Schäubles Quasi-Krieg

Kaum hatte das Jahr begonnen, unterbreitete Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble eine neue Rechtfertigung für den Abschuss von durch Terroristen entführten Zivilflugzeugen. Demzufolge sollen in einem derartigen "Quasi- Verteidigungsfall" die Regeln des Kriegsvölkerrechts zur Anwendung kommen, also vor allem die Regeln des Genfer Abkommens zum Schutz der Opfer bewaffneter Konflikte, womit ein Abschuss angeblich rechtmäßig würde.

Damit nimmt Schäuble eine Debatte wieder auf, die längst abschließend entschieden ist. Mit großem Ernst und unter ausdrücklicher Berufung auf den keiner Verfassungsänderung unterliegenden Art. 1 GG über den Schutz der Menschenwürde hat das Bundesverfassungsgericht am 15. Februar 2006 festgestellt, es sei schlechterdings undenkbar, den Staat durch Gesetz zu ermächtigen, unschuldige Menschen vorsätzlich zu töten, und solches Verhalten damit für rechtmäßig zu erklären.1

Dabei folgte es nicht nur einem abstrakten Rechtssatz und einer jahrhundertealten europäischen Tradition der Rechtsprechung, dass die vorsätzliche Tötung eines Unschuldigen stets strafbar ist. Das Gericht hatte sich auch eingehend darum bemüht zu klären, welchen tatsächlichen Ablauf sich denn der Gesetzgeber bei dem sogenannten Luftsicherheitsgesetz vorgestellt hatte. Dazu haben Piloten eindringlich dargestellt, dass es in der kurzen zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich sei, von außen mit Sicherheit zu erkennen, ob ein irregulär fliegendes Flugzeug überhaupt entführt worden ist oder ob es nur technische Probleme habe. Man könne auch nicht erkennen, welche Motive und Absichten mögliche Täter tatsächlich verwirklichen wollen, zumal sie ihre wirklichen Absichten so lange wie möglich verbergen und man auch nicht vorhersagen kann, ob sie etwa geäußerte Drohungen tatsächlich verwirklichen oder schließlich aufgeben, wenn sie keinen Erfolg mehr erwarten können. Und schließlich wollte niemand die Verantwortung dafür übernehmen, dass ein abgeschossenes Flugzeug auf ein Krankenhaus, eine Schule oder eine Kirmes stürzt und dabei vorher nicht abschätzbare Opfer in den Tod reißt.

Selbst Innenminister Schily, der das Gesetz betrieben hatte, erklärte vor dem Gericht in Karlsruhe, er könne sich angesichts der dichten Besiedlung der Bundesrepublik eine rechtmäßige Anwendung des Gesetzes nicht vorstellen. Aber die Tötung der Passagiere sei deshalb keine Abwägung "Leben gegen Leben", weil sie ohnehin nicht mehr lange leben würden. Ein Teil der Abgeordneten, die dem Gesetz zugestimmt hatten, ließen erklären, sie hätten zwar dem Gesetz, aber nicht der Tötung der Passagiere zugestimmt. Ein anderer Teil meinte, doch, genau das hätten sie gewollt.

Das Bundesverfassungsgericht machte dem absurden Spuk schließlich ein Ende. Das Leben der Bürger ist keine Verfügungsmasse des Staates, über die der Verteidigungsminister nach seinen Grundsätzen der Opportunität verfügen kann. Auch der Rettungstotschlag ist ein Totschlag.

Die Vorstellung des Bundesinnenministers Schäuble, nun einen Quasi- Verteidigungsfall in die Verfassung einzuschreiben, ist ein katastrophales Missverständnis der Bedeutung der Menschenwürde als Kern unserer Verfassung und der durchsichtige Versuch, sich um das Urteil des Bundesverfassungsgerichts herumzumogeln. Was sind denn "überragende Grundlagen des Gemeinwesens", deren vermutete Gefährdung den Quasi-Fall auslösen soll?

Die Grundrechte als Gnadenakte
Wer soll darüber entscheiden, was für das Gemeinwesen so wichtig ist, dass man dafür 10, 100 oder 300 unschuldige Bürgerinnen und Bürger vorsätzlich umbringen kann - wenn man zwar nicht weiß, aber doch glaubt, es würde sonst noch schlimmer werden? Gilt das, wenn man dem Gedanken folgen wollte, nur für entführte Passagierflugzeuge oder in gleicher Weise für Schiffe, UBahnen und Omnibusse? Soll etwas anderes gelten, wenn es sich nicht um den "Krieg gegen den Terror", sondern um "normale" oder geisteskranke Straftäter handeln würde, die ihre erpresserischen Kapazitäten austesten? Und wenn das Leben der Bürger unter Verstoß gegen den unverbrüchlichen Art. 1 GG derart zur Disposition und in das Ermessen der Regierung gestellt wird, kann jene dann nicht mit derselben Begründung auch alle anderen in der Verfassung garantierten Grundrechte aufheben, wenn ihr das als verhältnismäßig erscheint?

Wer das akzeptiert, macht aus den Grundrechten Gnadenakte des Staates, die dieser auch wieder einkassieren kann. Eine Regierung, die nach ihrem Ermessen das Kriegsrecht ausrufen kann, erhebt sich über die Verfassung und macht aus den Bürgern Untertanen. Es geht Schäuble nicht nur um den Einsatz der Bundeswehr im Inland, sondern darum, sie bei dieser Gelegenheit von den lästigen Fesseln der Verfassung zu befreien. Wer will, dass gehobelt wird, der soll auch die Späne in Kauf nehmen. So werden aus Bürgern mögliche Quasi- Kollateralschäden.

Im 19. Jahrhundert konnte der Kaiser im Deutschen Reich - natürlich nur außerhalb Bayerns - den Belagerungszustand verkünden, also das Kriegsrecht ausrufen. Das geht heute nicht mehr. Nach Art. 115a GG erfolgt die Feststellung des Verteidigungsfalles durch den Bundestag und den Bundesrat mit verfassungsändernder Mehrheit, im äußersten Notfall durch Erklärung des Bundespräsidenten. Der Verteidigungsfall kann und muss somit "festgestellt" werden, liegt also nicht im Ermessen der Bundesregierung, sondern setzt eine bestimmte Sachlage voraus, nämlich einen von außen kommenden militärischen Angriff auf das Bundesgebiet, einen sogenannten Krieg - nicht quasi oder sonstwie, sondern richtig.

Terror: Verbrechen, aber nicht Krieg
Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich erklärt, dass der Einsatz der Bundeswehr im Inland zur Abwehr einer Katastrophe kein Verteidigungsfall ist. Für den Begriff Verteidigung nach Art. 87a GG gelte das Gebot der strikten Texttreue. An der Absicht des Verfassungsgebers soll nicht herumgedeutelt werden. Verteidigung ist die Abwehr eines Aggressors im Sinne der UNDefinition vom 14. Dezember 1974, also der Schutz des Staates gegen eine militärische Bedrohung oder den Angriff eines anderen Staates. Terrorismus ist schwerste Kriminalität und kein Krieg, der für beide Seiten die Regeln des Kriegsvölkerrechts auslösen und die Terroristen zu Völkerrechtssubjekten machen würde. Schon die RAF wollte als Kriegspartei anerkannt werden und forderte für sich die Behandlung als Kriegsgefangene unter der Aufsicht des Roten Kreuzes. Niemand ist dieser Forderung gefolgt. Terroristen sind keine Freiheitskrieger, sondern Verbrecher.

Terroristische Flugzeugentführungen sind nach dem vom Bundestag ratifizierten Tokioter Abkommen und dem Vertrag von Montréal ausdrücklich zu kriminellen Verbrechen erklärt worden. Der Bundestag hat noch 1996 den Art. 3b des Chicago-Abkommens ratifiziert, der den Abschuss von Zivilflugzeugen auch völkerrechtlich für verboten erklärt. Diese Bestimmung wurde auch nach dem 11. September 2001 vorsätzlich nicht geändert. Das könnte ein Minister wissen.

Auch das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 der UN-Charta und ein von der NATO ausgerufener Bündnisfall ändern nichts daran, dass die Streitkräfte im Inland an die Verfassung gebunden sind. An was denn auch sonst? Der Hinweis des Innenministers auf die Genfer Abkommen über das humanitäre Kriegsvölkerrecht ist abwegig. Die Abkommen wollen die Wirkung eines Krieges auf die Zivilbevölkerung mildern und nicht etwa ermöglichen, dass Unschuldige vorsätzlich getötet werden. Kriegsvölkerrecht gilt zwischen Staaten und allenfalls im Verhältnis zu Krieg führenden Gruppen, aber nicht zwischen der Regierung eines Staates und dessen Bürgern.

Verteidigungsminister Franz Josef Jung hat ungerührt erklärt, er wolle auch weiterhin im Notfall den Abschuss eines Verkehrsflugzeugs befehlen. Er muss jedoch begreifen, dass er nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dabei nichts mehr zu befehlen hat. Wäre es ein Krieg, dann ginge die Befehlsgewalt auf die Bundeskanzlerin über. Ist es keiner, dann wäre sein Befehl nach dem Soldatengesetz ungültig, weil er nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verfassungswidrig ist und weil er einen Totschlag, also ein Verbrechen, anordnet. Die Bundesregierung täte gut daran, nicht länger darüber nachzudenken, wie man die Verfassung aushebeln könnte, sondern stattdessen den Piloten der Bundeswehr klipp und klar zu sagen, dass sie einem solchen Befehl weder folgen dürfen, noch sich auf ihn berufen können. Wer ihn befolgt, handelt auf eigene Rechnung und auf eigene Verantwortung.

Die Mitglieder der Bundesregierung sind an die Verfassung gebunden und ebenso wie die Soldaten dem Strafgesetz unterworfen. Niemand, Minister, Pilot oder wer sonst auch immer, kann das Recht haben, Unschuldige umzubringen, weil er meint, es sei zwar bedauerlich, aber leider für alle besser so. Tötet er sie doch, dann wird in einem Rechtsstaat nicht die Regierung, sondern ein Gericht darüber urteilen, ob der Minister und der Soldat sich damit entschuldigen können, sie hätten es doch eigentlich gut gemeint.

Verfassung und Menschenwürde
Der Staat wird nicht dadurch wehrlos, dass er sich an die Verfassung hält. Warum sollten wir ihn achten und für ihn eintreten, wenn er das nicht mehr täte? Er hat das Leben der Bürgerinnen und Bürger mit den Mitteln zu schützen, die ihm die Verfassung erlaubt. Und die verbietet unveränderbar die opportunistische, Schaden oder Nutzen abwägende Tötung unschuldiger Menschen als Verletzung ihrer Menschenwürde. Terror bekämpft man nicht erst in der Luft, wenn es zu spät ist, sondern am Boden - durch technische Vorkehrungen an den Maschinen, durch konsequente Kontrollen an den Flughäfen und auch durch bewaffnete Flugbegleiter. Die offizielle Untersuchungskommission der USA hat in ihrem "9/11-Report" bestätigt, dass die verheerenden Anschläge des 11. September 2001 nicht passiert wären, wenn man das beherzigt hätte.

1 Vgl. Rosemarie Will, Die Lufthoheit der Grundrechte, in: "Blätter" 4/2006, S. 389-391.