Papier und die SPD sind geduldig

in (14.12.2006)

Die SPD sitzt immer noch auf einem Grundsatzprogramm fest, das als "Berliner Programm" zu Zeiten des Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine beschlossen wurde, und so ist es verständlich, daß die

Parteiführung ein neues Dokument zur Hand haben möchte, falls mal jemand danach fragt. Groß wird die Begehrlichkeit nach programmatischer Unterrichtung nicht sein, denn dem Publikum ist nicht verborgen geblieben, daß ein Parteiprogramm wenig aussagt über partei- oder gar regierungspolitische Praxis. Gegenüber Nachforschungen, ob denn verkündete Grundsätze und tatsächliches Handeln übereinstimmen, ist solch ein Papier üblicherweise geschützt: Die Aussagen sind derart vage gehalten, daß sie als Kriterien zur Überprüfung des Agierens der PolitikerInnen kaum etwas hergeben.

Nun liegt der parteiamtliche Entwurf für ein neues SPD-Grundsatzprogramm vor, im Januar nächsten Jahres soll er von den Parteigremien abgesegnet, sodann öffentlich zur Diskussion gestellt und im Herbst als "Hamburger Programm" von einem Parteitag "verabschiedet" werden, wie das so schön heißt. Zu einer leidenschaftlichen Anteilnahme der Öffentlichkeit wird es gewiß nicht kommen, schon deshalb nicht, weil fünfundsechzig Druckseiten zu diesem Zweck durchzulesen wären.

Zudem finden sich in dem Text viele Sätze, die nicht gerade zur intensiven Lektüre animieren, etwa solche: "Die Zukunft ist offen, voller Chancen und Gefahren", "Unsere Arbeitsgesellschaft ist in einem steten Wandel begriffen", "Das Wissen nimmt in einem atemberaubenden Tempo zu" usw. usf.

Wer ausdauernd genug ist, das Dokument genau zu studieren, stößt auch auf interpretationsbedürftige Aussagen: "Die SPD lehnt jede Form von Angriffs- oder Präventivkrieg ab", heißt es da. Der Krieg gegen Jugoslawien war eben gar kein Krieg.
Und das Soziale an der Sozialdemokratie? "Der Abstand zwischen Armen und Reichen vergrößert sich wieder", ist in dem Entwurf zu lesen, "die Leiter zum sozialen Aufstieg ist für einige Bevölkerungsgruppen nicht aufgestellt". Da wird es interessant, es tritt die programmatische Novität des Entwurfs zutage: der "neue", der "vorsorgende Sozialstaat". Soweit dem Dokument Näheres zu entnehmen ist, soll dieser nicht mehr altsozialdemokratisch Umverteilungspolitik betreiben, überhaupt nicht mehr versuchen, in wirtschaftliche Machtverhältnisse einzugreifen, sondern die erwähnte "Leiter" aufstellen, und zwar in Form eines verbesserten Bildungssystems. Und wenn alle Kletterkünste nicht nach oben führen? Dann werden "einige Bevölkerungsgruppen" wohl darauf verzichten müssen, einen nachsorgenden Sozialstaat einzufordern, denn der ist programmatisch nicht mehr vorgesehen.

Wer das nicht einsieht, gehört zu einer Gruppe von "Widersachern der SPD", nämlich den "Populisten". Die "gaukeln vor, der Ausstieg aus der Wirklichkeit unserer Zeit sei möglich". Lafontaine, das weiß ja die verbliebene SPD-Mitgliedschaft, ist das deutsche Wort für Populismus ...

FDP-Generalsekretär Dirk Niebel hat dem SPD-Programmentwurf, trotz mancher Vorbehalte, ein Lob erteilt: Diese Partei, so äußerte er, Kurt Beck zuzwinkernd, komme damit den Liberalen "entgegen".

Die Neosozialdemokratie mit ihrem "neuen Sozialstaat" ist weiterhin unterwegs zum Neoliberalismus - diese Botschaft immerhin ist aus dem ansonsten eher ermüdenden Programmentwurf herauszulesen. Zu dieser Wanderung wollen sich die SPD-Oberen programmatisch beauftragen, und deshalb mußten sie geduldiges Papier so ausgiebig strapazieren.