Effiziente Bettendichte

Zur Kritik der Politischen Ökonomie des Gesundheitswesens

Wohin Reduktion von Komplexität führt, kann man im Moment an der Debatte über das Gesundheitswesen sehen, die sich bloß noch um die angeblich zu hohen Kosten dreht. Dabei wird das Bild immer ...

... unstimmiger, je länger diese "Kostenexplosion" andauert - nämlich schon über 30 Jahre. Und genauso lange gibt es auch schon die Kritik daran, die immer das gleiche richtige Argument in die Debatte einbringt. Das Argument nämlich, dass weder die Ausgaben für Gesundheit insgesamt (2004: 234 Mrd. Euro) noch die Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung (2004: 131,6 Mrd. Euro, das entspricht 56,3% der Ausgaben insgesamt) explodieren, nicht einmal dramatisch steigen, sondern sich seit 30 Jahren parallel zur Steigerung des Bruttoinlandsprodukts bewegen. Die Ausgaben für Gesundheit machen seither immer ca. 11% des BIP (2004: 10,6%) aus. Dennoch steigen die Beitragssätze seit Jahren an - allerdings auch nicht mit der Dramatik, die die PolitikerInnen und andere Interessierte der Öffentlichkeit gerne suggerieren würden. Während die Beitragssätze der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) im Jahr 1995 durchschnittlich bei 13,15% lagen, waren sie 2004 auf 14,22% gestiegen (inzwischen sind sie wieder unter 14% gefallen). Das sagt natürlich noch nichts darüber aus, ob genug, zu viel oder zu wenig Geld "im System" ist. Je nach Interessenlage wird von Überversorgung, Freibiermentalität oder chronischer Unterfinanzierung gesprochen - die zu Grunde liegenden Kriterien solcher Urteile sind in den seltensten Fällen medizinisch oder im strengen Sinne gesundheitspolitische. Laut Berechnungen des Statistischen Bundesamts hat die öffentliche Hand Mitte der 1990er Jahre noch rund 18% der gesamten Gesundheitsausgaben getragen; dieser Anteil ist bis zum Jahr 2004 auf rund 16,9% zurückgegangen. Der Anteil der ArbeitgeberInnen hat sich im gleichen Zeitraum von 40,1% auf 36% reduziert. Rund 36 Mrd. Euro mehr gaben dagegen die privaten Haushalte 2004 im Vergleich zum Jahr 1995 aus. Damit ist ihr Anteil an der Finanzierung der gesamten Ausgaben im Gesundheitswesen von 41,9% im Jahr 1995 auf 47,1% im Jahr 2004 gestiegen, was also insgesamt eine Verschiebung der Finanzierung zu Gunsten der öffentlichen Haushalte und vor allem der ArbeitgeberInnen und zu Lasten der privaten Haushalte bedeutet. Auch die paritätische Finanzierung der GKV-Beiträge wurde durch die rot-grüne Gesundheitsreform endgültig gekippt. Inzwischen ist der Beitragssatz der ArbeitnehmerInnen um 0,9%-Punkte höher mehr als der der ArbeitgeberInnen. Kaum jemand hält es in den gesundheitspolitischen Debatten für nötig, auf diese Relationen hinzuweisen. Stattdessen wird das Mantra der zu hohen Lohnnebenkosten für die deutschen Unternehmen gebetet und mit, wie Hartmut Reiners es formuliert, einer keinen Zweifel zulassenden Selbstverständlichkeit wiedergekäut, dass die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland gefährdet sei. Nahezu alle Maßnahmen, die im Moment gesundheitspolitisch vorgeschlagen und zum Teil umgesetzt werden, werden aus wirtschafts- und verteilungspolitischen Gründen - zu Lasten der medizinische Leistungen in Anspruch nehmenden PatientInnen - verfügt und nicht, um GKV-Ausgaben rationaler zu strukturieren.

Kostenexplosion und Scheininnovationen

Damit die Dimensionen klar werden: Es geht im Gesundheitswesen um 4,2 Mio. Beschäftigte, also um etwa jeden neunten Beschäftigten in Deutschland und um die schon erwähnten inzwischen ca. 240 Mrd. Euro laufender jährlicher Ausgaben. Jede Kürzung der Beiträge oder Beitragssätze bedeutet, dass es weniger zu verteilen gibt. Schaut man sich zunächst den ambulanten Sektor an, der in Deutschland relativ streng vom stationären getrennt ist und die fachärztliche Versorgung kostenintensiv verdoppelt, so haben die niedergelassenen ÄrztInnen bzw. ihre standespolitische Vertretung, die Kassenärztliche Vereinigung, es mit dem Kassenarztrecht von 1955 geschafft - und entsprechend feierte es das Deutsche Ärzteblatt - "ein Gesetz zu bewirken, das den Kassenärzten das Monopol bei der ambulanten medizinischen Versorgung garantierte und auf Grund seiner Honorarbestimmungen die Voraussetzungen für den in der Folge zu verzeichnenden überdurchschnittlichen Einkommenszuwachs der niedergelassenen Ärzte schuf." Hinzu kommt, dass sich die Zahlen der ÄrztInnen seit Anfang der 1970er Jahre gemessen an den zu Versorgenden überproportional erhöht haben. Die Folgen wurden bald sichtbar und von den wenigen kritischen ÄrztInnen massiv angeprangert: Überversorgung, explodierende Leistungsmengen, vor allem in der Technik, im Labor und bei den Arzneimitteln. KritikerInnen sprechen hier von einer "anbieterinduzierten Nachfrage". Die heute drohende "Ökonomisierung" der Medizin ist also mindestens seit 1945 integratives Moment des Korporatismus im Gesundheitswesen. Allerdings war diese Ökonomisierung nicht oder nicht in dieser Weise marktförmig wie die heute diskutierte Ökonomisierung. Medizinische und ökonomische Überlegungen sind innerhalb der bestehenden Strukturen oft nicht zu trennen. In die Definition von Krankheiten, von kritischen Werten bei bestimmten Diagnosen, in die Entscheidungen zur Einführung neuer Verfahren, in die Begründung von Therapien und Verweigerung von Therapien gehen schon - ob den Beteiligten bewusst oder nicht - ökonomische Kriterien ein. Ähnliches ließe sich auch von der Geräteindustrie berichten. Welche Apparate, Maschinen oder technische Verfahren sich durchsetzen oder nicht, ist keineswegs Resultat eines Prozesses, in dem mit "rein medizinischen" Kriterien entschieden wird. Die aktuelle Situation offenbart allerdings inzwischen interessante Widersprüche. Die jahrzehntelange enge Beziehung der Ärzteschaft zur Pharmaindustrie gerät nämlich zur Zeit ordentlich ins Wanken. Nicht etwa, weil man moralische oder medizinische Bedenken hat, sondern - so scheint es zumindest - weil der Ärzteschaft inzwischen dämmert, dass bei einem gedeckelten Gesamtbudget die Milliardengewinne, die die Pharmaindustrie auf Grund ihres geschützten Status in Deutschland jedes Jahr einfahren kann, den Kuchen für die anderen Leistungserbringer immer kleiner werden lässt. Inzwischen tritt beispielsweise die Kassenärztliche Vereinung Bayern dafür ein, Kostentreibereien durch teure Medikation bei der Krankenhausentlassung, rechtswidrige Musterabgaben und dubiose Anwendungsbeobachtungen zu unterbinden sowie den Einsatz von (insgesamt 15.000) PharmareferentInnenen in Praxen oder Apotheken zu verbieten. Zugleich plädiert ihr Vorsitzender Axel Munte allerdings auch für mehr Zuzahlungen durch die Versicherten/Patientinnen.

Qualitätsrhetorik und Qualitätsmanagement

Die KV Nordrhein hat Nägel mit Köpfen gemacht und den Heidelberger Pharmakologen Ulrich Schwabe mit einer "Me-too-Liste" beauftragt, auf der inzwischen 86 Medikamente stehen, bei denen es sich um medizinische Scheininnovationen handelt, die kaum einen Zusatznutzen bringen. Die ÄrztInnen im Rheinland sollen diese Mittel, darunter Topseller und äußerst umsatzstarke Präparate nicht mehr verschreiben. Inzwischen haben 17 Pharmakonzerne gegen die Liste geklagt. Hier erscheint plötzlich die Ärzteschaft fortschrittlicher als alle bisherige Gesundheitspolitik, egal welcher Coleur. Keiner Regierung ist es bisher gelungen, der Pharmaindustrie Grenzen zu setzen. Immerhin geht es bei den Arzneimitteln nach den Ausgaben für Krankenhausbehandlung um den zweitgrößten Posten bei den Ausgaben der GKV. 18% der Ausgaben werden für Arzneimittel bezahlt. Das waren immerhin 23,7 Mrd. Euro im Jahr 2005. An denen verdient auch der Pharmagroßhandel, der - von der breiten Öffentlichkeit kaum beachtet - Anfang September diesen Jahres wegen Kartellbildung zu einem Bußgeld von vergleichsweise milden 2,6 Mio. Euro verdonnert wurde, weil die vier Marktführer Anzag, Gehe, Phoenix und Sanacorp Preisabsprachen getroffen und Marktanteile unter sich aufgeteilt haben sollen. Der andere großindustrielle Akteur auf dem Gesundheitsmarkt ist die - von Kritikern im Moment weniger als die Pharmaindustrie beachtete - Medizintechnik-Industrie, die mit 108.000 Beschäftigten eher zu den kleineren Wirtschaftssektoren zählt. Die deutsche Medizintechnik-Industrie ist nach den USA auf dem Weltmarkt führend und expandiert weiter. Der Markt für Medizintechnik in Deutschland hat ein Volumen von rund 18 Mrd. Euro, ein Drittel davon werden mit Krankenhäusern umgesetzt. Im Vergleich zur Gesamtwirtschaft werde der Branche ein überproportionales Wachstum prognostiziert: Bis 2010 wird ihr ein von 6,8% auf 7,1% steigender Anteil an den Gesundheitsausgaben vorausgesagt. Wesentlich für den Markterfolg neuer Medizintechnik-Produkte ist, dass die damit verbundenen medizinischen Leistungen in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen werden. Ein weiterer Haifisch also im großen Gesundheitsmarktbecken, dessen Geschäftsaussichten auch dadurch besser geworden sind, dass die Großgeräteverordnung, die eine flächendeckende und wirtschaftliche Aufstellung von teuren medizinischen Spezialgeräten regelte, 1997 im Zuge der herrschenden ideologischen Tendenz einer Kritik aller gesellschaftlichen bzw. staatlichen Planung nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts abgeschafft wurde. Wettbewerb ist mit der Einführung der diagnosebezogenen Fallpauschalen (DRG) zur Berechnung der Krankenhausfinanzen nun auch unter den Krankenhäusern eingeführt worden und ist Grundlage ihrer Organisation und Kalkulation. Das wird eine "Bereinigung des Krankenhausmarktes" zur Konsequenz haben, also die Schließung unrentabler Häuser, was gesundheitspolitisch oder medizinisch zunächst kein Problem sein müsste, denn die Bettendichte in Deutschland ist europaweit immer noch relativ hoch. Aller Qualitätsrhetorik und allem Qualitätsmanagement zum Trotz ist aber zu befürchten, dass die Rentabilität und die medizinische Qualität nicht in einem notwendigen Zusammenhang stehen. Im Gegenteil, eine qualitativ gute Versorgung ist allzu oft unrentabel und vice versa.

Personalabbau an die Grenzen der Fahrlässigkeit

Im Krankenhaussektor gestaltet sich der Ökonomisierungsprozess zugleich als Privatisierungsprozess. Der Privatisierung gehen in der Regel schon Rationalisierungsprozesse voraus, die das nichtärztliche Personal noch mehr trifft als das ärztliche - ganz zu schweigen von den PatientInnen. Zum Teil wird Personal abgebaut bis an die Grenzen der Fahrlässigkeit: "Die Braut wird schön gemacht", heißt das in schönstem Marketingdeutsch. Auf der Seite der Belegschaften in den Krankenhäusern gab es in diesem Jahr zwei parallel verlaufende Streiks der nichtärztlichen Beschäftigten und der ÄrztInnen. Letztere haben sich unter Führung des Marburger Bunds aus der Solidarität der Krankenhausbeschäftigten verabschiedet und einen eigenen Tarifvertrag angestrebt und auch erreicht. Was dies für die deutschen Gewerkschaften heißt, ist bislang noch genauso umstritten wie die Frage, was das für die angestellten ÄrztInnen bedeutet (vgl. ak 509). Die Anfang Oktober beschlossene "Gesundheitsreform" zeigte noch deutlicher, dass es gar nicht um bessere medizinische Versorgung oder bessere Gesundheitspolitik geht. Von der BürgerInnenversicherung ist nahezu nichts mehr übrig geblieben, die Kopfpauschale ist klein und kann nur zusätzlich verlangt werden, wenn den Krankenkassen das Geld nicht reicht. Sie ist dennoch eine weitere Belastung der sozial Schwachen. Die privaten Versicherungen bleiben erhalten. Die ArbeitgeberInnen haben endlich ihre Forderung durchgesetzt, dass "ihr" Beitrag eingefroren wird. Und - in der Öffentlichkeit bislang kaum beachtet - das individuelle Schuldprinzip ist in die GKV eingeführt worden: die Folgen eines Piercings oder einer Tätowierung soll der "Schuldige" in Zukunft selbst tragen. Ein populistischer und geschickter Schachzug. Da regt sich erst mal kaum einer auf. Was aber, wenn diese Form der Privatisierung weitergedacht und -praktiziert wird? Soll der Raucher mit Lungenkrebs seine Behandlung auch selbst zahlen? Und muss die Lohnarbeiterin ihre Bandscheiben-OP bald selbst zahlen? Hätte sich ja einen anderen Job suchen können. Nadja Rakowitz aus: ak - analyse & kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 510/20.10.2006