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Kommentar

Der WM 2006-Fußballrausch ist vorbei. Selbst das Endspiel mit Zidanes Attacke gerät in Vergessenheit.

110. Minute - Zidane läuft an Materazzi vorbei, wird von ihm am Trikot festgehalten. Zidane bleibt stehen, sagt etwas und geht weiter. Materazzi antwortet, Zidane kehrt um und streckt Materazzi per Kopfstoß nieder. Zidane muss vom Feld, Italien gewinnt.
Laut "Mirror" lobt Zidanes Mutter Malika ihren Sohn für die brutale Attacke. Wenn Materazzi sie tatsächlich eine "terroristische Prostituierte" genannt habe, dann müsse man "dem Spieler die Eier abschneiden". "Ich bin angewidert von dem, was ich über die Sache gehört habe. Gelobt sei mein Sohn, der unsere Familienehre verteidigt hat."
Der Kölner Stadtanzeiger zitiert die französische Präsidentschaftsanwärterin Segolene Royal, wie sehr sie den "vorbildlichen Respekt" Zidanes für seine Mutter und Schwester schätze, insbesondere seine Fähigkeit, "hartnäckig die Werte zu verteidigen, an denen er zutiefst hängt".
Gernot Rohr, Ex-Trainer Zidanes bei Girondins Bordeaux, äußert im Hessischen Rundfunk Verständnis, es sei "eine menschliche Reaktion", in "mehreren Faktoren" begründet: "Der Stress eines WM-Finales, die Augen der Journalisten, die bei seinem letzten Spiel mehr als sonst auf ihn gerichtet waren, die schmerzhafte Schulter-Verletzung und das Temperament eines Südfranzosen, dem die Familie heilig ist."
Zidane selbst toppt dies:
"Er (Materazzi) sagt Worte, Worte, die sehr hart sind, und wiederholt sie mehrfach. Sie hören sie einmal und versuchen wegzugehen. Das habe ich getan. ... Sie hören sie zwei Mal, dann das dritte Mal..."
Und dann? Alles ist erlaubt? Weiter: "Ich entschuldige mich bei den Kindern, die das gesehen haben." So etwas sei "unentschuldbar". So dürfe man sich nicht verhalten. "Ich muss es laut und deutlich sagen, weil es von zwei bis drei Milliarden Fernsehzuschauern und Abermillionen Kindern gesehen wurde."
Bedauern will Zidane seine Handlungsweise nicht. "Ich kann meine Handlung nicht bedauern, weil das bedeuten würde, dass er Recht hatte, es zu sagen. Ich kann es nicht, ich kann es nicht, ich kann es nicht sagen. Nein, er hat kein Recht das zu sagen, was er sagt."
In allen Internet-Foren überwiegt Verständnis, und weiter noch - große Zustimmung.
Ganz normale Männer und Frauen, junge wie ältere, machen sich stark für die Verteidigung der "Ehre".
Frauen schreiben, für sie käme kein Mann in Frage, der nicht bereit sei, ihre Ehre zu verteidigen. Männer bekunden lauthals, dies jederzeit tun zu wollen und auch härter als Zidane zu reagieren. Mütter und Väter schreiben, sie wünschen sich solche Söhne.
Längst überwunden geglaubte Vorstellungen werden selbstverständlich akzeptiert und nirgends in Frage gestellt.
Die "Ehre" des Mannes hängt wieder ab von der Verteidigung der "Ehre seiner Frauen". Frauen wollen "verteidigt" werden. Mütter wollen kampftüchtige Söhne. Und wer bei Beleidigungen nicht zuschlägt, ist nicht nur Verlierer, nein, er unterwirft sich seinem Gegenüber selbst im Denken.
Nur Kinder sollen dabei nicht zuschauen, solange sie noch klein sind.
Fußball hat hier wirklich einmal zur Völkerverständigung beigetragen.

Ilka

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 312, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, 35. Jahrgang, Oktober 2006, www.graswurzel.net