein-Euro-Job anzutreten. Pflichtkurse zwecks Bewerbungstraining sollen Beschäftigungsfähigkeit fördern und dem "Kunden" den notwendigen Aufstiegswillen einhauchen. Wer sich auch dem entzieht, um den muss die Gesellschaft sich nicht mehr bemühen.

Das ist der Blick von oben, das Bild der passiven, am Besitzstand klebenden, weder verzichts- und noch leistungsbereiten Unterschicht, das auch heute noch im bürgerlichen Milieu so lebendig ist.6 Dem habe der Politiker Mut, Risikobereitschaft und Standfestigkeit entgegenzusetzen, sämtlich Attribute einer harten Herrenmoral. Siemens-Chef Klaus Kleinfeld rühmt sich, in den Stürmen der BenQ- und Korruptionsaffären "nicht eine Sekunde" an sich und seinen harten Entscheidungen gezweifelt zu haben.7 Diese milieubedingte Sicht der sozialen Schichtung ist offenbar so eingängig und so immun gegen eklatante innere Widersprüche, dass bei aller LangfristRethorik die ungleich dramatischere Kurzsichtigkeit des Shareholder-Value-Denkens und der börsenorientierten Konzernpolitik gar nicht ins Blickfeld gerät - nicht einmal den eigentlich auf besondere Langfristigkeit verpflichteten Kirchen.

Dabei waren die Kirchen einmal weiter. Doch vergessen scheint das Gemeinsame Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland von 1997 und das beherzte Eintreten für eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die ohne neoliberale Verblendung Arbeitslosigkeit und Armut überwindet und allen gleichermaßen zu ihrem Recht verhilft. Schade. Man ist deshalb versucht, den Titel der Tugendschrift wie folgt abzuwandeln: "Demokratie braucht neue Kirchen".

1 So Bundespräsident Horst Köhler in seiner Weihnachtsansprache, vgl. "Frankfurter Allgemeine Zeitung", 23.12.2006.
2 Kirchenamt der ev. Kirche in Deutschland und Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Demokratie braucht Tugenden. Gemeinsames Wort der deutschen Bischofskonferenz und des Rates der EKD, PDF-Fassung unter www.ekd.de. (Die Seitenangaben im Text sind aus diesem Papier.)
3 Vgl. etwa Friedhelm Hengsbach, Die anderen im Blick. Christliche Gesellschaftsethik in den Zeiten der Globalisierung, Darmstadt 2001, S. 5 ff.
4 Vgl. das Geleitwort der Bischöfe Lehmann und Huber (S. 5-7).
5 So in der Weihnachtsansprache, a.a.O.
6 Vgl. Michael Vester, Der Wohlfahrtsstaat in der Krise in: Franz Schultheis und Kristina Schulz (Hg.), Gesellschaft mit begrenzter Haftung, Konstanz 2005, S. 24 f.; vgl. auch den Beitrag von Albert Scharenberg in diesem Heft.
7 "Die Zeit", 28.12.2006; derart zugerichtete Führungsmaschinen sollten eigentlich Angst einflößen, nicht Bewunderung erregen.
Blätter für deutsche und internationale Politik © 2007