Arbeitslosigkeit bei Keynes.

Eine systemimmanente Folge unregulierter Wirtschaftsexpansion.

1. Die Folgen wirtschaftlicher Expansion

Im Unterschied zur neoliberalen Wirtschaftsauffassung führt wirtschaftliche Expansion nach Keynes unvermeidlich in der langen Frist zu einer Abnahme des notwendigen Arbeitsvolumens. Statt von einem Gleichgewicht geht Keynes im Gegenteil von einer zunehmenden Tendenz zum Ungleichgewicht aus. Ohne wirtschaftspolitische Gegenmaßnahmen ist eine wachsende Arbeitslosigkeit die zwingende Folge unregulierter wirtschaftlicher Expansion. Ursache dieser systemimmanenten Entwicklung ist das Phänomen einer tendenziell überproportionalen Zunahme der (freiwilligen) Ersparnisbildung bzw. der unterproportionalen Steigerung des Konsums bei wachsendem Einkommen (Keynes 1983/1936: 83f.). Das so entstehende Nachfrageproblem ist Folge einer "grundlegenden psychologischen Regel" (ebd.: 84) - von Keynes auch als "normales psychologisches Gesetz" (ebd.: 98) bezeichnet. Es beruht auf der Annahme, daß Ersparnisbildung und Konsumhöhe nicht als primär vom Zinsmechanismus gesteuerte Größe im Sinne der klassischen Nationalökonomik zu begreifen sind, sondern ganz wesentlich von anthropogenen Einflußgrößen abhängen.

2. Determinanten der Konsumentwicklung

Die Konsumentwicklung hängt nach Keynes von "objektiven" und "subjektiven" Einflüssen ab. Zu den "objektiven" Größen, die den Hang zum Verbrauch bestimmen und die "in der Regel die hauptsächlichste veränderliche Größe [ist], von der der Verbrauchsbestandteil der Funktion der allgemeinen Nachfrage abhängen wird" (ebd.: 83), zählt Keynes vor allem Faktoren, die das monetäre Einkommen unmittelbar bestimmen, wie Veränderungen des Realeinkommens, der Steuern und Abgaben, aber auch Erwartungen über die zukünftige Höhe des Einkommens, die das momentane (Vorsorge-)Sparverhalten beeinflussen (ebd.: 77-91; Zinn 1993).

Was die "subjektiven" Faktoren betrifft, unterbreitet er einen Katalog von acht Motiven, die die Höhe der Ersparnis bzw. des Konsums bestimmen. Zu diesen zählt er Vorsorgeverhalten für unterschiedliche in der Zukunft liegende Belastungen (Alter, Kindererziehung, Unterhalt von Abhängigen), Schaffung von Unabhängigkeiten, aber auch schlicht Geiz. Das Zinsmotiv bleibt gleichfalls nicht unerwähnt, stellt aber nur eines unter vielen dar (Keynes 1983/1936: 92-96). Diese Beweggründe für Ersparnisbildung faßt er knapp mit den Stichwörtern Vorsicht, Voraussicht, Berechnung, Verbesserung, Unabhängigkeit, Unternehmungslust, Stolz und Geiz zusammen. Sie konkurrieren mit verschiedenen Motiven, die auf unmittelbaren Konsum gerichtet sind, zu denen er "Genuß, Kurzsichtigkeit, Freigebigkeit, Fehlrechnung, Prahlerei und Verschwendung" (ebd.: 93) zählt.

Die Ersparnisbildung folgt wie der Verbrauch spezifischen Motiven. Sie ist damit keine Restgröße, sondern konkurriert als alternative Form der Einkommensverwendung mit dem Konsum (Schlecker 1989). Die Aufteilung des Einkommens auf diese beiden Größen läßt sich mit dem Gesetz vom Ausgleich der Grenznutzen ("Zweites Gossensches Gesetz") erklären: Zunächst bietet jede weitere Konsumeinheit den größeren Nutzen, doch im Zeitverlauf nimmt der Nutzenzuwachs pro zusätzlicher Konsumeinheit ab, bis durch die Verwendung einer zusätzlichen Einkommenseinheit für Ersparnisbildung statt Konsum ein höherer Gesamtnutzen erzielt werden kann. Mit Blick auf die Nachfrage ergibt sich hieraus: "Je größer [...] unser Einkommen, desto größer ist unglücklicherweise auch die Spanne zwischen unserem Einkommen und unserem Verbrauch" (Keynes 1983/1936: 90). Die "fundamentale psychologische Regel" erfährt somit auch von seiten der Nutzentheorie ihre Bestätigung (Zinn 1986: 81). Untersuchungen des Spar- und Konsumverhaltens von Haushalten haben zudem immer wieder gezeigt, daß die Ersparnisbildung (der Konsum) bei wachsendem Haushaltseinkommen nicht nur absolut, sondern auch relativ zunimmt (sinkt).1

Diese einzelwirtschaftliche Analyse läßt sich auf makroökonomische Zusammenhänge übertragen. Im Verlauf der langfristigen Entwicklung des Kapitalismus, die mit einem Anstieg des realen Volkseinkommens verbunden ist, steigt auch die gesamtwirtschaftliche Sparquote aufgrund der zunehmenden Spartätigkeit der einzelnen Haushalte, deren Durchschnittseinkommen mit wachsendem Volkseinkommen ebenfalls steigen, tendenziell an. Von der Nachfrageseite geht also mit zunehmendem Wachstum des Sozialprodukts ein Impuls aus, der die weitere wirtschaftliche Expansion bremst. Gewissermaßen erzeugt der Wachstumsprozeß aus sich selbst heraus eine Grenze, die "umso rascher erreicht [wird], je stärker und störungsfreier die Expansion verläuft" (Zinn 1994: 34). Die tendenziell abnehmenden Wachstumsraten heutiger Industriegesellschaften lassen sich hierfür als empirischer Beleg anführen. Diese gewissermaßen systemendogene Wachstumsbremse begrenzt auch den weiteren Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Sparquote.

Aufgrund vielfältiger Einflußfaktoren auf das Konsumverhalten und -niveau besteht allerdings kein strenger und für jeden Zeitpunkt gleichermaßen nachweisbarer Zusammenhang zwischen Volkseinkommen und gesamtwirtschaftlicher Konsumquote. So können etwa umfangreiche Marketingmaßnahmen zu einem Konsumanstieg führen, der die Konsumquote trotz steigenden Einkommens vorübergehend konstant hält oder sogar steigen läßt. In die gleiche Richtung wirken auch zeitweise haussierende Preise bei Vermögensaktiva (Immobilien und Wertpapiere, insbes. Aktien; Gale/Sabelhaus 1999; Zinn 2000). Auch die Verteilung des Volkseinkommens ist selbstverständlich nicht ohne Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Konsumquote. Ein wachsendes Volkseinkommen muß nicht notwendigerweise zu einer höheren gesamtwirtschaftlichen Sparquote führen, wenn gleichzeitig eine Einkommensnivellierung stattfindet, d.h. Einkommensanteile von den oberen zu den unteren Einkommensschichten umverteilt werden. Sofern der hiermit verbundene Anstieg der Konsumquote in den oberen Einkommensschichten nicht durch einen entsprechenden Anstieg der Sparquote in den unteren Einkommensschichten kompensiert wird - was wegen des hier noch reichlich vorhandenen dringenden Bedarfs unwahrscheinlich ist -, wird die gesamtwirtschaftliche Sparquote bei wachsendem Volkseinkommen - zumindest vorübergehend - sinken, ohne daß die "fundamentale psychologische Regel" hierdurch verletzt würde.

Die Möglichkeit, mittels Einkommensumverteilung Beschäftigungsprobleme im Konjunkturverlauf zu lindern, hatte Keynes selbst ausdrücklich betont: "Das Heilmittel würde in verschiedenen Maßnahmen liegen, die den Hang zum Verbrauch durch die Neuverteilung der Einkommen oder andere Mittel zu steigern bezweckten; so daß ein gegebenes Niveau der Beschäftigung zu seiner Grundlage eine geringere Menge laufender Investitionen erfordern würde" (Keynes 1983/1936: 274).

3. Der tendenzielle Fall der Wachstumsraten

Makroökonomisch würden sich aus einem tendenziellen Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Sparquote nur dann keine ökonomischen Gleichgewichtsprobleme ergeben, wenn die mit der abnehmenden Neigung zum Verbrauch notwendigerweise wachsende Ersparnisbildung über die Investitionstätigkeit wieder vollständig in den Kreislauf zurückgeführt wird. Allerdings wäre auch dies keine dauerhafte Lösung, da hierdurch die Lücke zwischen (steigendem) Angebot und (zurückbleibender) Nachfrage im Zeitverlauf weiter vergrößert würde. Als theoretisch möglichen, gleichwohl unsinnigen - deshalb jedoch nicht auszuschließenden - Ausweg bezeichnet Keynes die Möglichkeit, die Einkommen so weit zu senken, daß sich keine dauerhafte Lücke zwischen Verbrauch und Einkommen auftun kann: "Der Bestand an Kapital und das Niveau der Beschäftigung werden folglich schrumpfen müssen, bis das Gemeinwesen so verarmt ist, daß die Gesamtersparnis Null geworden ist, so daß die positive Ersparnis einiger Einzelner oder Gruppen durch die negative Ersparnis anderer aufgehoben wird. In einer unseren Annahmen entsprechenden Gesellschaft muß das Gleichgewicht somit unter Verhältnissen des laissez-faire eine Lage einnehmen, in der die Beschäftigung niedrig genug und die Lebenshaltung genügend elend ist, um die Ersparnisse auf Null zu bringen" (ebd.: 182). Im beginnenden 21. Jahrhundert zeigt sich, daß dieser unsinnige Ausweg gleichwohl Realität zu werden scheint: In Deutschland findet seit Jahren eine Anpassung zwischen Verbrauch und Einkommen über eine Senkung der Arbeitseinkommen und damit der Absenkung der kaufkräftigen Nachfrage statt.

Die Möglichkeit, über die privatwirtschaftliche Investitionstätigkeit diese gesamtwirtschaftliche "Nachfragelücke" dauerhaft zu beseitigen, eröffnet sich Keynes zufolge prinzipiell nicht, weil Investitionen letztlich durch die Nachfrage bestimmt werden: "Neue Kapitalinvestition kann die laufende Kapitaldisinvestition nur übersteigen, wenn eine Zunahme der zukünftigen Ausgabe für den Verbrauch erwartet wird" (ebd.: 90). Im Gegensatz zur (neo-)klassischen Theorie läßt sich nach Keynes über eine Variation der Zinshöhe nicht notwendigerweise ein zum Gleichgewicht nötiges Investitionsvolumen erreichen. Der von der Neoklassik als Regulator beschriebene Zinssatz stellt auch hier nur eine von mehreren Einflußgrößen dar. Demgegenüber räumt Keynes dem "Zustand der langfristigen Erwartungen" über zukünftige Gewinn- und Absatzmöglichkeiten eine zentrale Bedeutung für die Bestimmung der Investitionen ein, denn "Erwartungen über die Zukunft [spielen] eine vorherrschende Rolle in der Bestimmung der Skala [...], nach der neue Investition ratsam erscheint. Wie wir aber gesehen haben, ist die Grundlage für solche Erwartungen sehr fragwürdig" (ebd.: 266f.) - und, so wäre hinzuzufügen, sie wird mit zunehmender wirtschaftlicher Expansion immer fragwürdiger.

Nur wenn die Erträge, die aus einer Investition erwartet werden, mindestens gleich den Erträgen aus einer alternativen Finanzanlage sind, kommt es überhaupt zur Investition. Diese Beziehung hat Keynes mittels der "Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals" formalisiert, die, wie aus der Investitionsrechnung bekannt, den internen Zinsfuß des investierten Kapitals beschreibt. Nur wenn die erwartete Verzinsung der Investition über dem Marktzins liegt, wird sich ein rational verhaltender Investor für die Investition entscheiden (ebd.: 114ff.).2 Vor diesem Hintergrund wird das gesamte Volumen der Investitionstätigkeit nur mittelbar vom aktuellen Marktzins bestimmt. Es werden nur so lange Investitionen vorgenommen, bis es "keine Klasse von Kapitalwerten mehr gibt, deren Grenzleistungsfähigkeit den laufenden Zinsfuß übersteigt" (ebd.: 115). Hieraus folgt, daß es abhängig von der von subjektiven Einschätzungen geprägten Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals unterschiedliche Investitionsvolumina bei gleichem Marktzins geben kann; oder, anders ausgedrückt: Ein sinkender Marktzins kann bei gleichzeitiger Veränderung der Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals gleichwohl mit einem sinkenden Investitionsvolumen einhergehen. Damit kann über eine Variation des Zinssatzes nicht notwendigerweise ein gesamtwirtschaftlicher Ausgleich von (freiwilliger) Ersparnis und (freiwilliger) Investition herbeigeführt werden.

4. Der unausweichliche "Tod des Rentiers"

Vor dem Hintergrund zurückgehender Erwartungen über zukünftige Absatzmöglichkeiten sinkt langfristig die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals. Hierzu hielt Keynes - noch vor dem Zweiten Weltkrieg, der die Welt wieder in bereits überwunden geglaubte Knappheitszustände zurückkatapultierte - fest: "Auf wirklicher langfristiger Erwartung beruhende Investition ist heute so schwierig, daß sie kaum durchführbar ist" (ebd.: 132). Gleichzeitig und gleichgerichtet muß langfristig auch der Marktzins sinken, da ausbleibender Investitionsbedarf auch zu einem sinkenden Kapitalbedarf führt. In einer wachstumsfreien Wirtschaft wird der Rentier letztlich funktionslos. Keynes gibt seiner Überzeugung Ausdruck, daß "ein richtig geleitetes, mit modernen technischen Hilfsmitteln ausgerüstetes Gemeinwesen, dessen Bevölkerung nicht sehr rasch zunimmt, in der Lage sein sollte, innerhalb einer einzigen Generation die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals im Gleichgewicht [gemeint ist ein Vollbeschäftigungsgleichgewicht, N.R.] auf ungefähr Null herunterzubringen; so daß wir die Zustände eines quasi-statischen Gemeinwesens erreicht haben würden, in dem Änderungen und Fortschritt sich nur aus Änderungen in der Technik, im Geschmack, in der Bevölkerung und in den Institutionen ergeben würden [...]. Wenn ich recht habe mit meiner Annahme, daß es verhältnismäßig leicht sein sollte, Kapitalgüter so reichlich zu machen, daß die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals Null ist, mag dies der vernünftigste Weg sein, um allmählich die verschiedenen anstößigen Formen des Kapitalismus loszuwerden" (ebd.: 184f.). Daß Keynes das Vorhandensein von Zinseinkommensempfängern zu solchen "anstößigen" Formen rechnet, macht er an anderer Stelle deutlich: "Obschon dieser Zustand [einer weitgehend gewinn- und wachstumslosen Wirtschaft, N.R.] nun sehr wohl mit einem gewissen Maß von Individualismus vereinbar wäre, würde er doch den sanften Tod des Rentners bedeuten, und folglich den sanften Tod der sich steigernden Unterdrückungsmacht der Kapitalisten, den Knappheitswert des Kapitals auszubeuten" (ebd.: 317).

Zurückgehendes Wachstum, sinkende Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals, rückläufiger Zinsfuß und "sanfter Tod des Rentiers" sind für Keynes Symptome ein und desselben Prozesses, nämlich der Überwindung von Knappheiten in der fortgeschrittenen (dritten) Phase der wirtschaftlichen Entwicklung von marktwirtschaftlich organisierten Industriegesellschaften (Mattick 1971: 23-27; Reuter 2004).

5. Die Bedeutung öffentlicher Investitionstätigkeit

Diese langfristige Entwicklung industriell-marktwirtschaftlicher Systeme vor Augen, deren konstitutives Moment in einer notwendigerweise abnehmenden privatwirtschaftlichen Konsum- und einer daraus resultierenden zurückgehenden Investitionsdynamik besteht, obwohl zum makroökonomischen Gleichgewicht ein steigendes Investitionsvolumen notwendig wäre, ließ Keynes nach Möglichkeiten suchen, dieser Entwicklung - zumindest übergangsweise - entgegenzuwirken, um das damit einhergehende Beschäftigungsproblem zu lösen. Grundsätzlich sah er die Möglichkeit, daß ein umfangreiches "Mäzenatentum" in der Lage wäre, diese Entwicklung zu bremsen oder zumindest für eine gewisse Zeit aufzuhalten, doch hegte er große Zweifel an der Sinnhaftigkeit einer derartigen "feudalen" Lösung des Beschäftigungsproblems: "Soweit Millionäre ihre Befriedigung darin finden, mächtige Paläste zur Beherbergung ihrer Leiber während ihres Lebens und Pyramiden zu ihrer Bergung nach dem Tode zu errichten, oder in Bereuung ihrer Sünden Kathedralen erbauen und Klöster oder Missionen beschenken, kann der Tag, an dem die Fülle des Kapitals auf die Fülle der Produktion störend einwirkt, aufgeschoben werden. ‚Das Graben von Löchern im Erdboden‘, bezahlt aus Ersparnissen, wird nicht nur die Beschäftigung, sondern auch das reale Einkommen der Volkswirtschaft an nützlichen Gütern und Dienstleistungen vermehren." Keynes beendet diesen Gedankengang nicht, ohne ausdrücklich hinzuzufügen: "Es ist aber nicht vernünftig, daß sich ein verständiges Gemeinwesen damit begnügen sollte, von solchen zufälligen und oft verschwenderischen Linderungen abhängig zu bleiben, nachdem wir einmal die Einflüsse verstanden haben, von denen die wirksame Nachfrage abhängt" (ebd.: 184).

KeynesÂ’ Untersuchungen über die Veranlassung zur Investition und der denkbare, gesamtgesellschaftlich jedoch wenig nützliche privatwirtschaftliche Lösungsansatz festigten seine Überzeugung, "daß die Aufgabe, die laufende Menge der Investition zu leiten, nicht ohne Gefahr in privaten Händen gelassen werden kann" (ebd.: 271). Einem aufgeklärten und demokratischen Staatswesen angemessen wäre demgegenüber ein gesamtgesellschaftlich abgestimmter Umgang mit privatwirtschaftlich nicht nachgefragten Ressourcen. Ein solcher kollektiv gesteuerter Umgang mit dem Produktionspotential würde auch den Druck von der privaten Wirtschaft nehmen, den im Inland nicht mehr zu realisierenden Absatz durch wachsende Exporte kompensieren zu müssen, was das grundlegende Problem zunehmender Absatzprobleme ohnehin nicht löst, sondern nur in andere Länder verlagert (Reuter 1998: 22f.). Insofern war es für Keynes nicht nur ein Gebot internationaler Fairness, binnenwirtschaftliche Probleme auch binnenwirtschaftlich zu lösen, sondern letztlich auch eine Notwendigkeit, um internationalen Ungleichgewichten vorzubeugen: "Wenn aber die Nationen lernen können, sich durch ihre Inlandpolitik Vollbeschäftigung zu verschaffen [...], braucht es keine wichtigen wirtschaftlichen Kräfte zu geben, die bestimmt sind, das Interesse eines Landes demjenigen seiner Nachbarn entgegenzusetzen. [...] Internationaler Handel würde aufhören das zu sein, was er ist, nämlich ein verzweifeltes Mittel, um die Beschäftigung im Inland durch das Aufzwingen von Verkäufen in fremden Märkten und die Einschränkung von Käufen aufrechtzuerhalten, der, wenn er erfolgreich ist, lediglich das Problem der Arbeitslosigkeit auf den Nachbarn schiebt, der im Kampf unterliegt"(ebd.: 322f.). Auch hier zeigt nicht zuletzt die Entwicklung in Deutschland, daß genau jener Weg begangen wird, vor dem Keynes bereits vor rund 70 Jahren gewarnt hat: Immer weitere Steigerungen des Exports gelten heute im Rahmen der herrschenden neoliberalen Ökonomik als wegweisendes Mittel, Beschäftigungsprobleme im Inland zu lösen. Wenn es noch eines Nachweises der Beschränktheit der herrschenden Ökonomie bedarf, kann auf diesen Zusammenhang verwiesen werden.

Gesamtgesellschaftlich koordinierte und staatlich geleitete Investitionen sind für Keynes aber kein dauerhaftes Mittel, Vollbeschäftigung zu gewährleisten. Sinnvolle öffentliche Investitionsgelegenheiten, die die kollektive Wohlfahrt zu steigern in der Lage sind, erkennt er nur für eine Übergangsphase (vgl. unten). Auf lange Sicht kann auch über öffentlich initiiertes Wachstum Vollbeschäftigung nicht sinnvoll hergestellt werden, da es zunehmend dem Graben von immer größeren Löchern gleichen würde.

Keynes geht bereits 1936 auf bestehende Vorbehalte gegenüber öffentlichen Investitionen ein, indem er auf die Asymmetrie in der Wahrnehmung der breiten Bevölkerung hinsichtlich der Möglichkeit, über öffentliche Investitionsprogramme das Beschäftigungsproblem zu mildern, hinweist: "Es ist eine bemerkenswerte Sache," schreibt er, "daß die übliche Meinung sich dieser unausweichlichen Schwierigkeit nur bewußt zu sein scheint, wenn es sich um öffentliche Investition handelt, wie im Falle von Straßenbauten, Häuserbauten und dergleichen. Als Einwand gegen Pläne für die Vermehrung der Beschäftigung durch die Investitionstätigkeit öffentlicher Behörden wird gemeinhin vorgebracht, daß sie Schwierigkeiten für die Zukunft schaffen. ‚Was wollt ihr tun‘, wird gefragt, ‚wenn ihr alle Häuser und Straßen und Stadthallen und Elektrizitätswerke und Wasserwerke usw. gebaut habt, die die stabile Bevölkerung der Zukunft aller Erwartung nach benötigen kann?‘ Aber es wird nicht so leicht verstanden, daß dieselbe Schwierigkeit für private Investition und industrielle Ausdehnung gilt; besonders für diese, da eine Sättigung der Nachfrage für neue Fabriken und Betriebe, deren jede einzeln nur wenig Geld absorbiert, viel eher erwartet werden kann, als eine Sättigung der Nachfrage für Wohnhäuser" (ebd.: 91).

Die "Allgemeine Theorie" (1936) endet mit der nachdrücklichen Warnung, daß es ohne öffentliche Eingriffe - die freilich als Ergänzung, nicht als Aufhebung des Marktmechanismus gedacht sind - zu wachsenden Ungleichgewichten auf den Arbeitsmärkten kommen muß, da die Nachfrage nach Arbeit aufgrund wachsender Ersparnis, sinkender Konsumdynamik und zurückgehender privatwirtschaftlicher Investitionen abnehmen wird. Eine Lösung sah Keynes zu diesem Zeitpunkt vor allem in Maßnahmen, die einerseits auf eine Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Konsumquote abzielen und andererseits das Investitionsgeschehen beleben, wofür er öffentliche oder halböffentliche Stellen in die Verantwortung ziehen wollte - eine Art Public-Private-Partnership. Kritikern dieser Forderungen hielt er entgegen: "Während daher die Ausdehnung der Aufgaben der Regierung, welche die Ausgleichung des Hanges zum Verbrauch und der Veranlassung zur Investition mit sich bringt, einem Publizisten des neunzehnten Jahrhunderts oder einem zeitgenössischen amerikanischen Finanzmann als ein schrecklicher Eingriff in die persönliche Freiheit erscheinen würde, verteidige ich sie im Gegenteil, sowohl als das einzige durchführbare Mittel, die Zerstörung der bestehenden wirtschaftlichen Formen in ihrer Gesamtheit zu vermeiden, als auch als die Bedingung für die erfolgreiche Ausübung der Initiative des Einzelnen" (ebd.: 321). Daß es ihm hierbei nicht um die Installation eines zentralistischen Systems ging, hatte er bereits 1925 festgehalten: "Ich glaube, daß der Staat in Zukunft viele Pflichten übernehmen muß, die er in der Vergangenheit vermieden hat. Für diese Zwecke werden die Minister und das Parlament unbrauchbar sein. Unsere Aufgabe muß sein zu dezentralisieren und zu übertragen, wo immer wir können, und vor allem halbautonome Körperschaften und Verwaltungsorgane einzurichten, die mit alten und neuen Staatsaufgaben betraut werden - ohne daß jedoch der demokratische Grundsatz oder die grundlegende Souveränität des Parlaments beeinträchtigt wird" (Keynes 1998a/1925: 109).

Eine derartige Ergänzung marktwirtschaftlicher Kräfte hielt Keynes jedoch nur für eine bestimmte Phase in der Entwicklung kapitalistischer Industriegesellschaften für notwendig, die gewißermaßen die Übergangszeit von der Mangel- in die Überflußgesellschaft darstellt. Insofern ist die "Allgemeine Theorie" primär eine allgemeine Theorie einer Phase der kapitalistischen Entwicklung. Langfristig lautet die Antwort auf die Beschäftigungsfrage: Arbeitszeitverkürzung. In der "Allgemeinen Theorie" geht Keynes nur an einer Stelle auf Arbeitszeitverkürzung ein und betont ausdrücklich, daß sie derzeit (1936!) noch nicht das Mittel der Wahl sein könne, um Beschäftigungsprobleme zu lösen, da - wegen noch vorhandener unbefriedigter Konsumbedürfnisse - einstweilen noch ein höheres Einkommen, also Wachstum, von der breiten Masse vorgezogen werde. Nachdem er sich für Maßnahmen, die auf eine Steigerung des Konsums und der Investition abzielen, ausgesprochen hat, fährt er fort: "Eine andere Gedankenrichtung findet die Lösung [...] durch eine Neuverteilung der bestehenden Beschäftigungsmenge ohne Erhöhung der Beschäftigung oder der Produktion. Dies scheint mir eine voreilige Politik zu sein"(Keynes 1983/1936: 276). Dennoch nimmt er bereits in der "Allgemeinen Theorie" die künftige Arbeitszeitverkürzung ins Visier. "Es kommt ein Punkt," schreibt Keynes in der "Allgemeinen Theorie" weiter, "an dem jeder Einzelne die Vorteile vermehrter Muße gegen vermehrtes Einkommen abwägt. Gegenwärtig [1936, N.R.] sind aber nach meiner Ansicht starke Anzeichen dafür da, daß die große Mehrheit der Einzelnen ein vermehrtes Einkommen einer vermehrten Muße vorziehen würde; und ich sehe keinen Grund, warum jene, die ein größeres Einkommen vorziehen würden, gezwungen werden sollten, sich einer größeren Muße zu erfreuen" (ebd.: 276).

6. Die drei Phasen der kapitalistischen Entwicklung

Auf die Bedeutung von Arbeitszeitverkürzung geht Keynes ausführlich in einem sieben Jahre nach der Allgemeinen Theorie veröffentlichten Memorandum ein (Keynes 1998c/1943). Während des Krieges waren auf Initiative des englischen Finanzministeriums Expertenrunden über ökonomische Probleme der Nachkriegsentwicklung organisiert worden. Mit dem Memorandum, das dem Problem der Arbeitslosigkeit in der Zukunft gewidmet ist, reagiert Keynes auf Vorlagen anderer Teilnehmer, die ihm nur unzureichend zwischen kurz- und langfristigen wirtschaftspolitischen Anforderungen unterschieden hatten. In diesem drei Jahre vor seinem Tod entstandenen Dokument findet sich gewissermaßen die Quintessenz seiner langjährigen wirtschaftstheoretischen und -politischen Erkenntnisse. In kondensierter Form dokumentiert es seine Sichtweise grundsätzlicher Entwicklungsphasen des Kapitalismus. Für die Zeit nach dem Krieg prognostiziert Keynes drei voneinander abgrenzbare Phasen:

1. Phase: Hier besteht ein erheblicher Bedarf an Investitionen, um die hohe Nachfrage (bedingt vor allem durch Wiederaufbau, Nachholbedarf, Mangel an Grundbedarfsgütern) decken zu können. Das notwendige Investitionsvolumen liegt in dieser Phase deutlich über dem Sparniveau. Gewinne werden kontinuierlich in neue Produktionsanlagen investiert, sei es, um vorhandene Kapazitäten zu erweitern, sei es, um neue Produkte, für die aufgrund niedriger Güterausstattung der Haushalte eine hohe Aufnahmebereitschaft besteht, auf den Markt zu bringen. Die optimistischen Absatz- und die damit verbundenen Renditeerwartungen ("Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals") werden aufgrund der dynamischen Nachfrage tendenziell erfüllt, so daß Gewinne kapazitätswirksam investiert werden. Das "Akkumulationskarussell", also die Abfolge von Gewinnerwartung, Investitionen und Gewinnen, kommt marktendogen initiiert in Fahrt und führt zu einem kontinuierlichen Kapazitätsaufbau. Die hohen Wachstumsraten ermöglichen den Unternehmern hohe Gewinne, lassen die Beschäftigung steigen, und höhere Realeinkommen bescheren dem Staat ein hohes Steueraufkommen, das wiederum zur Steigerung der kollektiven Wohlfahrt, zum Ausbau der Infrastruktur, zur Absicherung und Erweiterung der sozialen Sicherungssysteme etc. verwendet werden kann.

Um inflationäre Tendenzen zu unterdrücken, bedarf es nach Keynes in dieser Phase einer Wirtschaftspolitik, die einerseits die Höhe des Investitionsvolumens mittels geeigneter Kontrollen reguliert und andererseits auch nicht vor Bewirtschaftungsmaßnahmen zurückschreckt, um den Konsum zu dämpfen und damit die Ersparnisbildung zu fördern. Vordringlichste Aufgabe der Wirtschaftspolitik dieser Phase ist, die Bereitstellung des erforderlichen hohen Kapitalbedarfs für Investitionen zu unterstützen. Dieser Zeitabschnitt läßt sich als die Investitions- und Wachstumsphase des (Nachkriegs-)Kapitalismus bezeichnen.

2. Phase: Sie markiert den Übergang in ein grundsätzlich verändertes Investitionsregime. Das notwendige Investitionsvolumen entspricht weitestgehend der gesamtwirtschaftlichen Sparquote. Einerseits nimmt mit dem Rückgang renditeträchtiger Investitionsgelegenheiten die Investitionsbereitschaft ab, so daß es zu einem nachlassenden privatwirtschaftlichen Kapitalbedarf kommt, andererseits sind die drängendsten Bedürfnisse zunehmend befriedigt, was eine höhere Ersparnisbildung nach sich zieht.

Da der relativ abnehmenden konsumtiven Nachfrage ein relativer Rückgang der privatwirtschaftlichen Investitionstätigkeit entspricht, geht Keynes davon aus, daß bereits in dieser Phase zur Aufrechterhaltung eines hohen Beschäftigungsstandes ein nicht unbeträchtlicher Anteil aller getätigten Investitionen von öffentlichen Stellen entweder selbst getätigt oder zumindest von ihnen beeinflußt werden muß. Als positiven Nebeneffekt eines solchen sukzessiven Übergangs von einem privatwirtschaftlichen zu einem gesamtgesellschaftlich ausgerichteten öffentlichen Investitionsregime sieht Keynes die Glättung von stärkeren Wirtschaftsschwankungen: "Wenn zwei Drittel oder drei Viertel aller Investitionen getätigt sind oder von öffentlichen oder halböffentlichen Körperschaften beeinflußt werden können, sollte ein langfristiges und solides Programm in der Lage sein, den möglichen Schwankungsbereich von wirtschaftlichen Fluktuationen in wesentlich engeren Grenzen zu halten als früher, als ein kleinerer Teil der Investitionen unter öffentlicher Kontrolle stand und sogar dieser Teil die Tendenz hatte, den Schwankungen im strikt privaten Sektor der Wirtschaft zu folgen, statt sie zu korrigieren" (Keynes 1998c/1943: 141f.). Dieser Zeitabschnitt läßt sich als Übergangsphase vom Wachstums- in das Stagnationsstadium bezeichnen.

3. Phase: Das "goldene Zeitalter" ist von einem im Vergleich zum Investitionsvolumen (auf Vollbeschäftigungsniveau) höheren Sparniveau als Ausdruck einer sinkenden Attraktivität des Konsums infolge einer zwischenzeitlich erreichten hohen Güterausstattung der Haushalte geprägt. Sättigungstendenzen auf einer größer werdenden Zahl von Märkten lassen bislang eindeutige "Nachfragesignale" immer undeutlicher und uneinheitlicher werden, so daß für Investoren die sichere Kalkulationsgrundlage früherer Zeiten fehlt. Für den einzelnen Unternehmer steigt die Unsicherheit über Möglichkeiten und Richtungen zukünftigen Absatzes, so daß privatwirtschaftliche Investitionen an Dynamik verlieren.

Die Wirtschaftspolitik muß auf dieser Stufe im Gegensatz zur ersten Stufe nun für einen hohen - und, wie Keynes ausdrücklich betont, "sinnvollen" - Konsum sorgen und so dem Sparen entgegenwirken. Allerdings sieht er hierfür nur begrenzte Möglichkeiten. Viel eher sei davon auszugehen, daß die Investitionstätigkeit so weit vom Volumen her abnehmen werde, daß sie irgendwann allein aus den Abschreibungen finanziert werden könne. Keynes greift hier also das bereits skizzierte Bild einer Gesellschaft auf, die in zunehmendem Maße hinter ihren Produktionsmöglichkeiten zurückbleibt, also weniger akkumuliert und produziert, als sie akkumulieren und produzieren könnte. Dies macht - vor allem vor dem Hintergrund des gleichzeitig stattfindenden Produktivitätsfortschritts - eine sukzessive Verkürzung der Arbeitszeit unumgänglich und ermöglicht mehr Freizeit. Auf dieser Entwicklungsprognose gründet sich auch die Charakterisierung dieses Zeitalters als "goldenes": "Wenn die dritte Phase in Sicht kommt, wird [...] [es] notwendig sein, sinnvollen Konsum zu fördern, Sparen zu mißbilligen - und einen Teil des unerwünschten Überangebots durch vermehrte Freizeit zu absorbieren, mehr Urlaub (welches ein wunderbar angenehmer Weg ist, Geld loszuwerden) und kürzere Arbeitszeiten" (ebd.: 142). Am Horizont sah Keynes also deutlich die Umrisse einer Gesellschaft ohne weiteres Wachstum. Insofern läßt sich diese Entwicklungsstufe auch als Stagnationsphase bezeichnen. Mit Blick auf diese letzte Stufe kann der Keynesianismus auch als "Stagnationstheorie der langen Frist" bezeichnet werden (Zinn 1994: 63ff.; Reuter 2000).

Da dieses Zeitalter für Keynes aber noch in der Zukunft liegt, bleiben seine Ausführungen hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung vage; eine Auseinandersetzung über die zweite und dritte Phase hielt er 1943 noch für "rein akademisch". In künftigen Phasen sich einstellende wirtschaftliche Probleme müßten mit dem dann zur Verfügung stehenden Wissen und den bis dahin gemachten Erfahrungen flexibel und vor allem experimentierfreudig angegangen werden. "Sollte es dennoch zu einer größeren Schwankung kommen, wird es schwierig sein, geeignete, genügend kurzfristig wirkende Gegenmaßnahmen zu finden. Dies kann nur durch flexible Methoden mit Hilfe von Versuch und Irrtum auf der Basis von Erfahrungen erreicht werden, die erst noch gesammelt werden müssen." Hinsichtlich der grundsätzlichen Möglichkeit zur Stabilisierung einer künftig wachstumsfreien Wirtschaft zeigt er sich aber optimistisch: "Wenn die Behörden aber genau wissen, was sie versuchen wollen, und wenn sie ausreichende Machtmittel haben, sollte ein annehmbarer Erfolg bei der Durchführung der Aufgaben nicht allzu schwierig sein" (Keynes 1998c/1943: 143).

7. Keynesianische Beschäftigungspolitik heute

Welche Konsequenzen lassen sich aus der Keynesschen Theorie mit Blick auf die gegenwärtigen Beschäftigungsprobleme ziehen? Im wesentlichen ergeben sich fünf Ansätze einer alternativen Beschäftigungspolitik (vgl. auch Zinn 2006: 32):

1. Der Hinweis auf den Zusammenhang von Binnennachfrage und Beschäftigungsniveau ist eine der zentralen Botschaften von Keynes. Eine Beschäftigung sichernde Nachfrage setzt eine kontinuierliche Steigerung der Realeinkommen in Höhe des Produktivitätsfortschritts voraus. Dies ist jedoch nur die notwendige Bedingung zur Sicherung einer ausreichenden Binnennachfrage. Hinzukommen muß eine entsprechende Verteilung des Einkommens: Um eine nachfragedämpfende "räuberische Ersparnis" (Keynes 1979/1933) der oberen Einkommensschichten zu verhindern, müßten von Einkommenssteigerungen vor allem jene Haushalte profitieren, die (noch) über hohe Nachfragepotentiale verfügen, also von Sättigungsgrenzen weit entfernt sind und deshalb über hohe Konsumquoten bzw. niedrige Sparquoten verfügen. Die aktuelle Tendenz ist freilich eine andere: In allen kapitalistischen Ländern ist eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Tendenz zu einer zunehmenden Verteilungsdisparität festzustellen (Förster/Mira dÂ’Ercole 2005). In Deutschland sind die Reallöhne in den letzten zehn Jahren sogar gefallen, während Gewinn- und Vermögenseinkommen enorme Zuwächse verzeichnen konnten.

2. Exportüberschüsse sind prinzipiell das falsche Mittel, binnenwirtschaftliche Probleme zu lösen. Überschüsse des einen Landes sind notwendigerweise Defizite des anderen ("beggar my neighbor"-Politik). Exportweltmeisterschaft stellt in der Keynesschen Analyse keine Leistung dar, sondern ist im Gegenteil Ausdruck einer nachhaltigen Fehlentwicklung der Wirtschaft. Voraussetzung einer Korrektur ist auch hier die Steigerung der binnenwirtschaftliche Nachfrage.

3. Neben der Steigerung der privaten Nachfrage zur Schließung der Produktionslücke kommen staatlichen Investitionen eine zentrale Aufgabe zu. Aufgrund der Abhängigkeit der privaten Investitionstätigkeit von der privaten Nachfrage (Akzelerationsprinzip) sind nicht nur in wirtschaftlichen Schwächephasen, sondern auch mit Blick auf die lange Frist von privaten Investitionen keine ausreichenden Impulse zu erwarten. Deshalb sah Keynes die Notwendigkeit von mehr, statt weniger staatlichem Engagement - erst recht in der langen Frist. Einmal aus beschäftigungspolitischen Gründen, zum anderen aber auch zur Bereitstellung des notwendigen öffentlichen Bedarfs (Bildung, Forschung, Infrastruktur etc.).

4. Entsprechende Anforderungen ergeben sich für die Steuerpolitik in Volkwirtschaften der "Dritten Phase": Sie muß die notwendigen Einnahmen für den Staat sicherstellen und gleichzeitig zu einer Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Konsums beitragen. Statt Entlastungen für Haushalte mit hohen Einkommen und damit hoher Sparquote, ist eine steuerpolitisch initiierte relativ höhere Belastung der oberen Einkommen und Gewinne mit anschließender staatlicher Verausgabung eine Keynesianische Antwort auf die zunehmende Konsumschwäche.3 Der umverteilungsbedingte Konsum- und staatlich verursachte Investitionsschub würde das Nachfrageniveau unmittelbar erhöhen und damit zur Steigerung der Binnennachfrage beitragen.

5. Die Steigerung der Binnennachfrage und die Gewährleistung einer hohen staatlichen Investitionsquote reichen langfristig jedoch nicht aus, Vollbeschäftigung zu gewährleisten. Aufgrund der zunehmenden Auseinanderentwicklung zwischen Produktions- und sättigungsbedingten Absorptionsmöglichkeiten wird Arbeitszeitverkürzung im Laufe der kapitalistischen Entwicklung zum immer bedeutungsvolleren Mittel für die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit. Es ist die zentrale Keynessche Botschaft, daß entwickelte kapitalistische Gesellschaften ohne umfaßende Arbeitszeitverkürzung - "Drei-Stunden-Schichten oder eine Fünfzehn-Stunden Woche" (Keynes 1998b/1930: 123) - zwangsläufig zu Massenarbeitslosigkeitgesellschaften degenerieren.

Die Keynessche Analyse legt den Schluß nahe, daß die gegenwärtig in vielen kapitalistischen Ländern verfolgten ("neoliberalen") Lösungsansätze (Arbeitszeitverlängerung, Verteilungsdisparitäten erhöhende Steuer"reformen", Rückzug des Staates, Lohnsenkungen etc.) unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht Teil der Lösung, sondern Gegenstand des Problems sind.

Anmerkungen

1 Ausweislich der letzten (2003er) Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes (2005) beginnt die Ersparnisbildung bei einem monatlichen Haushaltsnettoeinkommen von rund 1.300 Euro. Sie steigt dann kontinuierlich bis auf rund 41 Prozent des Haushaltsnettoeinkommens in der höchsten erfaßten Einkommensklasse (10.000-18.000 Euro) an.

2 Für die (neo-)klassische Theorie würde die Anerkennung von Unsicherheiten über den zukünftigen Verlauf der Dinge schwerwiegende Fragen aufwerfen, da es dem Ideal des allwissenden "homo oeconomicus" fundamental widerspräche; vgl. Hillard 1992.

3 Ein diesen Vorgaben entsprechendes alternatives Steuerkonzept wurde von den volkswirtschaftlichen Abteilungen von ver.di und IG Metall in Zusammenarbeit mit attac erarbeitet; vgl. hierzu ver.di-Bundesvorstand 2004.

Literatur

Förster, Michael/Mira dÂ’Ercole, Marco (2005): Income Distribution and Poverty in OECD Countries in the Second Half of the 1990s, OECD Social Employment and Migration Working Papers, No. 22, OECD Publishing.

Gale, William G./Sabelhaus, John (1999): Perspectives on the Household Saving Rate, in: Brookings Papers on Economic Activity, No. 1, 181ff.

Hillard, John (1992): Keynes, Orthodoxy and Uncertainty, in: Gerrard, Bill/Hillard, John, The Philosophy and Economics of J.M. Keynes, Aldershot/Brookfield, 59-79.

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Dr. Norbert Reuter, Wirtschaftswissenschaftler, Berlin

aus: Berliner Debatte INITIAL 17 (2006) 4, S. 70-79