Prekäre Jugend im Osten Deutschlands

Selbstdefinitionen als "generation precaire"

"Precaire" ist ein altbekanntes französisches Adjektiv, welches sich offensichtlich nicht so leicht ins Deutsche übertragen läßt. Zumindest bemühen die Wörterbücher für Übersetzungen meist eine Reihe unterschiedlicher deutscher Synonyme, wobei die Bandbreite von mißlich, schwierig und bedenklich bis unsicher, heikel oder widerruflich reicht. Sozialwissenschaftler bedienen sich dieses Eigenschaftswortes in den letzten Jahren immer häufiger, wenn sie die Ausbreitung und die Folgen "prekärer Beschäftigungsverhältnisse" (betrifft Arbeitnehmer mit mehreren, schlecht bezahlten Jobs, geringfügig Erwerbstätige, befristet Angestellte etc.) beschreiben. Das Phänomen greift in einem Ausmaß um sich, daß dabei gelegentlich sogar eine "Brasilianisierung des Westens" (Ulrich Beck) prognostiziert wird.

Die Formulierung "generation precaire" stammt ebenfalls aus dem Französischen, ist aber brandneu und relativ leicht zu deuten. Kreiert wurde das Label von den jungen, meistens studierenden Franzosen, die im Frühjahr 2006 beeindruckende Menschenmengen zu mobilisieren verstanden, um ein Gesetz zu kippen, das Berufseinsteigern unter 26 Jahren eine zweijährigre Probezeit verordnen sollte. Die betroffenen jungen Leute hatte es auf die Straße getrieben, weil sie durch das Gesetz eine erneute Verdüsterung ihrer Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt befürchteten.1 Über den Anlaß hinaus beschreibt die Selbstdefinition als "generation precaire" aber auch das dominierende Lebensgefühl einer (zumeist mittelständischen) französischen Jugend, die sich gezwungen sieht, von einer Welt des stetig wachsenden Wohlstands und sozialstaatlich gewährleisteter Sicherheit Abschied zu nehmen und sich auf ein Leben unter schwer kalkulierbaren Bedingungen einzurichten.

Die Deutung als "generation precaire" erhebt die Krise der Arbeitsgesellschaft, die nicht allein jugendliche Alterskohorten trifft und verunsichert, in den Stand einer generationellen Prägungserfahrung. Die Wortschöpfer teilen der Welt mit, daß sie sich als die ersten empfinden, deren Leben voraussichtlich mehrheitlich nicht mehr in den Bahnen und Stufen "normaler" Erwerbs- und Familienbiographien verlaufen wird. Damit signalisieren sie einen Bruch, der ihre eigenen Erfahrungen und Erwartungen als Generation von denen ihrer Generationsvorgänger trennt. Die schwindende Fähigkeit der modernen Gesellschaft, nachwachsende Mitglieder über Ausbildung und Erwerbstätigkeit zu integrieren, die von den Eliten in Politik und Wirtschaft gern als temporäres Phänomen heruntergespielt wird (getreu dem Credo: Kommt der Aufschwung, kommt auch die Vollbeschäftigung zurück), wird hier von einer neuen Generation zur Voraussetzung der eigenen Lebensperspektive bestimmt. Als neu an den Demonstrationen in Frankreich erwies sich nicht nur dieses Selbstverständnis an sich, sondern auch der erstaunliche intergenerationelle Konsens, den die jungen Leute darüber herstellen konnten. Eltern und Lehrer stimmten ihren Forderungen zu und marschierten an ihrer Seite.

Zur "prekären" Lage der 20- bis 25Jährigen in Deutschland

Läßt sich dieses Selbstverständnis einer jungen, von Kindesbeinen an meistens vergleichsweise gut situierten Generation als einer "prekären" auch in Deutschland beobachten, oder können wir es sogar als ein westeuropäisches Phänomen begreifen?

Was die Zahlen betrifft, die das Ausmaß jugendlicher Arbeitslosigkeit erfassen, kann sich Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern zunächst durchaus sehen lassen. Seit Jahren schwankt der Prozentsatz jugendlicher Arbeitsloser der Altersstufe bis 25 Jahre in Deutschland zwischen zehn und 15 Prozent. Im Vergleich dazu registrierten die Arbeitslosenstatistiken für 2005 in derselben Altersgruppe in Polen 36, in Italien 24 und in Frankreich 22 Prozent. 2

Betrachtet man nun aber Ostdeutschland gesondert, ergibt sich eine völlig andere Perspektive. In den östlichen Regionen erweisen sich die Arbeitslosenquoten unter den bis zu 25Jährigen in trauriger Weise als durchaus anschlußfähig an vergleichbare andere europäische Gesellschaften. Hier verringerten sich in der letzten Dekade trotz umfangreicher staatlicher Förderungsprogramme die ohnehin schon dürftigen Chancen Heranwachsender auf Ausbildungsplätze und gut bezahlte Erwerbsarbeit. Die Deindustrialisierung, ein geschrumpfter und alimentierter Arbeits- und Ausbildungsmarkt mit untertariflicher Bezahlung beschränkte Berufseinstiege drastisch und zwang junge Ostdeutsche in weitaus höherem Maße als Gleichaltrige im Westen zur territorialen Mobilität, mit den uns bekannten Konsequenzen für die demographische Entwicklung der Regionen.

Das Problem sozialer Unsicherheit durch Arbeitslosigkeit trifft die heute 25jährigen Ostdeutschen häufig schon in zweiter Generation. Glaubt man sozialwissenschaftlichen Schätzungen, dann verloren in den ersten Jahren nach der deutschen Vereinigung reichlich zwei Drittel ostdeutscher Arbeitnehmer ihre angestammten Arbeitsplätze. Die Wucht dieser "ökonomischen Revolution" als gesellschaftlicher und individueller Erfahrung stellte die der kurz zuvor euphorisch gefeierten, gewaltlosen politischen Revolution vielfach in den Schatten. Dabei erfuhren junge Ostdeutsche schon in ihren Herkunftsfamilien, daß Anstrengungen in der beruflichen Bildung oder bei Neuanfängen in der beruflichen Selbständigkeit nicht unbedingt zum Erfolg in der Arbeit, sondern häufig nur zum Konkurrenzkampf um das knapper werdende Gut der Erwerbsarbeit befähigen. Es sind also nicht allein die frühen Bedingungen der DDR-Sozialisation, wie häufig behauptet wurde, sondern vor allem solche Erfahrungshintergründe, die die Jungen aus Ostdeutschland noch heute von denen im Westen unterscheiden. In sozialwissenschaftlichen Jugendstudien zeigt sich das u.a. in grundverschiedenen Bewertungen des historischen Ereignisses Wiedervereinigung und seiner Folgen (junge Leute im Westen erinnerten sich häufig nur an begeisternde Bilder im Fernsehen); es schlug sich aber auch in deutlich pessimistischeren Zukunftserwartungen und Weltbildern der jungen Ostdeutschen nieder, die vor allem unter jenen diagnostiziert werden konnten, die 1990 erst zehn oder zwölf Jahre alt waren.3

Dabei mangelte es in solchen Studien lange Zeit an Interpretationsfolien, die eine fundiertere und differenziertere Betrachtung hätten ermöglichen können. Die umbruchsbedingt prekären wirtschafts- und sozialkulturellen Bedingungen in den östlichen Ländern wurden lange Zeit nicht als Voraussetzung verstanden, um auffällige Eigenheiten in den Ausprägungen ostdeutscher Jugendkulturen (vor allem jene am äußeren rechten Rand des politischen Spektrums) auch als Reaktion auf diese Situation erklären zu können.

Zwar trifft die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland immer noch vorrangig jene, die aufgrund ihrer Herkunft, ihres Bildungs- und Ausbildungsniveaus als sozial benachteiligt verstanden werden. Doch prägt sich die allgemeine Verunsicherung mittlerweile auch in die Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte derjenigen ein, die aufgrund guter Bildungs- und Ausbildungszertifikate eigentlich die besten Chancen für einen Einstieg ins Erwerbsleben haben müßten, sich aber dennoch auf einer Zukunft in prekärer Lage einstellen. Dabei tritt ihnen die Gesellschaft mit Forderungen entgegen, deren verwirrende Widersprüchlichkeit kaum zu überbieten ist: Einerseits habt ihr, so wird ihnen erklärt, nur dann eine Chance auf einen angemessenen Job, wenn ihr zu einem Maximum an lebenszeitlichem Einsatz, an Flexibilität und Mobilität bereit seid. Wahrscheinlich werden dennoch viele von euch zu den "Überflüssigen" gehören, die der modernisierenden Rationalität einer globalisierten Wirtschaft zum Opfer fallen.4 Auch wenn wir keine Arbeit mehr für euch haben, liegt es dennoch an euch; strengt euch an und sorgt vor, heißt es andererseits, denn eure Zahnfüllungen und Renten werden wir künftig nicht mehr finanzieren können. Vor allem gründet Familien, macht Kinder und verhindert, daß wir im demographischen Desaster enden. Daß dieses Dilemma bei den Betroffenen aus Ostdeutschland vor dem Hintergrund ihrer Umbruchserfahrungen besondere Reaktionen auslöst, soll im Folgenden anhand erfahrungsgeschichtlicher Forschungsergebnisse gezeigt werden.

Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte junger Ostdeutscher - Befunde aus einem Forschungsprojekt

In einer erfahrungsgeschichtlich angelegten, ergebnisoffenen Verlaufsanalyse gingen wir, Zeithistoriker an der Jenaer Universität, angeregt vom Generationsverständnis Karl Mannheims vor einigen Jahren von der (zugegeben) etwas gewagten Hypothese aus, daß sich in der Folge der historisch schwerwiegenden Umbrüche in den Gesellschaften Ostdeutschlands und Osteuropas seit 1989 demnächst markante junge Generationseinheiten herauskristallisieren könnten, die mit dem Anspruch auf eine eigene, neue Deutungsmacht über die jüngste Geschichte, Gegenwart und Zukunft in Erscheinung treten könnten.5 Auf der Basis von mehr als 100 lebensgeschichtlichen Interviews mit jungen Ostdeutschen und ihren Eltern aus unterschiedlichen sozialen Milieus richtete sich unser Forschungsinteresse zunächst auf die besonderen Voraussetzungen des bevorstehenden Generationswechsels in den ostdeutschen Ländern. Unsere Ergebnisse verwiesen u.a. darauf, daß sich Übereinstimmungen und Differenzen im Vergleich mit jungen Westdeutschen, wie sie von der Jugendforschung generell diagnostiziert werden, in verschiedenen Alterskohorten unterschiedlich darstellten. Wir entdeckten gegensätzliche Entwicklungsdynamiken, die sich auf eine prä- bzw. postpubertäre Erfahrung des gesellschaftlichen Umbruchs und der Transformation beziehen ließen. Während die 1989er Adoleszenten, die um 1970 Geborenen, den Umbruch zumeist als befreiendes Ereignis erlebten, das ihnen kulturelle Aneignungs- und soziale Beteiligungschancen in der westlichen Ankunftsgesellschaft eröffnete, die sie anpassungsbereit und erfolgsorientiert zu nutzen wußten, zeichneten sich die um 1980 Geborenen durch eine deutlich skeptische bis pessimistische Haltung gegenüber aktuellen und künftigen gesellschaftlichen Entwicklungen (Wandel der Arbeitswelt, demographische und ökologische Probleme) und anhaltende Orientierungskrisen aus. Im Unterschied zu den älteren Geschwistern und den gleichaltrigen Westgeborenen, deren Vertrauen in die vorgefundenen gesellschaftlichen Institutionen und Regeln vielfach ungebrochen schien, distanzierten sie sich häufig von der Gesellschaft, strebten Lebensziele jenseits des gesellschaftlichen Leitbildes Karriere, Familie, Wohlstand an und verorteten sich selbst in einem Zustand der Orientierungs- und metaphysischer Obdachlosigkeit. Während einige das Orientierungsvakuum in soldatisch hierarchischen Gemeinschaften der Bundeswehr oder in studentischen Verbindungen zu überwinden suchten - wir nannten sie "Ordnungssucher" -, wandten sich andere Reisezielen in Osteuropa oder fernöstlichen Religionen zu bzw. engagierten sich in autonomen sozialen Projekten ("Sinnsucher"). Vielfach zeichnete sich auch ein ausgeprägtes Interesse an selbstbestimmten Gemeinschaftsformen in Wohnprojekten oder im Umkreis privater Clubs und Freundeskreise ab ("Gemeinschaftsstifter").

Die Ergebnisse unserer Analysen deuteten letztlich darauf hin, daß sich die potentielle Prägnanzbildung einer markanten neuen Generation infolge des gesellschaftlichen Umbruchs und mit entsprechendem zeitlichen Abstand von ihm nicht, wie wir vermutet hatten, unter denjenigen abzeichnet, die um 1990 ihre Pubertäts- oder Adoleszenzphasen absolvierten, sondern eher von jenen erwartet werden kann, die um 1990 noch die Grundschule besuchten. Unser Material bot uns dafür mehrere Begründungsansätze6:

Erstens schrieb sich die gravierende gesellschaftliche Diskontinuität um 1990 in die Erinnerungen der um 1980 Geborenen nicht, wie bei den zehn Jahre Älteren, als ein Ereignis ein, das sie von fesselnden Reise- und Konsumbeschränkungen und obrigkeitlicher Gängelung befreite. Sie erlebten den plötzlichen Verlust einer überschaubar gesicherten, bergenden Kindheitswelt noch an der Seite ihrer Eltern. Als Pubertierende beobachteten sie die Orientierungskrisen der Erwachsenen in einer überstürzten gesellschaftlichen Transformation, die Verunsicherungen und Zusammenbrüche ihrer Lehrer im Umbruchschaos der Bildungsinstitutionen und das unvermittelte Verschwinden privater Netzwerke. Die Phase der Nachwende-Krise, so scheint es, wurde für sie zu einem traumatischen Prägungsereignis, das sie früh und abrupt von ihren Wurzeln in einer gesellschaftlichen Vergangenheit trennte und ihre Zukunftsgewißheiten nachhaltig erschütterte.

Zweitens zeigte sich die Suche nach neuen Deutungsansätzen wiederholt in einer intensiven Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Dabei kritisieren die jungen Ostdeutschen sowohl ihre Eltern und Lehrer und deren vermeintlich mangelnde Bereitschaft, die eigene Geschichte aufzuarbeiten, als auch die Angebote der offiziellen Geschichtsschreibung, die ihnen als "bequeme Entsorgung der DDR" im "Topf deutscher Diktaturgeschichten" erscheint.

Drittens wurde dabei eine Affinität zu den Großeltern auffällig, deren Erfahrungen in den Wirrnissen um 1945 mit den eigenen kompatibel zu sein scheinen. Die historische Zäsur 1945 wird als jähes Ende der Normalität in den Biographien der Großeltern gedeutet und als Beginn des Geworfenseins in eine Welt, in der Orientierung kaum noch möglich scheint.

Viertens prägen sich in den Erwartungshorizonten dieser jüngsten Alterskohorte in unserer Versuchsanordnung gesellschaftliche und individuelle Abstiegs- bzw. radikale, unkalkulierbar erscheinende Umsturzszenarien besonders deutlich aus. Hierzu paßt ein ausgeprägtes materielles Sicherheitsbedürfnis, zu dem sich vor allem die jungen Frauen in unserem Sample bekannten.

Zu den Ost-West-Differenzen im Selbstverständnis der heute 25jährigen Deutschen als Generation

Um diese Befunde als spezifisch ostdeutsche Eigenheit verifizieren und auf die besonderen Umstände und Erfahrungen beim Heranwachsen in der stillgestellten, verendenden DDR-Gesellschaft und dem anschließenden rasanten gesellschaftlichen Wandel beziehen zu können, entschlossen wir uns, unsere Ergebnisse in einem vertiefenden nächsten Untersuchungsschritt anhand von Kontrollgruppen zu überprüfen. Unsere Befragungen richteten sich nun nicht mehr so sehr auf die unterschiedlichen Konstellationen intergenerationeller Erfahrungsverarbeitung zwischen ostdeutschen Generationen, sondern konzentrierten sich auf jene jüngste Alterskohorte, die sich hinsichtlich potentiell neuer Welt- und Selbstdeutungen als vielversprechend erwiesen hatte. Wir konfrontierten einmal eine Gruppe besonders integrationsbereiter und erfolgsorientierter ostdeutscher Studenten bzw. Absolventen, die die von den Eltern und der Gesellschaft gewünschten Bildungskarrieren reibungslos und mit guten Ergebnissen absolvierten - wir nannten sie die "Erfolgreichen" -, mit einer Gruppe von "Abbrechern", "Aussteigern" und "Abtauchern", die, wie wir erfuhren, in dieser ostdeutschen Altersgruppe ebenso zahlreich anzutreffen wie selten zu einem Gespräch zu bewegen sind. Zum anderen stellten wir eine Gruppe junger "West-Ost-Wanderer" - es handelt sich um Studenten, die in den alten Bundesländern aufwuchsen und in den neuen studieren -, einer Gruppe von Studenten gegenüber, die sich in entgegengesetzter Richtung bewegt hatten, also in der DDR geboren und großgezogen wurden und nun im Westen des Landes studieren. Obwohl alle Befragten über Erfahrungen im Osten und Westen Deutschlands und Europas verfügten, ergaben sich zwischen Ost- und Westgeborenen erstaunlich differente Befunde in den Weltbildern und im Selbstverständnis als Generation. Dazu zwei Beispiele, die die Pole verschiedener Erfahrungshintergründe und Selbstdeutungen markieren.

Zur Biographie Maries

Marie ist eine kleine, unruhig agile junge Frau mit wachen Augen, die 1981 in einer südthüringischen Kleinstadt geboren wurde und heute in Bayern Germanistik und Geschichte studiert. Sie weist schon am Beginn unseres ersten Gesprächs nachdrücklich darauf hin, daß sie ein "ungewünschtes Kind" gewesen und ihre Existenz also schon vorgeburtlich von äußeren Eingriffen bedroht gewesen sei. Ihre Mutter wurde gerade 16, als Marie schließlich doch zur Welt kam; was bedeutete, daß zunächst Großeltern und Krippe den Hauptteil der Erziehungspflichten übernehmen mußten.

Dieser Zustand änderte sich, als die Mutter ihre kaufmännische Ausbildung abgeschlossen hatte und einen jungen Witwer mit Sohn ehelichte. Stiefvater und Stiefbruder werden von nun an zu wesentlichen Bezugspersonen in Maries Kindheit. Marie besucht einen evangelischen Kindergarten und verbringt nach wie vor viel Zeit bei den Großeltern. Während ihr der katholische Großvater und die Urgroßmutter sudetendeutscher Herkunft oft altmodisch und verschroben vorkommen, erinnert sie ihren Stiefvater, der als Elektroingenieur in einem VEB arbeitet und sich lebhaft mit dem politischen Weltgeschehen auseinandersetzt, als die intelligente, fortschrittliche Leitfigur ihrer frühen Kindheit. Allerdings "meckerte", wie Marie es ausdrückt, ihre gesamte Herkunftsfamilie unentwegt über die DDR, solange dieselbe existierte. Dabei beschwor die Urgroßmutter die glorreichen Zeiten im Sudetenland unter Hitler, und der Vater war frustriert, weil sich im Betrieb nichts mehr zum Besseren bewegen ließ.

Als 1989 die Mauer fiel, hatte Marie gerade die letzten Süßwaren aus ihrer Schultüte aufgebraucht. Mit dem Ereignis verbindet sie Bilder aufgeregter, jubelnder und weinender Menschen, die sich in den Armen liegen, und mit einer Tankstelle, in der ihr eine fremde Oma die erste Westmark schenkte. Ihr anschließender Zugriff auf ein riesiges lila Regal mit Milka-Schokolade, die ihr im Fernsehen lange schon begehrenswert erschienen war, wird zu Maries ganz persönlichem Wende-Ereignis. Obwohl sie in der Folgezeit mit derlei Begehrlichkeiten überschüttet wird, hütet sie den ersten Riegel "Lila Pause" über Jahre wie einen Schatz.

Die folgenden Jahre wirbeln Maries Leben durcheinander. Hatte sie zuvor in ihrem Umfeld viel Zuwendung in Form von Zeit erfahren, so schien es Zeit für sie nun gar nicht mehr zu geben. Dafür gab es Geld; und was Marie auch immer wünschte - wenn es für Geld zu haben war, war es auch für sie zu haben. Was war geschehen? Maries Stiefvater hatte schon 1991 seinen Ingenieurposten in der Industrie verloren und sich als Elektromeister selbständig gemacht. Zudem engagierte er sich kommunalpolitisch als SPD-Stadtrat, was ihm auch wirtschaftliche Vorteile brachte. Er genoß Ansehen im Städtchen, und es gab viel zu bauen in den Nachwende-Jahren. Eine Zeitlang kam es Marie so vor, als ob alle Leute ihre Leitungen und Steckdosen von ihrem Stiefvater in Ordnung gebracht wissen wollten. Maries Mutter übernahm die Büroarbeit in der Firma und besuchte eifrig die dafür erforderlichen Weiterbildungskurse. Auch die Großeltern verloren schon in den frühen 1990er Jahren ihre Jobs und pendelten von da an bis zum Rentenalter zwischen Wohnort Ost und Arbeitsort West.

Nach dem Eintritt ins Gymnasium scheitert Marie an Überforderung. Sie schwänzt die Schule, wird von Mitschülern ausgegrenzt und findet auch bei Lehrern kaum Unterstützung. Vielleicht aus Trotz nimmt sie ihre Lehrer als "frustrierte Leute" wahr, die mit sich selbst genug haben (wie die Eltern auch) und von denen sie nichts lernen will. Erst nach einem Wechsel in die Realschule scheint Maries Leben kurzfristig in geordneten Bahnen zu verlaufen. Als sie 15 wird, in einer Hochphase ihrer Pubertät, trennen sich die Eltern. Maries Urteil darüber klingt lakonisch: Die waren "ausgepowert", wie sie meint, hatten jahrelang rund um die Uhr gearbeitet, eine Firma gegründet, ein Haus gebaut; und als die Geschäfte dann schlechter gingen, gab es keine Ressourcen mehr, um das gemeinsam zu schaffen. Die Mutter entflieht in der Folge dem häuslichen Unfrieden, die Kinder bleiben beim Vater zurück, weil sie es so wollen. Der Stiefvater verkraftet die Trennung nicht und landet in der Psychiatrie. Marie beschreibt diesen Bruch, die Verunsicherungen in dieser Krise als die schwerwiegendsten in ihrem Leben. Als der Stiefvater - die letzte, verläßlich erscheinende Leitfigur in ihrem Umfeld (sie nennt ihn "die Respektsperson") - vor ihren Augen und auf Dauer psychisch zusammenbricht, reagiert sie mit Eßstörungen. Der leibliche Vater, ein gelernter Metzger, mischt sich ein, hat aber, wie Marie sagt, als "typischer Wendeverlierer, der nach 89 keinen Fuß mehr auf die Erde gekriegt hat", keine Chance, den Verlust auszugleichen. Marie verliert rapide an Gewicht. "Ich wollte Kontrolle", analysiert sie die damalige Krise, "als alles außer Kontrolle war, wollte ich das kontrollieren, was ich konnte, meinen Körper. Das war mein Protest."

Dabei wehrt sich Marie weniger gegen die Personen, von denen sie abhängig ist, enttäuscht oder verlassen wird. In ihrem Erzählstrom über das eigene Leben reihen sich Erinnerungen und Geschichten aneinander, auf die sie selbst stets dasselbe Interpretationsmuster legt. Die Menschen, ihre Erfolge, ihre Krisen und ihr Scheitern erscheinen ihr in aller Widersprüchlichkeit stets verständlich. Maries Dilemma besteht darin, daß sich in der Außenwelt kaum Verursacher der Bedrohungen und Verunsicherungen lokalisieren lassen. Statt dessen scheinen es stets unüberschaubare, riskante Umstände zu sein, die die Menschen in ihren Geschichten in Orientierungskrisen und Kontrollverluste treiben und sie zwingen, diese Krisen nicht in Auseinandersetzung mit der Außenwelt, sondern ausschließlich in sich selbst zu bewältigen. Bis heute hat Marie kein Ventil gefunden, um ihre Frustrationen, Ängste und Verunsicherungen gemeinsam mit anderen abarbeiten oder ausagieren zu können. Dieses Muster prägte sich auch in ihre Weltsichten, Handlungsstrategien und Erwartungshorizonte ein.

In ihrer Selbstdeutung rechnet Marie es sich so hoch an, daß es ihr in der Krise nach der Trennung der Eltern gelang, sich aus der gefährlichen Lage der Magersucht ohne fremde Hilfe, nur durch eigene Kraft befreit zu haben. Dieser gelungene Kraftakt verleiht ihr schließlich das Selbstvertrauen, eigene Entscheidungen zu treffen. Sie holt ihr Abitur nach, geht nach Hamburg, um Geld zu verdienen, und will studieren. Daß es sie nun an eine Universität in Bayern verschlagen und sie sich dort für Germanistik und Geschichte entschieden hat, hält sie eher für einen Zufall. Studieren, meint Marie, könne man auch im Osten ganz gut, nur Geld verdienen eben nicht. Doch Geld verdienen muß sie, wie sie sagt; nicht um reich zu werden, sondern um die existentiellen Risiken zu mindern, die ihr in der Zukunft unausweichlich scheinen. Marie will kämpfen, um ihr Leben und das der geplanten Kinder mit einem Minimum an materieller Sicherheit auszustatten. Deshalb wird sie auch auf keinen Fall in ihre Herkunftsregion zurückkehren. "Alle gehen aus diesem Grund dort weg", meint sie, "jeder, der kann, geht". Dabei sieht es in Maries Herkunftsregion vergleichsweise gut aus, es floriert ein bescheidener Tourismus, der ihre Mutter noch immer über Wasser. hält. "Aber das wird weniger", prognostiziert Marie, ,,für uns alle wird es immer weniger werden." Das Schicksal ihrer kleinen Heimatstadt scheint ihr schon heute besiegelt: Dort werden bald viele herausgeputzte Häuser stehen, die die Eltern und Großeltern nach 1989 mit großem Aufwand auf die Standards westlicher Behausungen gebracht haben, doch sie werden leerstehen, weil keiner sie mehr brauchen wird.

Zur Biographie Martins

Martin wurde 1982 in einem kleinen Dorf bei Holzminden in Niedersachsen geboren. Seit knapp zwei Jahren studiert er in Jena Politikwissenschaften und Interkulturelle Wirtschaftskommunikation. Es hätten auch gern andere Studienfächer sein können, aber diese Kombination erschien ihm vor drei Jahren besonders interessant. Er ist ein großer junger Mann mit kindlichen Gesichtszügen und einem schelmisch grinsenden Blick. Daß seine Erzählflüsse nur schwer zu stoppen sein würden, zeigt sich schon am Beginn unseres Gespräches, als er unaufgefordert die Nennung seines Geburtsortes mit einer zehnminütigen Ortsbeschreibung verbindet. Dabei kommen ganz ähnliche wirtschaftliche Veränderungen zur Sprache wie in Maries Heimatberichten. Wie Marie erscheint ihm nur die Landschaft seiner Heimatregion nach wie vor als sehr angenehm, ähnlich der an seinem Studienort in Thüringen. Ansonsten jedoch, so urteilt er, sei um Holzminden herum kaum noch etwas in der altbewährten Ordnung. Vor allem die ansässige Industrie gehe allmählich völlig "den Bach herunter". Duft- und Geschmacksstoffe werden dort hergestellt, ein Zweig der chemischen Industrie; aber auch Glas, welches inzwischen in Osteuropa billiger zu haben ist. Die Arbeitslosigkeit verharre auf konstant hohem Niveau, fast so hoch wie in Berlin. Allerdings gebe es keine Abwanderungen wie im Osten des Landes, sondern eher neue Zuwanderer aus Polen oder Rußland. In den Schulen mache sich der hohe Ausländeranteil besonders problematisch bemerkbar, was den "oberen Zehntausend" in Martins Heimatstädtchen zunehmend Sorgen bereite.

Im Unterschied zu Marie beschreibt Martin den wirtschaftlichen Strukturzerfall und die demographische Problematik seiner Herkunftsregion jedoch nicht als Betroffener. Seine Position ist die eines volkswirtschaftlich und politisch interessierten Beobachters. Zwischen Martins bisherigem wie dem zu erwartenden Lebensverlauf und den beobachteten wirtschaftlichen oder sozialen Strukturproblemen scheint es keinerlei Verbindung zu geben. Er hält es eher für zufällig, daß seine beiden Wohnsitze in Regionen mit Strukturproblemen liegen.

Als Martin zur Welt kam, hatten seine Eltern, wie er es ausdrückt, "die Ernte schon eingefahren". Martins Vater war damals 40 Jahre alt, etabliert als selbständiger Versicherungsvertreter, der sich zum Zeitvertreib in gelegentlich recht einträglichen Nebenbeschäftigungen übte. Das Haus war gebaut, etwas Erspartes zurückgelegt, und die beiden zehn und sieben Jahre älteren Brüder Martins längst aus dem Gröbsten heraus. Martins Mutter war als junges Mädchen mit ihrer Familie aus Polen in die Bundesrepublik übergesiedelt und genoß es, nach der Geburt ihrer Kinder Hausfrau zu sein.

Für Martin, das Nesthäkchen, stand damit viel elterliche Zeit und Zuwendungsenergie zur Verfügung; etwas zu viel vielleicht, folgt man seiner Einschätzung. Aufgewachsen in einer Gesellschaft und einer Familie, die sich kaum noch anderes als immerwährenden Aufschwünge und wirtschaftliche Stabilität auf höchstem Niveau vorstellen konnte, blickte Martin von früher Kindheit an mit unerschütterlichem Urvertrauen in die Zukunft.

Seinen Eltern ist er dankbar für den Optimismus und die vielen ermunternden Anregungen, die sie mit auf den Weg gaben und die seine Selbständigkeit beförderten. Elterlicher Antrieb erwies sich durchaus als notwendig, weil Martin dazu neigte, in ausgedehnten Phasen häuslicher Bequemlichkeit vor dem Fernseher zu versinken. Wenn auch nicht so existenziell wie Marie, hatte auch Martin in der Folge dieser Neigung ebenfalls mit Gewichtsproblemen zu kämpfen. In seiner Kindheit wechselten solche Phasen mit anderen, in denen er sich unter Freunden außerordentlich aktiv politisch, sportlich oder anderweitig betätigte.

Wie Marie schaffte auch Martin seine Abiturprüfungen erst im zweiten Anlauf, was sich seiner Erinnerung nach auf die Tatsache zurückführen läßt, daß er "zukunftstechnisch" nie so recht auf eine "verbissene" Linie festzulegen war. Seine Interessen waren stets zu vielfältig, zugleich vertraute er fest darauf, daß ihm im rechten Moment die richtige Entscheidung zufallen würde. Eigene Antriebskräfte entstanden in Martins Leben in der Regel aus seinem Urtrieb, unabhängig sein zu wollen. Dieser Antrieb verbindet ihn bis heute mit einem besten Freund, den er bewundert, weil er noch konsequenter als er selbst überall in der Welt unterwegs ist, immer auf der Flucht vor Mutter und Oma, "die so gut kochen", wie Martin ironisch anfügt.

Im Unterschied zu Marie spielen materielle Absicherungsbedürfnisse in Martins Lebensentwürfen überhaupt keine Rolle. Wörter wie Geld oder Besitz kommen allenfalls vor, wenn er von den Eltern oder Großeltern spricht, aber auch dann nur selten.

Obwohl das vergleichsweise bescheidene Erbe, das er mit seinen Brüdern zu teilen hat, nicht allzu üppig ausfallen dürfte, scheint Martin einer Erfahrungswelt zu entstammen, in der Lebensbewältigungsprobleme finanzieller oder materieller Art der Vergangenheit oder fremden Welten zugeordnet werden. Vermeintlich befreit von solcherlei Mühsal, hängt der Himmel an Martins Erwartungshorizonten voller verheißungsvoller Optionen. Da gibt es zum einen den mit der Freundin gemeinsam ausgearbeiteten Plan, auf dem Lande als Hausmann zu leben, Kinder zu erziehen und einen riesigen Garten zu gestalten. Andererseits würde er gerne in ein kleines "E-Commerce-Unternehmen" einsteigen, das Freunde gerade gegründet haben. Reizvoll erscheint ihm aber auch, für einen großen Konzern zu arbeiten, neue Märkte zu erschließen, z.B. Kontakte in Lateinamerika aufzubauen. Um sich im Irrgarten der vielen, einander oft ausschließenden Möglichkeiten nicht zu verirren, vertraut Martin auf seine Freundin. Er ist sich sicher, daß sie den richtigen Weg finden wird (wie einst seine Eltern), und blickt deshalb gelassen der Zukunft entgegen.

Zu konträren Selbst- und Weltdeutungen in den Fallrekonstruktionen

Ob es sich um den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, um gegenwärtige Strukturkrisen oder künftige Wandlungen auf dem Arbeitsmarkt handelt - Martins Urteile verblüffen stets dadurch, daß ihm nichts wirklich unter die Haut zu gehen scheint. Auch wenn er über sich selbst spricht, bleibt er der leidenschaftslos unberührte Beobachter.

Dabei vermittelt er den Eindruck eines Menschen, dem es unmöglich erscheint, jemals von Schicksalsschlägen oder schroffen Wendungen ernsthaft getroffen zu werden. Martin scheint außerhalb der Realität in einem virtuellen oder posthistorischen Raum zu siedeln, von dem aus er das krisenreiche Weltgeschehen in entspannter Sitzhaltung auf dem Bildschirm verfolgt. Die Extravaganz dieser Haltung ist ihm bewußt, und sie entspricht seiner Erfahrung.

Sowohl die Flüchtlingsströme aus der DDR, den Mauerfall und den Irakkrieg in seiner frühen Kindheit als auch die gegenwärtigen, massiven Flüchtlingsbewegungen zwischen Afrika und dem europäischen Kontinent erlebte Martin auf dem Bildschirm mit, ohne daß sich seine Lage dadurch jemals geändert hätte.

Aufgewachsen in der ungetrübten altbundesdeutschen Wohlstandswelt der 1980er und 1990er Jahre und in einer Familie, die ihm das Gefühl vermittelte, auf Dauer bestens umsorgt zu sein, genießt er das Selbstgefühl einer von Gefährdungen und Krisen relativ unberührten Existenz. Folgt man den Diagnosen des Psychologen Stephan Grünwald, der Deutschland jüngst "auf die Couch" legte, dann gehört Martin mit der ihm eigenen Lebenshaltung und Weltsicht zu den Protagonisten einer Generation, die die westliche Welt in einem weitaus größerem Maße revolutionierte als einst ihre 68er Generationsvorgänger. Jeder eingreifend kritische, politische Geist, der noch die Kämpfe gegen Nachrüstung und Umweltzerstörung geprägt hatte, so urteilt Grünwald, sei aus den Lebenshaltungen der neuen Jungen um die Jahrtausendwende entschwunden. Nahezu laut- und mühelos hätten sie gegen die alten Ideale einer kämpferischen Jugend ein neues Leitbild durchgesetzt, das die Lebensziele auf "individuelle Glücksmaximierung mit Vollkaskoversicherung" ausrichtet. Außerhalb dieser Ziele rückt nichts mehr zu Leibe, geht nahe oder gefährdet die eigene Gelassenheit. 7

Martin bekennt sich zu einer solchen Haltung und nennt sie ein "dickes Fell". Nach eigener Einschätzung ist ihm eine solche Schutzhülle schon in frühen Abwehrkämpfen gegen zwei erheblich stärkere Brüder gewachsen, leistet ihm aber auch weiterhin bei der Aufrechterhaltung der eigenen Selbstsicherheit und eines distanziert unaufgeregten Weltverhältnisses gute Dienste. Diese entspannte Haltung kennzeichnet auch Martins Definitionsversuche zu den Positionen der eigenen Generation, die von ihm stets in Abgrenzung von den 68er Generationsvorgängern formuliert werden:

"Das ist doch gerade unser Vorteil, ich meinÂ’ als Generation, daß wir das nicht mehr müssen, dieses deutsche Jammern, Schuldigfühlen und das Verdächtigen von wegen nationalistisch oder Nazi-Vergangenheit, das haben die vor uns erledigt, die Achtundsechziger. Ich kann sagen, ich bin 82 geboren, das war vierzig Jahre vor meiner Zeit. Ich meinÂ’, soll nicht vergessen werden, aber warum sollen wir nicht auch ein bißchen locker sein und stolz, und froh sein können, daß wir hier geboren sind, jetzt gerade nach der Vereinigung."8

Auch in bezug auf die historisch begründeten Schwierigkeiten der Deutschen, sich im Vereinigungsprozeß nach einer 40jährigen Teilungsgeschichte einander anzunähern, die Martin schon selbst miterlebt hat, bezieht er eine distanzierte, überparteiische Position. Für ihn und "seine Generation", so sagt er, wäre das kein Thema mehr, ihm bleibe dabei lediglich unverständlich, warum sich das "lockere, gegenseitig bejahende Verhältnis" zwischen Deutschen aus Ost und West, das er unter seinen Mitstudenten in Jena erfährt, nicht längst flächendeckend durchgesetzt habe. Freilich registriert auch er Unterschiede in den Erfahrungen und Erwartungen, wenn er von den "Wessis" und den "Ossis" spricht, wobei ihm kaum bewußt zu sein scheint, wie sehr er dabei die eigene Haltung als eine aus westlicher Erfahrung erwachsene beschreibt:

"Vielleicht sind die Wessis da schon ein bißchen entspannter, weil es bei denen immer schon so ging. WarÂ’n irgendwelche Krisen, mal hier mal dort, ging es halt doch immer bergauf. Die sind halt ein bißchen gelassener und denken sich, irgendwie kommen wir da schon durch. Wir kriegen das schon hin .... Und natürlich, wenn man hier im Osten die Arbeitslosigkeit sieht, strukturelle Probleme, auch das Ungleiche, daß man sich da vielleicht auch ungerecht behandelt fühlt, versteh ich schon."

Wie Martin, so geht auch Marie davon aus, daß gravierende Ost-West-Differenzen in ihrem studentischen Umfeld in Bayern kaum noch eine Rolle spielen. Wie er, führt auch sie die Formulierung "unsere Generation" im Gespräch unbefragt ein, um Abgrenzungen von den anderen oder dem anderen, von den Älteren oder dem Vergangenen deutlich machen zu können. Unterschiedliche Erfahrungshintergründe zwischen Ost und West spielen auch bei ihren Abgrenzungsversuchen keine Rolle. Wenn sie also wie Martin auch ein gesamtdeutsches, manchmal sogar eher westeuropäisches Selbstverständnis ihrer Generation voraussetzt, so fallen ihre Deutungen der eigenen Generation doch gänzlich anders aus als die seinen:

"Also unsere Generation, wir werden die ersten sein, die damit fertigwerden müssen, daß es immer weniger wird. Die Welt wird nicht mehr so, wie Westeuropa es den anderen vorgemacht hat, das ist Illusion, das wissen wir, da sind wir die ersten. Eher wird es uns so gehen, wie es denen im Süden schon lange geht. Aber wir protestieren nicht, vielleicht die nach uns; aber wir protestieren nicht, wir sitzen weiter brav in den Bibliotheken. Jeder sagt sich, ich schaffe das vielleicht noch, auch wenn es immer enger wird, ich komm noch durch."

Während Martin seine Generation als eine versteht, die endlich entspannt die Früchte genießen kann, die die Vorfahren in angespannten Kämpfen bei der Bewältigung der vielfach belasteten deutschen Geschichte eingefahren haben, versteht Marie ihre Generation als eine, die sich rasanten und gefährlichen Wandlungen in einer Welt zu stellen hat, in der sich Erfahrungen und Hoffnungen der Generationsvorgänger längst überlebt haben.

Während sich das Prägungsereignis in Martins Leben als eine Endlosschleife von Sicherheiten, Aufstiegen und Wohlstandsmehrungen darstellt, gleicht das von Marie einem atemberaubenden Strudel, der in ihrem Leben eine Serie nachhaltig wirkender Verunsicherungen und Brüche auslöste. Die verschiedenen Prägungen strukturieren die Auseinandersetzung der jungen Erwachsenen mit der Vergangenheit ebenso wie ihre Erwartungshorizonte. Das wird schon deutlich in den Argumenten, mit denen beide die Lebenswelten ihrer Eltern kritisieren. Marie grenzt ihre eigenen Positionen durchgängig strikter und radikaler von denen ihrer Eltern und Großeltern ab als Martin. Nicht allein wegen der wirtschaftlichen Strukturprobleme schließt Marie eine Rückkehr in die heimatliche Region und ihr Herkunftsmilieu kategorisch aus:

"Ich will auch nicht mehr nach Hause, weil mich das überfordert, dieses Sudetendeutschtum meiner Großeltern. Das finde ich braun, nicht im Sinne von Nazibraun, aber eben stockreaktionär. Und auch meine Mutter, die macht da plötzlich mit, fährt mit dahin, in die alte Heimat. Und dann interessiert sie sich plötzlich brennend für Magda Goebbels, nur weil ihr das dieser Knopp im Fernsehen eingeredet hat. Als ob die mit ihrer eigenen Geschichte nich genug hätte, aber nein, die wird übersprungen. Also ich fahr da schon noch hin, aber sag mir, ich muß das nicht verstehen, was die machen, und ich will da auch nichts regeln."

Ebenso entschieden verwirft sie die privaten Lebensmuster ihrer Vorfahren:

"Also in zehn Jahren, da möchte ich schon Mutter sein und berufstätig sein, weil ich das will und ich muß. Wie das gehen soll, weiß ich nicht, das setzt viel Durchhaltevermögen voraus, ist mir nicht klar, ob ich das hab. Jedenfalls will ich nicht heiraten, auf keinen Fall. Ich halte die Ehe für eine antiquierte Institution, die es definitiv nicht mehr geben wird. Schön, daß Schwule jetzt heiraten dürfen, aber völlig sinnlos, weil keiner die Institution mehr braucht. Also ich will das unkonventioneller, aber wie das aussehen soll, keine Ahnung."

Dagegen fallen Martins Abgrenzungsversuche weitaus moderater aus:

"Meine Eltern kommen noch aus ner Zeit - das ist mir besonders bewußt -, wo Sexualität und Familie vollkommen anders waren. Mein Vater wird mit dem Alter auch etwas konservativer, meine Mutter ist da oftmals aufgeschlossener, was Lebenswandel angeht und so. Also wie die ihr Leben so aufgebaut haben, so würd ich das nicht machen, also lieber später Familie, erstmal was Eigenes ausprobieren und dann lockerer angehen. Aber wir sind schon lange Zeit nicht mehr auf solche konträre Punkte gekommen, also daß wir uns wirklich gezofft haben. Die vertrauen mir eigentlich, sagen sich, der Junge kriegt das meiste gebacken, und helfen eben, wenn ich geldmäßig mal bißchen schwach dastehe oder was ansteht. Ich helfe ja auch, wenn Vater mal wieder mit dem Computer nicht klarkommt."

Während in Martins familiärer Erfahrungswelt ernstzunehmende Konflikte und Spannungen zwischen den Generationen nicht mehr vorzukommen scheinen, zeichnet sich Maries Verhältnis zu den leiblichen Vorfahren durch ein hohes Maß konfliktreicher Angespanntheit aus. Die Anspannung schlägt sich auch in ihrem Verständnis von der eigenen Generation nieder.

Marie definiert ihre Generation als eine, auf der die Last ungelöster und darüber hinaus kaum lösbar erscheinender Verstrickungen ihrer Generationsvorgänger ebenso lastet wie die Aussicht auf eine immer unkalkulierbarer und bedrohlicher werdende Zukunft.

Den Entscheidungsträgern aus der Vorgängergeneration in Politik und Wirtschaft bringt Marie ähnlich wenig Vertrauen entgegen wie ihren Eltern. Die Zweifel an deren Handlungsfähigkeit beim Management der anstehenden Krisenverschärfung verunsichert sie:

"Â… weiß ich auch gar nicht, ob das Sinn hat, von den Politikern was zu fordern. Weil man sieht ja, die sind auch am Ende mit ihrem Latein. Und ich, also ich möchte die Entscheidungen auch nicht treffen, die da kommen, ich möchte das auch nich machen. Außerdem, die wirklich was entscheiden, in der Wirtschaft oder so, die können wir ja sowieso nicht wählen."

Hier treffen wir erneut auf Maries wesentliches Problem. Ihre gefühlte Unsicherheit mag größer sein als die tatsächlich belegbaren Gefahren. Noch geht es ihr gut, sie studiert an einer Universität ihrer Wahl und belegt gewünschte Fächer, obwohl ihre Eltern einen solchen Luxus kaum mehr finanzieren können. Doch Marie verfügt über ein ausgeprägtes Sensorium der Krisenwahrnehmung, das sich schon in ihrer Kindheit ausgebildet hat. Drohende Wandlungen und Umbrüche erspürt sie sensibel und treffsicher. Im Unterschied zu Martin, der sich sicher ist, daß auch die anstehenden Strukturkrisen von den Entscheidungsträgern erfolgreich bewältigt werden, sind Maries Weltwahrnehmungen so beunruhigend, weil sie nirgends geeignete Krisenbewältigungsstrategien entdeckt. Nicht nur die Politiker, auch ihre eigene Generation erscheint ihr ratlos. Sie ist sich sicher, daß die Integrationsqualität der Gesellschaft über Erwerbsarbeit künftig weiter rapide abnehmen wird, und daß ihre Generation die erste sein wird, die sich darauf einzustellen hat, ihr Leben außerhalb des überkommenen Leitbildes vom individuellen Aufstieg durch berufliche Karriere zu bewältigen. Selbst- und weltverändernde Großentwürfe, die die 68er Generationsvorgänger noch in revolutionären Schwung versetzen und zum kollektiven Aufbruch motivieren konnten, sind für die Nachkommen nicht in Sicht. Marie steckt in der Falle einer Individualisierung der Konfliktlösungsstrategien. Das setzt sie unter Druck, und es macht ihr Angst. Alle individuellen Absicherungsbemühungen erscheinen ihr wirkungslos gegen das, was sie ihre "ganz banale, schreckliche Zukunftsangst" nennt.

In unserer Studie sind es nahezu ausschließlich die in der DDR sozialisierten 20- bis 25jährigen Deutschen und darunter vor allem die Frauen, die sich zu einer solchen beunruhigten Erwartungshaltung bekennen. Eine Übersiedelung in die alten Bundesländer scheint an den durch Wandel, Krisen und Brüche geprägten Weltsichten wenig zu ändern. So begegnet man auch mitten im florierenden Bayern schon einer jungen Generation, die ihre eigen Lage als außerordentlich prekär definiert und sich damit so gar nicht in das Bild Stephan Grünwalds von der coolen und unrührbaren Jugend der Jahrtausendwende einzufügen scheint.

Anmerkungen

1 Dazu Ahmend, Ch.: Die prekäre Generation. In: Die Zeit, Nr. 14 vom 30. März 2006, S. 65.

2 Dazu: BMA / Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesrepublik,, Berlin 2001-2005; Lutz, Roland: Jugendarbeitslosigkeit. In: Andresen, Sabine u.a. (Hg.): Vereinigtes Deutschland - geteilte Jugend, Opladen 2003, S. 413-428.

3 Zur gesellschaftlichen Transformation als Erfahrungsraum ostdeutscher Heranwachsender siehe Kirchhöfer, D.: Aufwachsen in Ostdeutschland, Weinheim 1998; Jesse,E.: Eine Revolution und ihre Folgen, Berlin 2000; Förster, P.: Junge Ostdeutsche auf der Suche nach Freiheit, Opladen 2002.

4 Siehe dazu Bude, H.: Die Überflüssigen als transversale Kategorie. In: Berger, P.A. u.a.: Alte Ungleichheiten. Neue Spaltungen, Opladen 1998; Krafeld, F.J.: Die überflüssige Jugend der Arbeitsgesellschaft. Eine Herausforderung an die Pädagogik, Opladen 2000; Lutz, B.: Im Osten ist die zweite Schwelle hoch. Fehlende Arbeitsplätze und Nachwuchsstau vor den Toren des Arbeitsmarktes, Halle 2001 (Forschungsberichte aus dem zsh).

5 Zum historisch-theoretischen Ansatz unserer Studie siehe Niethammer, L.: Sind Generationen identisch? In: Reulecke, R. (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003 (Schriften des Historischen Kollegs, Bd. 58); ders.: Ex oriente lux, nox oder nix? Einführung zur ungewissen Folge prägnanter Jugendgenerationen des 20. Jahrhunderts. In: Bürgel, T. u.a. (Hg.): Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte im ostdeutschen Generationenumbruch, Jena 2004 (Mitteilungen des SFB 580).

6 Dazu Bürgel, T.: Gibt es eine vom ostdeutschen Umbruch geformte Generation? In: Schüle, A. u.a. (Hg.): Die DDR aus generationsgeschichtlicher Perspektive, Leipzig 2006 .

7 Günwald, St.: Deutschland auf der Couch, Frankfurt am Main 2006, S. 24ff.

8 Die Zitate stammen aus einer Sammlung von Volltranskripten, die gegenwärtig von uns analysiert werden. Es handelt sich um ein Sample von insgesamt 30 Interviews, die wir mit "ostgeborenen" Studenten in Erlangen und "westgeborenen" Studenten in Jena im Frühjahr 2006 durchführten.

Dr. Tanja Bürgel, Zeithistorikerin, Universität Jena

aus: Berliner Debatte INITIAL 17 (2006) 6, S. 4-14