Kirche und Krieg

Am 8. März 1957 stimmte die Synode der evangelischen Kirchen dem Vertrag mit der Bundesrepublik Deutschland zur Regelung der evangelischen Militärseelsorge zu.

Damit setzten sich die Kräfte durch, die schon ab Mitte 1950 die Meinung verbreitet hatten, eine Wiederbewaffnung sei unverzichtbar für eine "freie Gesellschaft". Sie verfochten die Remilitarisierungspolitik Adenauers, der überzeugt war, sie nur mit Hilfe der beiden Großkirchen verwirklichen zu können. Dafür hatte er als Gewährsleute in der evangelischen Kirche unter anderen den Ratsvorsitzenden (und Parteifreund) Bischof Otto Dibelius, Berlin, dessen Stellvertreter, den hannoverschen Landesbischof Hanns Lilje, und den Theologen und langjährigen Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier, der im August 1950 als erster aus dem protestantischen Lager die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik öffentlich gefordert hatte. Lilje war in der Nazizeit wegen seiner Kriegspredigten und seiner Schrift "Der Krieg als geistige Leistung" (1941) dem Propagandaministerium positiv aufgefallen, das ihn deshalb als förderungswürdig einstufte. Dibelius hatte nicht nur beim "Tag von Potsdam" des Jahres 1933 das Bündnis Hindenburg-Hitler kirchlich eingesegnet, sondern bereits in seiner Schrift von 1929 "Friede auf Erden?" in geradezu klassischer Weise dargestellt, wie im Protestantismus bis zum heutigen Tage argumentiert wird: "... Der Christ weiß: Gott will etwas ganz anderes als den Krieg! ... Aber wenn es das Vaterland fordert, wird er in diese Welt des Grauens freudig und getrost hineingehen. Er wird seinen Mann stehen und keinen Dienst verweigern, der ihm befohlen wird. Er steht im Dienste seines Gottes, wenn er für das Vaterland kämpft."

Das Bekenntnis der Gruppe um Martin Niemöller und Gustav Heinemann dagegen war die Botschaft des Ökumenischen Rates der Kirchen von 1948: "Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein. Krieg ist Sünde gegen Gott und Entwürdigung des Menschen..." Der pazifistische Flügel der Kirche unterlag damals im März 1957 der geballten Macht der Militaristen in Kirche und Politik. Doch es war nicht nur eine Abstimmungsniederlage, es war zugleich der erneute Gang der Kirche in die Babylonische Gefangenschaft staatlicher Militärpolitik, aus der sie 1945 nach jahrhundertelanger Knechtschaft gerade befreit worden war.

Spätestens seit dem Jahre 1999 liegt das offen zutage. Am 24. März 1999 begann die NATO ohne UNO-Mandat ihren Krieg gegen Jugoslawien. Schon einen Tag später erkannte der damalige Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Manfred Kock, dieses völkerrechtswidrige Terrorunternehmen als "einzig wirksames, letztes Mittel" an. Am 29. März übernahm der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Karl Lehmann, diese Rechtfertigung: "Wir anerkennen die humanitären Ziele dieser Intervention." Beide Erklärungen trugen dazu bei, den Widerstand gegen diesen ersten deutschen Angriffskrieg seit 1945 zu schwächen.

Seit jenen Märztagen 1999 haben die Kirchen alle Militäraktionen der Bundeswehr unterstützt. Sichtbar wird das darin, daß ihre Militärseelsorger alle Auslandseinsätze begleitet haben. Schon im Jahre 1992, im Zusammenhang mit den "Verteidigungspolitischen Richtlinien" zur Umgestaltung der Bundeswehr zu einer Interventionsarmee, hatte der damalige Militärbischof Hans-Georg Binder an die Militärpfarrer geschrieben, es sei "nicht ihre Aufgabe, politische und juristische Antworten zu geben". Vielmehr seien sie durch ihre Einsetzung ins Pfarramt verpflichtet, "die Soldaten als Gemeindeglieder seelsorgerlich zu betreuen, unabhängig davon, ob sie den militärischen Einsatz bejahen oder nicht". Und der katholische Militärbischof Walter Mixa drückte das kürzlich so aus: "Wir lassen unsere Soldaten nicht im Stich. Wenn ein Einsatz vom Deutschen Bundestag nach einer reiflichen Überlegung so beschlossen worden ist, dann werden wir von der Militärseelsorge unsere Soldaten begleiten." Inzwischen verwendet das Parlament immer weniger Überlegung auf die Militäreinsätze, aber die Kirche beteiligt sich unverdrossen.

In einem kürzlich erschienenen Buch, "Oasen" betitelt, stellt die evangelischen Militärseelsorge ihre Tätigkeiten im Auslandseinsatz der Bundeswehr dar, in dem der "Herr, der allmächtige... Vater," sie persönlich "begleitet". Vom derzeitigen Militärbischof Peter Krug erfährt der Leser, daß "überall dort, wo Soldatinnen und Soldaten in der Bundeswehr" tätig sind, sie "Friedensdienste leisten". Die Militärseelsorger hätten sich der "Fragen und Sorgen" der Truppe anzunehmen, zugleich "die Fragen der Legitimität der Einsätze" zu klären und auch, "wie man mit getröstetem Gewissen Soldat sein kann". Die Aussagen der Militärpfarrer, die häufig durch den Militärsender Radio Andernach verbreitet werden, können in ihrer Wirkung auf die Bewußtseinsbildung des Militärs gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Als "Hoffnungsanker der Bundeswehr" bezeichnete der zeitweilige Militärminister Peter Struck die Militärseelsorge ...

Aufschlußreich sind die Leerstellen des Buches. Tabu sind demnach folgende Themen: Bundeswehr und Grundgesetz; die "Verteidigungspolitischen Richtlinien" und ihre Legitimation völkerrechtswidriger Einsätze; die Tätigkeiten des Bundeswehr-Kommandos Spezialkräfte (KSK) und seine Zusammenarbeit mit folternden und mordenden "US-Sicherheitskräften" im Rahmen der "Operation Enduring Freedom"; die Vertreibung der Serben aus dem Kosovo. Gelegentlich jedoch plaudert die Militärseelsorge etwas von den Tabus aus. So geschehen 2003 in Calw, wo die KSK-Mitglieder ausgebildet werden. Aus Anlaß der Installation eines ersten Internet-Anschlusses für die Militärseelsorge verkündete eine Pressemitteilung stolz: "Die Calwer Hundertschaft" machte "gemeinsam mit den amerikanischen Spezialeinheiten Jagd auf den Terroristenführer" - und zwar unter der biblischen Losung aus der Bergpredigt "Suchet, so werdet ihr finden". Einen Spezialauftrag gab es auch für den Internet-Anschluß in Calw: Durch ihn wurde die Verbindung zu den KSK-Kämpfern geschaffen, "egal in welchem Loch sie sitzen", denn "das interne Bundeswehr-Netz ist aus guten Gründen - nämlich der Sicherheit wegen - für derlei Verbindungen tabu".

Die Vertreter der Amtskirchen werden auch in Zukunft - es sei denn, es geschähe ein Wunder - die Militärpolitik der Bundesregierung unterstützen. Die aber, die in den Kirchen mitarbeiten und die biblische Botschaft als Botschaft gegen Krieg und Gewalt begreifen, sollten das Erbe von Martin Niemöller und Gustav Heinemann neu entdecken, zum Beispiel die Fernsehpredigt Niemöllers vom Heiligabend 1972 anläßlich des Flächenbombardements der US-Luftwaffe auf die vietnamesische Hauptstadt Hanoi: "Ausgerechnet zum Christfest haben angebliche ›Christen‹ den von ihnen vor zwölf Jahren begonnenen, vorsätzlichen Massenmord wieder in Gang gesetzt; wir helfen, ihn zu finanzieren, und sehen schweigend zu. So wird kein Friede Â…"

Als endlich die Waffen schwiegen, da schwiegen auch die Kirchen zu dem, was die Waffen angerichtet hatten - in Vietnam wie in späteren Kriegsgebieten. Jugoslawien und das von ihm militärisch abgetrennte Kosovo sind seit der Einstellung der Bombardements kaum noch Thema für Bischöfe und Präsides. Ein Schuldbekenntnis in Bezug auf die durch NATO-Bomben Getöteten, Verstümmelten, um ihr Hab und Gut oder ihre Arbeitsstelle Gebrachten unterblieb. Kein Wort des Bedauerns über die zerstörten Brücken, Schulen, Krankenhäuser, Fabriken und so weiter; kein Wort zur bewußten Verseuchung und zu den langfristigen Folgen durch Radioaktivität und persistente Schadstoffe; keine Ermahnung an die jetzt im Kosovo Verantwortung mittragende deutsche Regierung, das terroristische Treiben der UCK gegen Serben, Roma, Ashkali und weitere Minderheiten zu stoppen, obwohl ein Ratschlag von Theologen, Gesellschafts- und Naturwissenschaftlern in Göttingen der Kirche all dies vorhielt. Zwar äußerte die EKD im März 2004, als zum fünften Jahrestages des Kriegsbeginns wieder einmal Tausende von Serben vertrieben und zahlreiche Kirchen und Klöster abgefackelt wurden, "tiefe Bestürzung" und "Mitgefühl" mit den serbischen Opfern, meinte aber gleichzeitig, serbische Feindseligkeiten gegen Muslime beklagen zu sollen. Die Kirchen sagen immer gern "sowohl als auch" und befleißigen sich einer Sprache, die ausgewogen wirken soll. Sie sprechen Ermahnungen nach beiden Seiten aus und befürworten zur Konfliktregelung militärische Gewalt (als "ultima ratio") wie auch einen zivilen Friedensdienst. Ihr Credo, das sie gewiß nicht von Jesus gelernt haben, lautet: "Friedensdienst mit und ohne Waffen".

In Ergänzung dazu, daß sie durch ihren Militärseelsorgevertrag von 1957 wie schon durch das Reichskonkordat von 1933 zu einem Teil des militärisch-ideologischen Komplexes unserer Gesellschaft geworden, also der militärischen Gewalt verpflichtet sind, haben sie den Gedanken eines zivilen Friedensdienstes ins Gespräch gebracht. Daraufhin wurde 1994 von elf verschiedenen Organisationen, unter ihnen die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg, der Dietrich-Bonhoeffer-Verein, die Internationalen Ärzte und Ärztinnen für die Verhütung des Atomkrieges, der Internationale Versöhnungsbund, das Komitee für Grundrechte und Demokratie und Pax Christi, das Forum ziviler Friedensdienst e.V. gegründet, das zwar mit staatlichen Stellen zusammenarbeiten, jedoch zugleich unabhängig von ihnen sein will. Zur Zeit gehören ihm 40 Organisationen und 250 Einzelpersonen an. Es wird vor allem vom Entwicklungshilfeministerium unterstützt, seit 1999 mit über 58 Millionen Euro. Sein Aktionsplan steht unter dem Motto: "Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung". Dazu werden insbesondere "Friedensfachkräfte" ausgebildet, von denen derzeit 135 im Einsatz sind. Bis 2009 soll ihre Zahl auf 500 erhöht werden. Ihr Einsatzgebiet war bis jetzt zumeist das Gebiet des früheren Jugoslawien.

Gewiß haben die Friedensfachkräfte schon etlichen Opfern des Jugoslawienkrieges hilfreiche Zuwendung zuteil werden lassen. Wenn sie zudem im Inland umfassend aufklären könnten, müßte sich der Gedanke, daß militärische Einsätze keine Probleme lösen, weiter ausbreiten. Fragen an einen solchen zivilen Friedensdienst, auf den sich die Kirchen viel zugute halten, müssen dennoch gestellt werden: Kann er nicht von den unendlich großen Schäden ablenken, an denen auch unser Militär mitgewirkt hat? Kann er nicht dazu führen, daß wir uns der Verantwortung dafür entziehen? Kann er nicht Politikern wie der derzeitigen Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul, die ihn zu einem Vorzeigeprojekt gemacht hat, als Alibi dienen? Als Mitglied des ersten Schröder-Kabinetts hatte sie jenem Krieg 1999 zugestimmt, genau wie Angelika Beer MdEP und Kerstin Müller, die im Beirat des Forums sitzen. Solche Politiker sollten nicht als Wohltäter der Opfer ihrer Politik mißverstanden werden. Jedenfalls sind sie (ebenso wie die Kirchen) keine Garanten dafür, daß es zu einer gerechten Entschädigung der Opfer kommt. Die Anerkennung von Entschädigungsansprüchen, das hat Helmut Kramer im Ossietzky-Sonderdruck "Die Opfer der Kriege" überzeugend dargelegt, unterbleibt, weil sie künftige Angriffskriege verteuern, erschweren, vielleicht sogar unmöglich machen würde.